Auf zum letzten Diktator!
Ausgerechnet in einer Zeit, in der der „freie Westen“ immer autoritärer wird, arbeiten sich kalte Krieger an Weißrusslands Staatschef Lukaschenko ab.
Eine Diktatur — darunter stellt man sich ein Land vor, in dem beständig eine bedrückte, verängstigte Stimmung herrscht, in dem man Angst haben muss, von der Polizei wegen Nichtigkeiten aufgehalten zu werden, in dem die Opposition aus- und die Presse gleichgeschaltet ist. Also ungefähr wie das Deutschland des Jahres 2021. Merkwürdigerweise halten westliche Politiker und die westlichen Medien aber noch immer an dem alten holzschnittartigen Weltbild fest: hier das Reich der Freiheit, dort das osteuropäische Mordor, wo sich ein finsterer Despot verschanzt hat. Es ist in diesem Zusammenhang schon hilfreich, wenn jemand vor Ort berichtet, wie es sich wirklich lebt in Belarus. Gar nicht so schlecht nämlich, wenn es auch in diesem Land natürlich allerlei Missstände zu beklagen gibt. Aber das beste Mittel gegen eine neue — kalte — Kriegsstimmung ist immer noch, genau hinzuschauen und sich um Verständnis zu bemühen.
Alexander Lukaschenko ist für den Werte-Westen „der letzte Diktator“. Zwar gibt es viele Diktaturen und -toren auf dieser Welt, doch es gibt da Unterschiede. Wenn Washington sagt: „Er ist zwar ein Schurke, aber er ist unser Schurke“, wird kein Aufhebens gemacht. Jedoch über Lukaschenko hält Putin seine Hand.
Berlin will, dass wir nicht mehr Weißrussland sagen, sondern nur noch „Belarus“. Wir sollen gegen Russland jetzt auch etymologisch klare Kante zeigen. Im Folgenden werden beide Bezeichnungen nach Belieben verwendet.
Die slavischen Völker sagen schon immer Belarus (Bjelorusija, Białoruś, Bielorusko), weil das in ihren Sprachen Weißrussland heißt.
Und noch ein Paradox: In zwangsregulierten Corona-Zeiten ist eine Reise nach Weißrussland/Belarus in gewisser Weise eine Fahrt in die Freiheit.
Flug nach Minsk
April 2021: Für Österreicher im westlichen Teil des Alpenlandes wäre der Flughafen München viel näher, aber das bayrische Regime hat die Grenzen dicht gemacht. Ich fliege daher von Wien nach Minsk. Das Ticket hin und zurück bekommt man für rund 230 Euro. Der Zug von Mattighofen zum Flughafen Wien/Schwechat kostet 19,90 Euro. Von dem ebenso weit entfernten Salzburg kostet die Fahrt mit der ÖBB 61,80 Euro. Preispolitik, verstehe sie einer!
Der Wiener Flughafen ist gespenstisch leer. Beim Check-In hat ein japanisches Pärchen Schwierigkeiten, weil die beiden als Touristen nach Belarus einreisen wollen. Ich kann die Einladung einer weißrussischen Firma vorlegen, somit bin ich „geschäftlich“ unterwegs. Das öffnet mir Tür und Tor. Ich muss weder ein Corona-Testergebnis noch eine Impfbestätigung vorweisen. Wer mit der weißrussischen Belavia fliegt und nicht länger als 30 Tage bleiben möchte, braucht zudem kein Visum.
Nach einer Stunde und vierzig Minuten landen wir in Minsk. Auch hier bewahrt mich meine Einladung als „business-men“ vor einer 10-tägigen Quarantäne. Die Kontrollen sind korrekt und freundlich. Ich gönne mir ein Taxi in die Stadt. Insider wissen, dass das 40 Rubel (entspricht 13 Euro) kostet. Spontan nennen mir die umstehenden Taxichauffeure deutlich höhere Preise. Es ist 17 Uhr, daher nimmt der Taxifahrer den äußeren Ring. Nach 77 Kilometern sind wir am Ziel.
Minsk ist mit rund 2 Millionen Einwohnern eine großzügig angelegte Stadt mit breiten Hauptstraßen und vielen Parks und Grünflächen. Von Nord nach Süd und von Ost nach West sind es gut 20 Kilometer Luftlinie.
Das alte Minsk wurde von der Wehrmacht dem Erdboden gleich gemacht. Nach dem Krieg zimmerten sich hunderttausende Obdachlose bescheidene Holzhäuschen. Der Staat stellte hierfür kleine Grundstücke zur Verfügung, auf denen auch Kartoffeln angebaut und ein paar Obstbäume gepflanzt werden konnten, — in kostenfreier Pacht auf Lebenszeit. Elektrizität, Gas zum Heizen und Wasser wurden geliefert. Und ein Plumpsklo außerhalb gehörte auch dazu.
Aus der Luft ähneln diese Behausungen riesigen Schrebergartensiedlungen. Sie schrumpfen schon seit Jahren, weil an ihrer Stelle Wohnblocks errichtet werden, oft 12 oder 20 Stockwerke hoch. In Sowjetzeiten wurden größere Abstände zwischen den Blocks eingehalten. Aber der Kapitalismus kennt kein Menschenrecht auf Sonne. Daher fällt der Schatten der benachbarten Gebäude in der flachen nordischen Sonne oft schon früh auf die unteren Stockwerke. Dennoch sind die Abstände immer noch großzügiger bemessen als in mitteleuropäischen Neubaugebieten. Die Bautätigkeit ist, trotz Wirtschaftskrise, enorm und man fragt sich, wie lange der Boom noch anhalten kann und wo die Mieter oder Käufer der Wohnungen herkommen sollen.
Besuch im Restaurant
Es ist Mittwoch, der 7. April, ein ganz normaler Werktag. Die Verwandten wollen unser Wiedersehen mit einem Besuch in einem Restaurant feiern. Dazu fahren wir mit der Metro ein paar Stationen stadteinwärts. An der gläsernen Eingangstür zur Station klebt ein eher unauffälliger Hinweis, dass Masken zu tragen sind.
Viele setzen nun eine Maske auf, oder das, was sie dafür halten. FFP2-Masken sieht man so gut wie nicht, stattdessen diese hellblauen Fetzchen, von denen es bei uns hieß, sie würden kaum etwas nützen. Besonders junge Burschen scheinen Masken „uncool“ zu finden und fahren oft ohne.
Von den Maskierten gönnen viele ihrer Nase frische Luft. Manchmal fordern die Kontrolleure an der Sperre jemanden auf, die Maske aufzusetzen, nicht immer mit Erfolg.
Irgendwelche Strafen oder Diskriminierungen habe ich nicht mitbekommen. Lediglich bei Amtsgebäuden ist die Anweisung barscher: „Eintritt ohne Maske verboten.“
Während die Bahn zur nächsten Station donnert, sausen die Fahrgäste durchs Internet.
Alles unter 30 und darüber wischt und tippt auf dem Display eines Smartphones, im Sitzen, im Stehen und selbst beim Aussteigen wird das Display oft noch im Auge behalten. Diese Generationen, es sind inzwischen schon zwei, beziehen ihr Weltbild, ihre Nachrichten, ihr Wissen und ihre Urteile und Vorurteile überwiegend aus dem Internet und nicht aus Zeitungen und Fernsehen. Und in gewissen Zeiten bezieht ein gewisser Teil auch seine Bewegungsimpulse aus einem polnischen Internetportal, das regierungsfeindliche Demonstrationen steuert. Und noch etwas fällt auf: Es gibt viele höfliche junge Leute, die Älteren Platz machen.
Die Fahrt kostet 85 Kopeken, das sind an diesem Tag 27 Eurocent (ein Euro entspricht 3,15 Rubel). Damit kann man in einer Richtung so weit fahren, wie man will, inklusive umsteigen. Die beiden Metrolinien haben derzeit eine Streckenlänge von 37 Kilometern mit 29 Bahnhöfen. An einer dritten Linie wird gebaut. Die Einzelfahrt mit der Münchner U-Bahn kostet 3,40 Euro. Paradiesische Preise in Minsk? Für Eurobesitzer Ja. Die Inflationsrate lag von April 2020 bis April 2021 bei 8,6 Prozent. Ziel des Finanzministers waren nicht mehr als 5 Prozent (1).
In der Metro lese ich eine Werbetafel. Ein gastronomisches Unternehmen sucht Mitarbeiter: Einstiegsgehalt für einen Koch „durchschnittlich“ 950 Rubel, „Spitzensatz“ 1.700 Rubel, Einstiegsgehalt für eine Bedienung 500 Rubel. Die Miete für eine mittelmäßige Zweizimmerwohnung liegt bei 250 bis 300 Dollar. Das sind wesentlich mehr als 500 Rubel. Wegen der hohen Inflation werden Immobilien oder Autos meist in US-Dollar angeboten. Damit ist das derzeitige Hauptproblem Weißrusslands umrissen.
Mit solchen Löhnen und Gehältern kommt man nicht mehr über die Runden. Und man wird niemanden finden, der das bestreitet, sondern jeder äußert darüber offen seinen Unmut. Hier liegt der eigentliche Nährboden für die Unruhen im vergangenen August. Wer solche Probleme hat, braucht keinen Disput über „westliche Werte“. Die bürgerlichen Freiheiten sind in Belarus nicht geringer als in westlichen Demokratien. Die politischen Freiheiten haben dort ihre Grenzen, wo das System insgesamt in Frage gestellt wird, ganz wie im Westen.
Das letzte sowjetische Wirtschaftssystem ohne Sowjets
Wer trägt die Schuld an dieser schwierigen ökonomischen Situation? Im Nachlass der Sowjetunion ist Weißrussland ein Sonderfall. „Das letzte sowjetische Wirtschaftssystem ohne Sowjets“ meint der Unternehmensberater, mit Wohnsitz in Minsk, Daniel Krutzinna.
Die Vorgeschichte geht so: In jenem versteckten Jagdhaus in der Bjelawjeschskaja Puschscha, nahe der polnischen Grenze, beschlossen am 8. Dezember 1991 drei Verschwörer, nämlich Boris Jelzin, der Ukrainer Leonid Krawtschuk und der weißrussische Regierungschef Stanislau Schuschkjewitsch, die „Abwicklung“ der Sowjetunion.
In einem Akt von nicht zu überbietender Illoyalität gegenüber Michail Gorbatschow informierte Jelzin zuerst den amerikanischen Präsidenten George Busch sr. von seinem Putsch, vermutlich um sich im Falle eines Falles Rückendeckung zu holen. Nun war er nicht mehr König von Russland, unter dem Zar der Sowjetunion Gorbatschow, sondern er war der Zar von Russland. Und seine beiden Kumpane wurden zu selbständigen Königen in ihren vormaligen Lehen.
Jelzin begann postwendend ein ökonomisches Vernichtungswerk, das den Westen in eine Ekstase des Verzückens versetzte, die fast ein Jahrzehnt anhielt.
Am Ende seines Wirkens, als der Alkoholismus seine zerstörerische Schaffenskraft erlahmen ließ, waren große Teile des Volksvermögens in den Händen von einem Dutzend Oligarchen und die Bevölkerung wusste buchstäblich nicht, wovon sie leben sollte.
Noch niemals in der Menschheitsgeschichte waren solch gewaltige Vermögenswerte so schnell und so leicht in die Hände einiger Weniger gelangt. Und der Westen freute sich schon auf die Schnäppchen aus dem großen Ausverkauf — Michail Chodorkowski, Eigentümer eines der größten sibirischen Rohölförderunternehmen, verhandelte bereits mit US-Investoren. Diese Gaudi hat Vladimir Putin vermasselt. Deshalb wird er gehasst.
Weißrussland ging — einer Laune des Schicksals folgend — einen anderen Weg. Die Laune hatte einen Namen und war der Quereinsteiger und Überraschungskandidat der Präsidentenwahlen von 1994, Alexander Lukaschenko, ein 40-jähriger Kolchosvorsitzender.
Lukaschenko versprach, die guten Seiten der Sowjetunion zu bewahren und machte die begonnenen Privatisierungen rückgängig. Er brachte das Wunder fertig, Belarus oligarchenfrei zu halten, die Kriminalität im Zaum und die Staatsbetriebe in die Gewinnzone zu führen.
„Als Standort für Hochtechnologien in der Sowjetunion modernisierte Belarus in den 1990er Jahren seine staatlichen Unternehmen. In den 2000ern erlebte das Land ein erstaunliches Wirtschaftswachstum von jährlich 6 bis 8 Prozent. Neben den stabilen Staatsbetrieben gründeten sich zudem innovative, erfolgreiche Privatbetriebe“, so Daniel Krutzinna (2).
Die Bevölkerung dankte es ihm bei den Wahlen. Bis 2010 ging das gut, auch deshalb, weil er den Russen die Union versprach, wobei er allerdings nur eine wirtschaftliche Union im Sinne hatte, die Russen aber eine echte, wirtschaftliche und politische Union erhofften. Diese Hoffnung brachte Weißrussland russisches Rohöl zu Inlandspreisen, während die veredelten Produkte zu Weltmarktpreisen an den Westen verkauft wurden.
Diese indirekte Subventionierung der belarussischen Wirtschaft kostete, Schätzungen zufolge, Russland bisher circa 50 Milliarden Dollar. Einige Quellen sprechen von hundert Milliarden. Mit dem Verfall des Ölpreises um 2010 kam Russland selber in Schwierigkeiten und wollte sich die Subventionierung des kleinen Bruders nicht länger im bisherigen Umfang leisten, zumal Lukaschenko politisch bisweilen fremdging.
„In den 2010er Jahren flachte das Wirtschaftswachstum trotz einiger Reformbemühungen auf 1,5 bis 2 Prozent ab. Die Wirtschaft bemüht sich bis heute um Diversifizierung und wird — teilweise durch große chinesische Investitionen im Rahmen des Seidenstraßenprojekts — modernisiert.
Die Proteste jetzt sind auch deshalb auf so fruchtbaren Boden gefallen, weil die Reallöhne seit zehn Jahren nicht mehr steigen und das Land in eine Stagnation geglitten ist.
Belarus leidet unter dem niedrigen Ölpreis. Die beiden Raffinerien und die petrochemische Industrie machen 25 Prozent des Bruttosozialprodukts und 50 Prozent der Exporte aus. Und dann hat Russland seine Subventionen konsequent zurückgefahren beziehungsweise sie von politischen oder auch wirtschaftlichen Zugeständnissen abhängig gemacht. Die Botschaft lautet: Wir finanzieren euren Sozialismus nur weiter, wenn ihr auf Integrationskurs geht“, so Daniel Krutzinna.
Kommen wir zurück ins gastliche Minsk. Das „Lido“, unser Ziel, liegt im dritten Stockwerk eines Einkaufszentrums. Unten am Eingang ein Hinweis, dass Masken zu tragen sind. Nicht wenige der zahlreichen Passanten halten sich daran, aber viele nur halbherzig, oder richtiger gesagt, nasenfrei. Das „Lido“ ist eine Mischung aus Selbstbedienungstheke mit dem Interieur eines Schnellimbiss und einem Altwiener Kaffeehaus. An der Theke kann man sich kalte und warme Speisen aussuchen, köstliche Teigtaschen und Palatschinkenartiges oder kräftige Suppen und so weiter.
Auch Konditoreiwaren gibt es. Wir ziehen uns in das Wienerische Abteil mit den bequemen Sofas und Lehnstühlen zurück. Eine freundliche Bedienung bringt uns zum Einstieg verschiedene Kreationen von Tee in elegant hohen Gläsern. Tee mit Minze, mit Moltebeeren und anderen schmackhaften Geheimnissen, die ich nicht entziffern kann.
Die Preise machen etwa ein Drittel dessen aus, was man bei uns zahlen würde. Das trifft nicht nur auf die Gastronomie zu, sondern auf alles mit einem hohen Anteil an menschlicher Arbeitskraft, also Handwerkerdienste, Optikerarbeiten, Autoreparaturen et cetera.
Seidenstraße im Werden
In Minsk gibt es große, hochmoderne Supermärkte, die sich nur dadurch von westlichen Unterscheiden, dass hier die Seidenstraße schon Gestalt annimmt, indem es neben russischen Produkten beispielsweise auch Trockenfrüchte aus dem Iran oder Usbekistan gibt und anderes aus asiatischen Ländern. Hier beträgt der Preisunterschied zu westlichen Supermärkten allerdings nicht eins zu drei.
Die Milchprodukte sind zwar von hervorragender Qualität, aber nicht deutlich billiger als die massiv subventionierten im Westen. Brot von bester Qualität kostet etwa die Hälfte. Wer seinen Gaumen mit Suchard-Milka, Sarotti oder Lindt&Sprügli verwöhnen will, zahlt, was er bei uns zahlt. Angesichts des Lohnniveaus müssen die Menschen also einen erheblichen Teil des Einkommens fürs tägliche Brot ausgeben.
Interessehalber besuche ich einen großen Baumarkt — Männer machen so was. Es ist das Materik an der Metro-Station Kamena Gorka. Die breiten Glastüren öffnen sich und ich wähne mich vor einer Kolonie weißer Robben. Es sind aber Badewannen. Jedes Preisschild verrät das Erzeugerland. Wannen aus Germania machen sich ganz vorne breit, dann folgen die Kontingente aus Polen, Spanien, Russland und Belarus. Die beiden Letzteren sind günstiger. Warum, das entzieht sich meinem prüfenden Auge.
Nachdem ich die etwa 50 Exemplare überflogen habe, wende ich mich den passenden Badarmaturen zu. Ich habe die Auswahl zwischen geschätzt 200 Stück. Hier spielt Russland ganz vorne mit, gefolgt von Germania, Spanien, Ungarn, Tschechien, Estland, Polen, Litauen und der Türkei, wobei ich nicht garantiere, dass die Aufzählung vollständig ist. Im anschließenden Korridor stoße ich auf Küchenarmaturen. Ich schätze es sind mehr als 250, aber meine selektive Aufmerksamkeit lässt nach und ich wende mich Bunterem zu.
Um die Ecke entdecke ich eine fröhliche Schar von bunt gestylten Klodeckeln, so schön, dass man sich nie wieder von ihnen trennen möchte. Alle aus China! Etwas weiter bietet sich mir ein halbes hundert Klomuscheln an, schlank und geschmeidig oder vollschlank und selbstbewusst, aus heimischer, polnischer und russischer Produktion.
Nach diesem Ausflug in modern art will ich mich proletarischen Dingen zuwenden. Nach einem gehörigen Fußmarsch lande ich in der Hammer-Abteilung. Die schwersten kommen aus Russland. Logisch. Aber da sehe ich, dass den Chinesen doch schon wieder eine Weltneuheit geglückt ist. Stiele aus Plastik. Und noch eine Überraschung in der Hammer-Abteilung: Indien kommt auf die Bühne und spielt mit einem ansehnlichen Ensemble ganz vorne mit.
Wenn es um Präzision geht, ist Österreich mit von der Partie. Die österreichischen Wasserwaagen sind die teuersten, vor denen aus Israel, Slowenien und China. Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass ganz große Nägel aus Russland kommen und kleinere aus Deutschland. Der Rundgang durch die riesige Abteilung mit den Heimwerkermaschinen ist enttäuschend, zumindest was das multinationale Flair betrifft. Die Chinesen haben auf weite Strecken restlos jede Konkurrenz verdrängt. Und selbst wenn man glaubt, eine Alternative entdeckt zu haben, ist es ein „Fake“, denn die Bosch- oder Makita-Bohrmaschine aus Ungarn stammt von einer chinesischen Niederlassung.
Es gibt in Minsk große Konsumpaläste, Shopping Malls, wo sich auf mehreren Etagen die Schickeria der Modebranche ein Stelldichein gibt. Alles, was designt, stylt und weltweit Rang und Namen hat, ist hier vertreten. Es muss also auch eine Mittelschicht geben, die sich das leisten kann. Neben den staatseigenen, großen Betrieben hat sich eine private, rasch wachsende IT-Branche entwickelt, die vermutlich höhere Gehälter zahlen kann.
Im Vergleich zu früheren Jahren ist Minsk noch schöner geworden. Es wurden neue Parks angelegt und auch zahlreiche Radwege. Sehr interessant ist auch der Radverleih Kolobike, der sich in weißrussischen Städten etabliert hat. Allein in Minsk gibt es über Tausend dieser gelben stabilen Räder quer über das Stadtgebiet verteilt.
Man lädt eine App auf das Smartphone und sieht, wo das nächste Rad steht, scannt den Q-Code, den das Rad hat, und schon kann man das Schloss öffnen und losfahren. Natürlich muss man sich einmalig mit Kreditkarte anmelden. Man lässt das Rad stehen, wo es einem passt. Der Nächste findet es mittels Standortbestimmung. Für zwei Stunden kostet der Spaß etwa 2,5 Rubel. Elektroscooter und Elektroräder gibt es auch, aber die sind nicht so dicht gestreut.
Die Abfallentsorgung wurde in Teilen der Stadt von Remondis übernommen. Remondis ist einer der weltweit größten Dienstleister für Recycling, Service und Wasser. Remondis-Belarus ist ein deutsch-weißrussisches Joint Venture.
Während ich das alles sehe, stelle ich mir die sehr naive Frage: Warum kann der Westen dieses Land nicht einfach in Ruhe seinen Weg gehen lassen?
Er ist doch wirtschaftlich längst in Belarus angekommen. Mehr Westen geht nicht mehr. Der Westen beherrscht die Szene im Konsumgüterbereich, mindestens im oberen Segment.
Die österreichische A1 hat Velcom geschluckt und ist nun größter Telekomanbieter in Belarus. Die österreichische Raiffeisen Gruppe besitzt 88 Prozent der Aktien der Priorbank, einer der größten Banken des Landes. Im Stadtbild ist nicht zu übersehen, dass Baumit mitbaut. Baumit hat seinen Stammsitz in Bad Hindelang im Allgäu, und so weiter, und so fort.
Die Liste ließe sich seitenlang fortsetzen. Die Sanktionen schaden der Wirtschaft und die Konsumenten können weniger für Westwaren ausgeben. Die Wareneinfuhr aus der EU betrug im Jahre 2020 6,4 Milliarden Dollar, die Ausfuhr in die EU 5,4 Milliarden. EU-Politiker könnten westliche Unternehmer fragen, die in Belarus Geschäfte machen, wenn sie wirklich wissen wollten, was in Belarus los ist. Aber die Antworten würden nicht ins Feinbild passen und das wissen die Herrschaften natürlich. Also halten sie sich an Informanten, die von US-Agenten geschult werden, siehe weiter unten.
Belarus, ein hässliches Unkräutlein an der nordöstlichen Grenze des neoliberalen, europäischen Lustgartens? Der Kreuzzug gegen das belarussische Staatsmodell wird schon seit Jahrzehnten geführt. Mit welcher Intensität, das hat die Chuzpe zweier genialer Mimen gerade wieder — im Mai 2021 — zu Tage gefördert.
Das NED (National Endowment for Democracy)
Wladimir Kusnezow und Alexei Stoljarow, mit Künstlernamen Wowan und Lexus, gaben sich am Telefon als Swetlana Tichanowskaja und ihr Chef-Berater aus. Es gelang ihnen die Führungsriege (top leadership) einer als NGO getarnten Agentur transatlantischer Regime-Changer in eine Videokonferenz zu locken, wobei sie selbst für die Amerikaner unsichtbar blieben (3).
Das NED (National Endowment for Democracy) wurde auf Empfehlung der CIA 1983 vom US-Kongress gegründet und wird jährlich mit 3-stelligen Millionensummen aus dem US-Bundeshaushalt ausgestattet.
Nina Ognjanowa ist die Führungsoffizierin für die Agenten in Belarus und die von ihnen „inspirierten“ Gruppen meist junger Menschen, die landesweit in Zentren und Zirkeln organisiert und geschult werden. Nicht ohne Stolz führte sie die Mittäterschaft des NED an den Unruhen im August 2020 an:
„Viele der Menschen, die an diesen Zentren trainiert wurden, mit ihnen in Kontakt standen und von ihnen ausgebildet wurden, in ihre Arbeit involviert wurden, haben jetzt das Banner aufgehoben und die Führung beim Organisieren der Gemeinschaft übernommen.“
„Wir glauben, dass dieser langfristige Prozess der Vertrauensbildung mit unseren Partnern in Belarus tatsächlich zu den Ereignissen des letzten Sommers geführt oder die Vorarbeit zu den Ereignissen geleistet hat. Wir glauben nicht, dass diese so beeindruckende und inspirierende Bewegung aus dem Nichts kam — dass sie einfach über Nacht entstand, sondern sie hat sich entwickelt und wir haben unseren bescheidenen, aber bedeutenden Beitrag dazu geleistet, indem wir die Akteure vor Ort befähigt haben, ihre wichtige Arbeit zu tun.“
Derartige Aktivitäten der NED, so Ognjanowa, dauern bereits an die 20 Jahre an. Barbara Haig, die stellvertretende NED-Vorsitzende im Bereich Politik und Strategie, sprach von 17 Jahren finanzieller Unterstützung, die man gewissen Gruppen für den betrieblichen Arbeitskampf in Weißrussland habe zukommen lassen. Diese Gruppen müssten jedoch mittlerweile zu einem großen Teil aus der benachbarten Ukraine arbeiten, so Haig.
Carl Gershman, der Vorsitzende des NED, erzählte, dass in Washington ansässige Geldgeber- und Politiker bereits „sehr, sehr eng“ mit Tichanowskaja und ihrer Mannschaft zusammenarbeiteten. Und er bestätigte: „Wir bewilligen Gelder für diese Gruppen.“
Belsat
Der TV-Sender Belsat wurde unter dem heutigen PIS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński 2007 ins Leben gerufen, mit dem Ziel, die Regierung von Alexander Lukaschenko zu stürzen. Der Sender behauptet von sich, er sei „der erste unabhängige TV-Sender in Belarus“.
Das ist freilich eine Unwahrheit, denn er hat seinen Sitz in Warschau im Hause des staatlichen polnischen Fernsehens und wird in der Hauptsache vom polnischen Außenministerium finanziert. Die Finanzierung durch das Außenministerium zeigt, dass es in erster Linie um Einmischung in innere Angelegenheiten des Nachbarlandes geht und nicht um Kultur. Interessanterweise wird nur in weißrussischer Sprache gesendet, um den Weißrussen „ihre Sprache zurückzugeben“. Auf diese Weise soll ein nationalistischer Mythos befördert werden, der die Weißrussen später gegen Russland einsetzbar macht.
Mit dem Weißrussischen ist es ähnlich wie mit dem Bayrischen. Der alte bayrische Dialekt wurde, grob gesagt, vom Lech bis zum Neusiedlersee und vom bayrischen Wald bis Bozen gesprochen und das in verschiedenen Varianten. Inzwischen ging ein großer Teil der alten Ausdrücke verloren, die im Hochdeutschen keine verwandte Form hatten. Der alte Dialekt hat sich allenfalls noch in abgelegenen Dörfern erhalten. Die Städter pflegen, wenn überhaupt, eine hochdeutsch verwässerte Form. Dazu trug auch die Völkerwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg bei, in der Millionen Ostflüchtlinge nach Bayern strömten.
All das lässt sich fast eins zu eins auf das Weißrussische übertragen. Allerdings dürfte die Völkerwanderung nach dem Krieg in Weißrussland noch größer gewesen sein. Nach der Unabhängigkeitserklärung wurden in Belarus Ansätze gemacht, das Weißrussische wieder zu beleben. Offiziell ist das Land zweisprachig. Weißrussisch ist auch in den Schulen ein mäßig beliebtes Unterrichtsfach. Die Pässe sind zweisprachig und man sieht nicht selten weißrussische Aufschriften an Geschäften. Aber die Verkehrssprache ist Russisch und außer ein paar westlich inspirierten Nationalisten will das kaum jemand ändern.
Die Präsidentenwahl 2020
Vielleicht gibt es überhaupt niemanden, der genau weiß, wie in Belarus gewählt wurde. Es ist schwierig, im Internet eine unvoreingenommene Quelle zu finden. Am ehesten wird man auf russischen Portalen fündig. So schreibt Sergei Schpilkin unter der Überschrift:
„Präsidentschaftswahlen in Belarus: Arithmetik gegen die ZIK“ (ZIK ist die Zentrale Wahlkommission) (4).
„Seit vielen Jahren bezweifeln aufmerksame Beobachter die offiziellen Wahlergebnisse in Belarus. Die Zweifel nähren sich aus Beobachtungen direkt in den Wahllokalen als auch durch die Analyse von Archivdaten. In einigen Fällen gibt es ernsthafte Gründe zu der Annahme, dass die veröffentlichten Ergebnisse nicht durch Auszählen der Stimmzettel, sondern durch Berechnung auf einem Taschenrechner, auf der Grundlage vorgegebener Prozentsätze, erzielt wurden.
Im Gegensatz zu Russland, wo seit 2003 die Ergebnisse aller Abstimmungen für jedes Wahllokal verfügbar sind, werden in Belarus nur die Ergebnisse für Regionen, Bezirke und Wahlkreise (in der Regel Monate nach den Wahlen) offiziell veröffentlicht. Und die Ergebnisse für jedes Wahllokal können nur aus Kopien der Protokolle ersehen werden, die nach den Wahlen in der Nähe der Wahllokale veröffentlicht werden sollten. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingungen sehr schwierig ist, repräsentative Statistiken zu erhalten.
Die beispiellose Mobilisierung der Bürger bei den laufenden Wahlen hat es jedoch ermöglicht, eine erhebliche Menge an Informationen über Abstimmungen in Wahllokalen zu sammeln. Die ‚Tschestnie Ludi-Initiative‘ organisierte die Sammlung und digitale Weiterverarbeitung von den Fotographien der Protokolle, die in Wahllokalen veröffentlicht wurden (allerdings war diese Bedingung nicht überall gegeben).“
Die Tschestnie Ludi-Initiative (tschestnie ludi heißt ehrliche Leute) unterschied zwischen wahren und falschen Protokollen und erstellte dazu eine Tabelle (5).
In dieser Tabelle ergeben die Zahlen der wahren Protokolle zwar keine 8-fache Mehrheit für Lukaschenko, aber eine zwei- bis dreifache vor Tichanowskaja. Wenn die Zahlen so interpretierbar sind, dann hatte möglicherweise auch die sogenannte Opposition kein Interesse daran, den einzig vernünftigen Weg zu gehen, nämlich eine Neuauszählung der Stimmen zu fordern, wenigstens in Form von Stichproben.
Vermutlich hatten die Organisatoren in Polen und Litauen sowie ihre amerikanischen Berater schon vor Bekanntgabe des Ergebnisses die Massenproteste, die erwartungsgemäß nicht genehmigt wurden, bis ins Detail geplant. Jedenfalls ist die Versammlung riesiger Menschenmengen an bestimmten Plätzen eine kolossale logistische Herausforderung, die nicht aus dem Handgelenk zu bewerkstelligen ist. Und die Demonstrationen fanden postwendend nach den Wahlen statt.
Ein mittelalterliches Szenario als Versuch, sich in die Lage Lukaschenkos zu versetzen
Würde ein Burgherr, der sich von Feinden umzingelt wähnt, innerhalb der Burg ein freies und faires Tounier veranstalten, wenn einer der beiden Kombattanten verkündet, bei seinem Sieg den Belagerern, deren erklärtes Ziel es ist, die Burg zu schleifen, alle Türen und Tore zu öffnen?
„Highlights“ aus dem Programm der Opposition: Privatisierung der Staatsbetriebe und „Brandmauer gegen Russland“ (Tichanowskaja). Eine Brandmauer gegen Russland wäre vergleichbar einer Brandmauer Österreichs gegen Deutschland. Die Folge wäre ein Wirtschaftsinfarkt binnen Stunden.
Was der Westen dem weißrussischen Präsidenten vorwirft, ist in der Ukraine gleichsam Alltag. Ein Putsch wie im Februar 2014 ist die ultimative Verfälschung des Wählerwillens.
Journalisten werden verhaftet, TV-Sender geschlossen, Regimegegner ungestraft ermordet wie in Odessa im Mai 2014, im Jahre 2016 wurde eine Belavia-Maschine vom Himmel geholt, zur Landung in Kiew gezwungen, ein Unliebsamer herausgeholt und festgesetzt, und jüngst wurde der Oppositionsführer Wiktor Medwedtschuk des Hochverrats angeklagt. Und der Westen schweigt.
„It‘s the economy, stupid“, der bekannte Spruch aus Bill Clintons Wahlkampagne, der meinte, die Wirtschaft sei das Entscheidende, gilt nicht mehr. Hier geht es um Größeres: „It‘s the geopolitics“, und Belarus ist nur der Schauplatz für einen weiteren Stellvertreterkrieg. Daher die Brandmauer gegen Russland.
Brzezinzki spielt wieder mit?
Hat der alte Zbigniew Brzezinski wieder das große Schachbrett hervorgeholt (6)? Geht es um Putin‘s letzten Bauern Belarus? ... Steuert er aus dem Jenseits die Züge von Merkel, Maas, Macron … ? Muss man schon an Geister glauben, um die Politik des Westens zu begreifen?
Internet abgeschaltet
Beim Kampf um die Deutungshoheit des Geschehens steht die weißrussische Regierung auf verlorenem Posten, denn hinter den Portalen und Foren, die von der Jugend von früh bis spät frequentiert werden, stehen Player, die gegen weißrussisches Regierungshandeln immun sind, weil sie sich im Ausland befinden, vermutlich in Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine.
Das einzige, was die Regierung machen kann, ist das Internet total abzuschalten. Und das hat sie im August einige Male gemacht. Das war ein Schuss ins Knie, denn die wichtige IT-Branche war stocksauer, wie andere Betriebe auch, und die Abwanderung aus Belarus ist eine Option, die diese Seite nun in Erwägung zieht.
Die schrillsten Töne kommen aus Polen und den baltischen Zwergstaaten, die seit ihren Beitritten zu EU und NATO rund 20 Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben, trotz der Milliarden, die von der Gemeinschaft in diese Schaufenster an der Ostsee gepumpt wurden.
Polen
1918 entstand wieder ein souveränes polnisches Staatswesen. Die Zwischenkriegszeit war geprägt vom autoritären Regime Jósef Piłsudskis, einem glühenden Antisemiten und in diesem Punkt Hitlerversteher. Polen war damals ein Vielvölkerstaat in ganz anderen Grenzen als heute, mit zwangseingegliederten Ruthenen, Ukrainern, Weißrussen, Litauern, Juden und Deutschen. Dann sechs lange Jahre Generalgouvernement, die dunkelste Zeit in der Geschichte Polens. 1945 Befreiung durch die Rote Armee.
Ohne diese Befreiung gäbe es kein polnisches Volk mehr. Himmler hätte „nach dem Sieg“ mit den Verbliebenen im Generalgouvernement kurzen Prozess gemacht. Die Arbeitsfähigen hätten auf deutschen Gütern schuften dürfen, der Rest hätte sich „nach dem Sieg“ vermutlich irgendwo in Sibirien wiedergefunden. Es ist eine seltsame Art des Dankes an die Befreier, ihre Denkmäler zu schleifen. Außerdem stammt ein Drittel des heutigen Territoriums aus der Zuteilung sogenannter deutscher Ostgebiete, die der vielgeschmähte Josef Stalin auch anders hätte verteilen können.
Heute lernen die polnischen Schulkinder, dass zwischen Hitler und Stalin im Grunde kein Unterschied war und dass nach den Deutschen die Russen ihr Heimatland besetzt hätten.
Wojciech Jaruzelski, Edward Gierek, Władisław Gomułka, waren das Russen?
Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei hatte in ihren guten Zeiten mehr als zwei Millionen Mitglieder. Eine Zahl, von der die mitgliederstärkste Partei in der BRD, die SPD, nur träumen konnte. Es spielt keine Rolle, ob das überzeugte Marxisten-Leninisten waren oder pure Opportunisten. Sie haben die Volksrepublik Polen repräsentiert und getragen. Das waren keine Russen, sondern Polen. Auch mit seiner antisemitischen Vergangenheit tut sich das Regime schwer. Noch im Jahre 1946 gab es ein Judenpogrom, das Pogrom von Kielce, bei dem am 4. Juli 40 polnische Juden von einem Mob ermordet wurden.
Unter dem PIS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński wird die polnische Geschichte neu erfunden und neue Mythen werden erdichtet. Die Zeit der polnischen Volksrepublik soll aus der Erinnerung getilgt werden. Dazu muss er „die Russen“ zu Besatzern machen. So fungiert der Russenhass als einigendes Band einer gespaltenen Nation, deren ländliche Seite einem konservativen Katholizismus frönt, während das Stadtbürgertum einem gegensätzlichen Liberalismus zuneigt. Gleichzeitig dient der Russenhass dazu, sich als transatlantischer Musterknabe zu beweisen, um so, als besonderer Schützling der USA, mehr außenpolitischen Spielraum in der EU und besonders gegenüber Deutschland zu haben.
Antirussismus als Vehikel der Nationsbildung in den baltischen Staaten
Auch in den baltischen Staaten scheint Russenhass das einigende Band zu sein. Stets ist ein Mythos der Geburtshelfer einer Nation. Der neue Mythos erzählt von sowjetischer Besatzung und den Deportationen zehntausender Balten unter Stalin.
Diese Deportationen waren zweifellos verbrecherisch. Aber die Balten waren nicht die einzigen, die in der Stalinzeit einer verbrecherischen Politik ausgesetzt waren. Unter Chruschtschow begann die Rehabilitierung Vertriebener. Der Mythos ist selektiv und verschweigt die vielfältige Kollaboration der Balten mit dem Dritten Reich. Er verschweigt auch die Mithilfe am Genozid an den Juden.
In der Selbstdarstellung dieser neuen Staaten gibt es viele offene Fragen. Bisher werden sie mit lautem Russenhass übertönt. Völlig ungeklärt ist auch die „Russenfrage“ in Lettland und Estland, wo rund ein Drittel der Bevölkerung russischstämmig ist. In der Hauptstadt Tallinn sind es 44 Prozent. Der finnische Wissenschaftler Johan Beckman meint, das Hauptproblem Estlands sei die legalisierte Diskriminierung der Russen. Wer solch halsbrecherische Außenpolitik betreibt, muss das größte Interesse daran haben, dass die NATO Russland „im Zaum“ hält und Sanktionen das Land schwächen.
Matrjoschka, Identität und Zwiebeln
Man kann an die russischen Matrjoschka-Figuren denken, wenn man sich die Schichtung der Identitäten eines Menschen klar machen will. Die innerste Figur wäre nach diesem Modell das eigene Ich. Die nächstfolgende Schale wäre die Familie beziehungsweise der Familienname, dann Freundeskreise und Mitgliedschaften in Vereinen, mit denen sich die Person identifiziert. Eine weitere Schale wäre möglicherweise der Beruf und die Betriebszugehörigkeit eines Menschen.
Die äußerste Schale wäre der Staat, mit dem sich jemand identifiziert, seine Staatsbürgerschaft. Entsprechend den Schalen einer Zwiebel sind die Identitäten eines Menschen um den Ich-Kern herum aufgebaut. Diejenigen, die dem Ich am nächsten sind, sind natürlich die intensivsten, die dominantesten.
In der Sowjetunion war die Union, geliebt oder nicht, die äußerste Schale. Diese Union hatte eine nicht zu unterschätzende integrative Kraft, die Kriege und Auseinandersetzungen, wie wir sie seit 1990 erleben, weitgehend verhinderte.
In sowjetischen Pässen gab es die Rubrik „Nationalität“. Damit wurde nicht unbedingt auf einen bestehenden Nationalstaat Bezug genommen, denn es gab auch die Nationalität „jüdisch“. Die Nationalität können wir uns in diesem Fall als die der äußeren Unions-Schale nächstfolgende vorstellen.
Als mit dem Ende der Sowjetunion die äußere Schale zerbrach, waren nur noch die Nationalitäten sichtbar, deren Funktion sich nun änderte. Während sie zu Sowjet-Zeiten ein zusätzliches, in der Praxis nicht besonders wichtiges Persönlichkeitsmerkmal waren, wurden sie nun zum bestimmenden Erkennungszeichen, zum Unterscheidungs-, Abgrenzungs- und Ausgrenzungsmerkmal, bisweilen in völkisch-nationalistischer Übertreibung.
Diese Tendenz war in jenen früheren Sowjetrepubliken am heftigsten, die in ihrer Geschichte kurzzeitig souveräne Staaten gewesen waren, wie die baltischen Länder oder Georgien. Als Letzte verließen jene asiatischen Republiken die einstürzende Ruine, die aus Sultanaten oder Emiraten in die Sowjetunion „übersiedelt“ waren und nie so etwas wie bürgerliche Nationalstaaten gewesen waren.
Als das einigende Band der Union wegfiel, wurden aus der sowjetischen Nomenklatura über Nacht nationalistische Eliten. Keine Revolution hatte die alte herrschende Klasse durch eine neue ersetzt, sondern die alten Eliten ersetzten ihre alte Gesinnung durch eine neue. Oder anders ausgedrückt: Das Vakuum, das der Wegfall der einigenden, kommunistischen Staatsdoktrin hinterließ, wurde durch partikularen Nationalismus ausgefüllt, der sich den neuen Machtverhältnissen anpasste, also „prowestlich“ war.
Von Rotfront auf den Präsidentenstuhl
Ein typisches Beispiel ist die langjährige Präsidentin Litauens Dalia Grybauskaitė, die wasserstoffblonde Dame, die sich auf allen Familienfotos der EU stets in der ersten Reihe, neben den „Großen“, postierte. Grybauskaitė, 1956 in Litauen geboren, ging mit 20 Jahren nach Leningrad, heute Sankt-Peterburg, um in der Pelzfabrik Rotfront zu arbeiten. Sie absolvierte ein Abendstudium in Politischer Ökonomie an der staatlichen Leningrader Universität.
1983 trat sie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion bei, kehrte nach Litauen zurück und übernahm eine Lehrtätigkeit an der Parteihochschule in Vilnius. Sie promovierte 1988 in Wirtschaftswissenschaften an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der KPdSU in Moskau und unterrichtete in Vilnius Politische Ökonomie bis zur Schließung der Parteihochschule im Juni 1990.
Schon im Jahr 1991 absolvierte sie ein „Spezialprogramm für Regierungsmitglieder“ an der US-Elite Universität, Georgetown University, in der US-Hauptstadt Washington. Nun hatte sie einen „Impfpass“, der sie als Transatlantikerin auswies. Einer Karriere unter den neuen globalen Machtverhältnissen stand nichts mehr im Wege. Um an ihrer Konversion keinen Zweifel aufkommen zu lassen, musste sie nur noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit härtere Sanktionen gegen Russland fordern. Und das tat sie.
Und so schließt sich der Kreis
Die Ironie der Geschichte will es, dass die Bolschewiki es waren, die als erste das Selbstbestimmungsrecht der Nationen propagierten (7).
Lenin hat in seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg, die polnische Sozialdemokratin, die sich für einen Verbleib Polens im Zarenreich aussprach, ausdrücklich das Recht einer Nation verteidigt, aus einem größeren Staatsverband auszutreten.
Quellen und Anmerkungen:
(1) (https://www.nbrb.by/engl)
(2) (https://www.dialog-ev.org/post/das-wirtschaftsmodell-von-belarus)
(3)
(https://de.rt.com/international/117638-aktives-programm-im-ganzen-land-usa-betreibt-illegales-aktivisten-netz-russland/)
(4)
(https://trv-science.ru/2020/08/vybory-prezidenta-rb-arifmetika-protiv-cik/)
(5) (https://drive.google.com/file/d/1tMYku50vb6jBawXXrj2SRRHlRi_OA_vy/view)
(6) 1997 erschien Brzezinski‘s geopolitische Monographie, The Grand Chessboard (Das große Schachbrett), darin entwirft er unter anderem ein Drehbuch für die militärische Einkreisung Russlands und das Herausbrechen der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich. Dieses Drehbuch wurde von Präsident Clinton und seinen Nachfolgern Punkt für Punkt in die Tat umgesetzt.
(7) W.I.Lenin, Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1914
https://archive.org/details/leninwerke_201705/Lenin%20Werke/LW20/page/n403/mode/2up