Auf verlorenem Posten
Die Zustimmung zu strengen Anti-Corona-Maßnahmen ist argumentativ nichtig, wenn man sich grundlegende wissenschaftliche Prinzipien in Erinnerung ruft. Teil 3/3.
Befürworter strenger Anti-Corona-Maßnahmen treten mit dem Anspruch auf, zumindest beim Thema Corona mehr Vernunft walten zu lassen als die Skeptiker und auf der Seite der Wissenschaft zu stehen. Der rationale Gehalt ihrer Einlassungen ist jedoch gleich Null — der Anteil an Wissenschaft ebenfalls. Bei jeder Einzelfrage stehen sie vor demselben Dilemma: entweder eine außergewöhnlich schlimme Pandemie zu postulieren oder Vernunftregeln und wissenschaftliche Prinzipien zu beachten. Beides zugleich ist nicht möglich.
War Wissenschaftskritik vor allem in den 1970er und 1980er Jahren en vogue, ist sie heute eher als Esoterik und Schwurbelei in Verruf. Das Coronaregime hat dieser Entwicklung einen weiteren Schub gegeben. Alle tanzen um die Wissenschaft herum, als wäre sie ein Goldenes Kalb. Anscheinend wird man umso ernster genommen, je mehr man sich bei ihr anbiedert. Das aber ist kindisch.
Religion und Priester
Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld hat für Teilnehmer seiner Proseminare eine besondere Aufgabe parat. Beim gemeinsamen Lesen einer berühmten Schrift von Immanuel Kant (1724 bis 1804) sollen die Studenten jedes Mal die Worte „Wissenschaft“ und „Aufklärung“ durch das Wort „Religion“ ersetzen – ebenso das Wort „Wissenschaftler“ durch „Priester“.
Das Resultat ist gerade im Hinblick auf aktuelle Ereignisse erhellend. So gleichen etwa von Regierungen bestallte Expertenräte auffallend einer Priesterkaste am Hofe. Mit ihren Weissagungen bestätigten oder bestimmten solche Kasten die Politik der jeweiligen Herrscher. Ganz ähnlich verhält es sich heute zum Beispiel mit dem Covid-Expertenrat, dessen wirre Grafiken und zirkuläre Modelle modernen Knochenorakeln oder Kaffeesätzen gleichen.
Missbrauchte Unschuld?
Die Neigung, dergleichen als Missbrauch einer wahren – und guten – Wissenschaft zu kritisieren, ist allgemein verbreitet. Doch das kann die jeweilige Gegenseite auch. In allen Lagern der öffentlichen Diskussion tummeln sich Leute, die anderen Leuten klügelnd vorwerfen, nicht zu wissen, wie „Wissenschaft funktioniert“. Auch hier springt die Ähnlichkeit zum religiösen Glaubenskrieg ins Auge. Man zitiert beflissen den Katechismus und reklamiert die richtige Auslegung alter Mythen jeweils für sich. Weder aber gibt es die wissenschaftliche Methode noch „lebt“ Wissenschaft vom Zweifel – um nur zwei der populärsten Mythen zu nennen.
Alle Versuche, Wissenschaft von Nichtwissenschaft oder gar von Pseudowissenschaft hinreichend klar abzugrenzen, sind entweder kläglich gescheitert oder so kompliziert, dass sie nicht als Mittel im hitzigen Schlagabtausch taugen. Ferner kann nicht durch Wissenschaft selbst begründet werden, warum die Wissenschaft anderen Gedankensystemen vorzuziehen sei.
Das folgt unter anderem aus dem Unvollständigkeitssatz des Mathematikers Kurt Gödel (1906 bis 1978). Salopp gesagt: Wissenschaft, die mit eigenen Mitteln ihre eigene Vorzüglichkeit „beweist“, dreht sich hoffnungslos im Kreis. Dieses Verfahren ist dem des Christentums nicht überlegen, das die Existenz Gottes als erwiesen erachtet, weil sie in der Bibel – dem „Wort Gottes“ – behauptet wird.
Verwechslungsgefahr
Auch schlüssige Gedankensysteme beruhen immer auf Aussagen, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit kann lässig pariert werden, indem man bekundet, die Wissenschaft als Bezugssystem nicht anzuerkennen. Oder man erklärt nach eigenem Gusto irgendetwas anderes zur Wissenschaft und gibt den Vorwurf zurück. Dagegen kann kein Wesen im ganzen Kosmos einen Einwand vorbringen, der rational stichhält.
Wer anderen Unwissenschaftlichkeit vorwirft, meint in der Regel etwas anderes, ohne es zu wissen. Gemeint ist, dass gewisse Standards nicht eingehalten oder – noch bedeutsamer – Doppelstandards verwendet werden. Man argumentiert dann innerhalb eines Bezugsrahmens, den andere nicht anerkennen müssen. Bevor man einen Diskurs beginnt, muss man sich also auf gemeinsame Standards einigen. Tut man dies nicht, sind alle Worte Schall und Rauch.
Scharfsinn statt Stumpfsinn
Werden diese Standards anerkannt, kann Kritik rational ansetzen. Weitschweifige Erzählungen darüber, was Wissenschaft angeblich sei oder wie sie funktioniere, sind dabei überflüssig. Der Wissenschaftstheoretiker Larry Laudan (1941 bis 2022) hält die Frage, ob eine Überzeugung wissenschaftlich ist, für unbedeutend. Es komme darauf an, ob sie wohlbegründet und praktisch hilfreich sei.
Es gibt nur eine sinnvolle Möglichkeit, die Wissenschaftlichkeit doch noch ins Spiel zu bringen. Denn nahe am Beginn derselben steht die Abgrenzung vom Mythos mittels der von Aristoteles entwickelten Logik, vor allem mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch. Während im Mythos einander Ausschließendes, Paradoxes, Unplausibles friedlich koexistieren, wird im Logos damit Schluss gemacht.
Zwar sind alle inhaltlichen Bestimmungen, die Aristoteles damit verbunden hatte, längst hinfällig geworden. Es bleibt aber die Form – das Ideal einer widerspruchsfreien Begründung. Wer beansprucht, rational zu sein, muss sich an diesem Ideal orientieren, darf sich nicht selbst widersprechen und nicht mit zweierlei Maß messen. Den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit kontert man am besten, indem man vom Kontrahenten einfordert, erst einmal die Gedanken zu sortieren und in widerspruchsfreie Form zu bringen. Das ist nämlich Bedingung der Möglichkeit jeglicher Wissenschaft.