Aufeinander zu
Um als Spezies zu überleben, müssen wir vom Weg der Gewalt und der Hierarchie abkommen und uns in Freiheit miteinander arrangieren.
Wir beginnen als ungeschriebenes Blatt, bis wir von unseren Eltern und anderen Erwachsenen mit deren Narrativen, Vorstellungen und Projektionen beschrieben werden. Schon als Kinder erfahren wir Misstrauen, erleben uns selbst als Wesen, deren Wildheit und spontaner Lebensausdruck als gefährlich gilt und in Zaum gehalten werden muss. Wir erlernen das Leben in Hierarchien, bei denen unser Platz zunächst ganz unten ist. Wir werden gemaßregelt und geformt, oft deformiert. Wie wir in der prägenden Phase behandelt werden, behandeln wir schließlich auch andere. Eine Kultur des gegenseitigen Misstrauens und der Angst greift Raum. Die Schrumpfform des Menschen nimmt Gestalt an: der Untertan. Wollen wir diesen höchst destruktiven Prozess umkehren, müssen wir uns zunächst wieder auf unsere innerste Kraftquelle besinnen. Wir müssen es aushalten, notfalls allein und abseits dazustehen und doch bei unserer Wahrheit zu bleiben. Als authentische Einzelne können wir dann den Weg aufeinander zu gehen — hin zu Gemeinschaften freier, vor allem angstfreier Menschen.
„Eines Tages klopfte die Angst an die Tür. Der Mut stand auf und öffnete, aber da war niemand draußen.“
Dieses ursprünglich englische Sprichwort wurde zu Beginn des Jahres 2020 Johann Wolfgang von Goethe zugeschrieben. Ausgestattet mit der Autorität des deutschen Dichterfürsten wurde es in kurzer Zeit ein beliebter Motivationsspruch gegen die Angst vor dem Coronavirus. Das Zitat gibt eine Lebensweisheit wieder, die im Folgenden psychologisch bekräftigt und vertieft wird. Wenn wir Menschen den Mut aufbringen, die in der Erziehung erworbene Angst vor dem Mitmenschen zu überwinden, wenn wir uns mit ihm in Freiheit assoziieren und den Gemeinsinn zur leitenden Idee erheben, dann hat die Spezies Mensch die Chance zu überleben.
Selber vor die Haustüre treten und nachsehen, was es gibt!
Jeder Mensch ist dazu aufgerufen, seinen Beitrag zur Lösung der drängenden Probleme unserer Zeit zu leisten. Und selbstverständlich sind wir dazu in der Lage, wenn wir uns bewusst sind, dass es auf jeden Einzelnen von uns ankommt. Warum nicht den Mut aufbringen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, die gegenwärtigen Menschheitsprobleme nicht zu verdrängen, sondern gegen Unrecht aufzustehen — intellektuell, emotional, politisch. Die Trägheit des Herzens überwinden und handeln! Allen Widrigkeiten zum Trotz die Entschlossenheit aufbringen, die Wahrheit zu suchen und dadurch die Würde als Mensch zu bewahren und eine lebenswerte Zukunft für uns und unsere Kinder zu schaffen.
Der Schweizer Dichter und Romanautor Gottfried Keller (1819 bis 1890) war der Auffassung:
„Keine Regierung und keine Bataillone (…) vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt.“ — Züricher Novellen
Romain Rolland (1866 bis 1944), französische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, meinte sogar, dass jeder Mensch notfalls allein innerhalb aller stehen und für alle denken und handeln muss. In der Einleitung seines Antikriegsromans von 1920 „Clérambault. Geschichte eines freien Gewissens im Krieg“ schrieb er:
„Jeder Mensch muss, so er ein wahrer Mensch ist, lernen, allein innerhalb aller zu stehen, allein für alle zu denken – wenn es nottut, sogar auch gegen alle! Aufrichtig denken heißt, für alle zu denken, selbst wenn man gegen alle denkt. Die Menschheit bedarf derer, die ihr aus Liebe Schach bieten und sich gegen sie auflehnen, wenn es nottut!“ (1).
Auch „Die Internationale“, das weltbekannte Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung, empfiehlt den Menschen, nicht auf die Rettung durch höhere Wesen zu hoffen, sondern selbst tätig zu werden:
„Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt! (…) Heer der Sklaven, wache auf! (…) Völker, höret die Signale! Auf zum letzten Gefecht! (…) Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun! Uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur selber tun!“ (2).
Freie Bürger, die gegen Unrecht und Tyrannei aufstehen, haben nichts gegen die Machthaber. Sie tun ihnen nichts. Sie wollen aber auch nicht in einem Herrschaftssystem leben, in der sie schweigen müssen.
Sie kämpfen für eine gerechtere Ordnung, für ihr Recht auf das Leben, auf Freiheit, Frieden und Sicherheit. Sie haben überdies einen gesunden Menschenverstand und sind autonom. Autonomie ist der Zustand und das Lebensgefühl der Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Selbstverwaltung. Philosophisch gesehen ist sie die Fähigkeit, sich als Wesen der Freiheit zu sehen und aus dieser Freiheit heraus zu handeln.
Ausgestattet mit diesen Fähigkeiten übergibt kein Mensch aus freien Stücken einem anderen die Macht, über sein Leben und seine Zukunft zu entscheiden. Keinem anderen Menschen beziehungsweise Politiker, aber auch keinem übernatürlichen Wesen, das ihn als „Gottheit“ von frühester Kindheit bis ans Ende der Tage führen und beschützen soll. Sind wir Menschen doch eingebettet in die Gemeinschaft von Artgenossen, vor denen wir keine Angst haben müssen, sondern auf deren Unterstützung und Solidarität wir bauen können.
Den Mut aufbringen, sich mit dem Mitmenschen zu assoziieren
Wir müssen nur den Mut aufbringen, uns dieser Aufgabe zu stellen und uns mit den Mitmenschen zu assoziieren. Das bedeutet, einen oft mühsamen, langwierigen und nicht leicht begehbaren Weg auf uns zu nehmen, an das Gute im anderen Menschen zu glauben, uns in ihn einzufühlen, uns mit ihm zusammenzuschließen und ohne Zwang an ihn zu appellieren. Einen kurzen, leicht begehbaren und einfachen Weg zum Ziel — einen sogenannten Königsweg — gibt es nicht.
Der andere Mensch, unser Gegenüber, unser Mitbürger und Artgenosse ist gerne bereit, unser Angebot anzunehmen, wenn er die Möglichkeit bekommt, sich frei und ohne jeglichen Zwang dafür zu entscheiden. Auch er will gut leben mit seinen Kindern. Auch er hilft dem anderen gerne.
Bereits vor über 100 Jahren schrieb der russische Anarchist, Geograph und Schriftsteller Fürst Peter Kropotkin (1842 bis 1921) in seinem Buch „Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, dass in Natur und Gesellschaft keineswegs nur ein Kampf aller gegen alle (Sozialdarwinismus) stattfindet, sondern dass ebenso das Prinzip der „gegenseitigen Hilfe“ vorherrscht. Diejenigen Lebewesen, die dieses Prinzip umsetzen, würden erfolgreicher überleben. Kropotkin beobachtete sowohl die Natur als auch die Naturwesen und bezog seine Erkenntnisse auf den Menschen.
Das Gemeinschaftsgefühl zur leitenden Idee erheben
Dieses Prinzip der gegenseitigen Hilfe muss auf jede erdenkliche Art und Weise in den Gedanken und sittlichen Handlungsprinzipien der Menschen und in der Solidarität, im Zusammengehörigkeitsgefühl, in der Brüderlichkeit und im Gemeinschaftsgefühl der Menschen verankert werden. Aus der Einsicht um die Zusammengehörigkeit aller, die Menschenantlitz tragen, erwuchsen die Lehren der sittlichen Führer der Menschheit, die Weisheit des Laotse, das Gebot der Nächstenliebe und die unzähligen Formen des gesellschaftlichen Lebens und Verhaltens, in denen der Gemeinsinn zum Ausdruck kommt.
Für Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, besteht die „tiefste Idee aller Kultur (…) in der endgültigen Verwerfung des Strebens nach Macht und in der endgültigen Erhebung des Gemeinsinns zur leitenden Idee.“ Das sagte er bereits vor 100 Jahren. Alle unsere Bestrebungen in der Welt und der Wissenschaft sollten das Leitmotiv haben, in Zukunft einen Menschentypus hervorzubringen, für den — wie es Alfred Adler formulierte — Gemeinschaftsgefühl und mitmenschliche Verbundenheit ebenso selbstverständlich sind wie das Atmen (3).
Man kann die Mahnrufe des menschlichen Gemeinschaftsgefühls wohl unterdrücken; gänzlich ausmerzen kann man sie nie, denn das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewusstsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen.
Unsere Aufgabe für die Zukunft scheint deshalb vor allem die Pflege und Verstärkung der Gemeinschaftsgefühle zu sein. Kein Mittel darf uns zu gering sein, keine Anstrengung zu mühsam, um den Menschen besser in das soziale Gefüge einzuordnen.
Die in der Erziehung erworbene Angst vor dem Mitmenschen überwinden
Diesem hehren Ziel steht jedoch bei den meisten Menschen eine in der Kindheit erworbene und nur schwer zu überwindende Gefühlsreaktion entgegen: die Angst vor dem Mitmenschen. Diese Angst ist nicht angeboren. Der Mensch kommt ohne Angst zur Welt und erwirbt sie erst im Laufe seiner Entwicklung als Folge der traditionellen autoritären und religiösen Erziehung. Deshalb haben fast alle erwachsenen Menschen Angst — bewusst oder noch viel häufiger unbewusst. Sie ist Ausdruck einer Irritation und hat wenig mit der realen Situation zu tun.
Die Angst durchzieht das ganze Um und Auf des Menschen, sein Tun und Handeln, wie er sich im Leben und in der Gemeinschaft gibt und bewegt. Sie verhindert ihm das Denken und macht ihn unfähig, nur irgendeine Situation real und vernünftig einzuschätzen. Er ist nicht mehr der Macher seines Lebens, sondern die Angst treibt ihn.
Das Menschenbild der christlich-abendländischen Kultur besagt, dass der Mensch — auch schon das kleine Kind — schlechte Eigenschaften in sich trägt. Mit dieser Information — sei sie bewusst oder unbewusst — tritt der Erzieher der heutigen Zeit an das Kind heran. Immer vermutet er einen bösen Willen beim Kind. Er weiß nicht, dass das Kind ganz auf die Beziehungspersonen ausgerichtet ist, dass sein ganzes Sehnen und Trachten dahin geht, von den Eltern geliebt und geschätzt zu werden, dass es noch so gerne kooperiert. Das Kind ist von Natur aus gut.
In Wirklichkeit jagen Eltern und Erzieher dem Kind mit jeder Anwendung von Gewalt, sei es in Form von Strenge oder auch Verwöhnung, große Ängste ein. Das Kind lernt, Angst zu haben; es lernt, sich vom Mitmenschen bedroht zu fühlen; es erlebt, dass mit dem Menschen nicht gut Kirschen essen ist. Die Gefühlsreaktion der Angst wird ein Bestandteil seines Charakters. Das Menschenbild, welches es in den frühesten Kindheitsjahren bei seinen Eltern erworben hat, trägt es in jede Beziehung unbewusst hinein.
Auch heute noch wird das Kind mit Gewalt und Missachtung seiner Persönlichkeit erzogen. Dadurch beginnt das Kind sich vom Menschen abzuwenden. Es ergibt sich eine verneinende Tendenz, die sein späteres Leben beeinflusst.
Es verspricht sich nicht mehr viel vom Menschen. Die gewalttätige Behandlung erschüttert seine Persönlichkeit zutiefst und erweckt in ihm Aversionen gegen den Mitmenschen. Das Vertrauen zum Menschen, das eigentlich das Fundament der Persönlichkeit und die natürliche Auffassung vom Leben wäre, kann nicht entstehen.
Das Kind erlebt auch, dass die elterliche Autorität über allem steht. Es erlebt, dass es nur eine richtige Meinung gibt, und das ist die des Vaters, der Autorität. Es erlebt, dass man gewisse Meinungen nicht haben soll. Es lernt die Gewalt und die Sanktionen, die von den Eltern ausgehen, derart zu fürchten, dass es keinen Widerspruch mehr wagt, weder im Denken noch im Handeln. Als Erwachsener ist der Mensch nicht mehr in der Lage, einen eigenen Gedanken zu fassen, weil seine Angst vor den Folgen — irdischen oder überirdischen — ihn lähmt. Er wird nervös und ungehalten, wenn er nur schon eine andere Meinung hört.
Auf diesem Boden ist es dem Menschen nicht möglich, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Er kann vom anderen Menschen nur noch schwer etwas annehmen. Seine Angst wird zum dominierenden Beziehungsproblem. Er kennt die freie Auseinandersetzung nicht, er kennt nur Befehl und Gehorsam. Er ist gewohnt, die Meinung der Autorität ungeprüft zu übernehmen. Er hat zudem als Kind erlebt, dass er mit vielen Meinungen belastet wurde, die er in keiner Weise überprüfen konnte. So findet er sich damit ab, dass vieles nicht verstehbar ist und dass das Unverständliche nicht angezweifelt werden darf.
Diese Einschüchterung von Verstand und Vernunft geht in unserer Kultur einher mit der religiösen Erziehung, mit irrealen Informationen über Geister, Teufel und Engel.
Der Mensch wird zwar weder religiös noch gottesgläubig geboren, doch das geistig gesunde und unverkrüppelte Kind gerät in eine Gesellschaft, in der wahnhafte Ideen und Illusionen vorherrschen. Kaum zeigen sich beim kleinen Kind die ersten seelischen Regungen und es lernt zu sprechen, wird es von der Gesellschaft, das heißt von den Eltern und der Kirche „in Obhut genommen“. Es wird ihm klar gemacht, dass sich sein Wesen bezüglich des Naturgefühls und der Weltanschauung nicht frei entwickeln darf. Will es verhindern, mit allgemeiner Verachtung und höllischen Peinigungen bestraft zu werden, muss es sein Wesen in eine bestimmte kirchliche Form pressen.
Ausblick
Dank der Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie weiß man heute, wie die Angst vor dem Mitmenschen entsteht. Man kennt die Ursachen genau. Man weiß auch, wie der Mensch die Angst hinter sich bringen kann. Der heutige Mensch müsste deshalb nicht mehr von Ängsten geplagt sein. Diese Ängste lassen sich in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung zu einem Fachmann verändern respektive überwinden. Indem der Mensch Mitgefühl und Verständnis erlebt, kann er diese Ängste verlieren (4).
Und die Pädagogik in Elternhaus und Schule hat auf das autoritäre Prinzip – das jahrhundertelang als fraglos gültige Grundlage des erzieherischen Verhaltens angesehen wurde — und auf Gewaltanwendung zu verzichten. Erzieher haben sich mit wahrem Verständnis dem kindlichen Seelenleben anzupassen, haben die Persönlichkeit des Kindes zu achten und haben sich ihm freundschaftlich zuzuwenden. Eine solche Erziehung wird einen Menschentypus hervorbringen, der keine „Untertanen-Mentalität“ besitzt und darum für die Machthaber in unserer Welt kein gefügiges Werkzeug mehr sein wird.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Rolland, Romain, Clérambault. Geschichte eines freien Gewissens im Krieg. Reinbek bei Hamburg, 1988, Seite 12.
(2) https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Internationale
(3) Ansbacher, Heinz L.; Ansbacher, Rowena R. (Herausgeber), Alfred Adlers Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung seiner Lehre in Auszügen aus seinen Schriften, München, Basel, 1982.
(4) Am angegebenen Ort.