Auf gute Nachbarschaft

Ein Manova-Friedensprojekt setzt sich für ein menschliches Miteinander mit russischen Mitbürgern im eigenen Land ein.

Große Teile der deutschen Medienlandschaft geben sich in ihrer Berichterstattung zum Ukrainekrieg nicht mehr damit zufrieden, die Politik Russlands zu kritisieren. Vielmehr findet im öffentlichen Diskurs die Abwertung eines ganzen Volkes statt. Das Bild des barbarischen, kulturlosen Russen, der in den vergangenen Jahrhunderten nichts anderes als Invasion hervorgebracht hat, wird immer mehr akzeptiert. Das ist nicht nur offen rassistisch und bereitet den Boden für Gewalt gegen Russen im eigenen Land, es nährt auch das Narrativ eines Feindes, dem jegliche Menschlichkeit abgesprochen werden kann, und ist somit nichts anderes als Kriegsvorbereitung. Kriegsvorbereitung für einen Krieg, der, sollte er entfesselt werden, das Potenzial hat, ganz Europa in Schutt und Asche zu verwandeln. Das Ganze geht einher mit einer Art Geschichts- und Kulturrevisionismus, der so tut, als hätte Russland nie zum europäischen Kulturraum gehört. Die Folge ist eine sich ausbreitende Russophobie. Diesem plumpen Versuch der Spaltung setzen wir von Manova das Projekt #RusslandsSchätze entgegen. In einer wöchentlichen Kolumne setzen sich verschiedene Autoren mit einem Aspekt russischer Kultur auseinander. Von Lew Tolstois Romanen bis hin zu sowjetischen Kinderserien und berührenden Begegnungen ist alles dabei. Kunst, Literatur und Musik haben die Macht, erfahrbar zu machen, was die Regierenden so gerne aus unserem Bewusstsein gedrängt sähen: die Menschlichkeit des anderen. Sie können kein Gedicht lesen oder eine Klaviersonate hören und gleichzeitig den intensiven Wunsch verspüren, den Interpreten zu töten. Versuchen Sie es ruhig. #RusslandsSchätze geht es nicht darum, die russische Politik oder gar den russischen Präsidenten in irgendeiner Form zu rechtfertigen, sondern darum, zu betonen, dass wir alle zur Menschheitsfamilie gehören, auch diejenigen, denen dies am vehementesten abgesprochen wird. Nur wenn wir das menschlich Verbindende wieder in den Vordergrund stellen und so Sympathie schaffen, nicht für die russische Regierung, aber für die russische Seele, kann es uns gelingen, eine Schranke einzubauen, die uns davor bewahrt, Feindbildern blind auf den Leim zu gehen.

Opfer, Täter oder Kollateralschäden?

In Deutschland lebende Russen haben mit dem Krieg ihres Heimatlandes gegen die Ukraine wenig zu tun, dennoch hat sich in den vergangenen Monaten für sie viel geändert. Russische Künstler dürfen in Deutschland in der Regel nur auftreten, sofern sie sich gegen die russische Regierung positionieren – wenn überhaupt. Konzerte, Ausstellungen, Büchertische auf Messen, Sprachkurse und Seminare zu russischer Literatur werden flächendeckend abgesagt, Austauschprogramme sowieso.

Der Bayrische Rundfunk veröffentlichte Mitte Februar 2023 beispielsweise einen Bericht über einen Russen, der an der Deutschen Oper auftreten darf, obwohl er Russe ist (1). Ende Januar wurde Russland explizit nicht zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee eingeladen. Der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau gab an, er halte die Notwendigkeit hierzu unter den aktuellen Umständen für offensichtlich (2). Das ist nicht nur eine Verhöhnung der russischen Opfer des Nationalsozialismus, auch sind wir anscheinend an einem Punkt angelangt, an dem das Grausamste der deutschen Geschichte wieder dazu missbraucht wird, Hass und Ausgrenzung zu säen.

Das Bild des mordend und vergewaltigend durch die Gegend streifenden, russischen Barbaren, kaum mehr Mensch als Tier, ist verbreiteter denn je. Egal ob die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub im ZDF zum Besten gibt, die Russen sähen zwar aus wie Europäer, seien im kulturellen Sinn aber keine (3), oder die Neue Zürcher Zeitung titelt, den Russen seien die Kriege ihres Präsidenten schlicht egal (4): Russophobie steht hoch im Kurs. Es scheint, als würde sich regelrecht Mühe gegeben, die von vielen Menschen empfundene Abneigung gegenüber Wladimir Putin nicht an der russischen Bevölkerung vorbeigehen zu lassen.

Was hier passiert, lässt sich nicht mehr als Positionierung zum Ukrainekrieg abtun. Es ist auch keine Solidarität mit der Ukraine, sondern plumper Rassismus, betrieben zumeist von denjenigen, die sich in Rassismusdebatten sonst unüberhörbar als Antifaschisten inszenieren.

Die ethische Grundhaltung jedes Einzelnen gebietet es, sich gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufzulehnen, wenn er diese bemerkt. Und sie nicht bemerkt zu haben, ist eine Ausrede, die einem im Nachhinein hoffentlich niemand glauben wird. Man gebe bei Google nur die Worte „Russland“ und „Barbaren“ ein und ergötze sich an der Qualität deutscher Leitmedien.

Der westliche Teil Russlands gehört historisch und kulturell eindeutig zu Europa. Ein Blick auf die Architektur der Städte, die Organisation der Zaren- und Königshäuser oder die Korrespondenz bedeutender russischer Literaten mit insbesondere deutschen Vertretern genügt. Generell ist die deutsch-russische Beziehung wohl etwas historisch Einzigartiges, geprägt von einer sonderbar faszinierenden Fremdheit und dennoch einer erstaunlichen Nähe der Mentalität.

Ein Projekt für intellektuelle Nachbarschaft

RusslandsSchätze ist ein Friedensprojekt für intellektuelle Nachbarschaft. Ohne den Nachbarn zu glorifizieren oder sich von ihm abhängig zu machen, ihn wohl aber in seiner Fremdheit und Ähnlichkeit zu achten und wertzuschätzen. In der Tradition der #Friedensnoten wird sich wöchentlich jeweils ein Autor mit einem Aspekt russischer Kultur beschäftigen.

Neben Rezensionen russischer Klassiker, Auseinandersetzungen mit historischen Ereignissen, Musik, Kunst, Theater und Filmen wird es auch Reiseberichte und vor allem persönliche Eindrücke sowie Empfindungen geben, denn diese sind es, die uns einander näherbringen. So entstehen Momente, die uns erlauben, uns selbst im Anderen zu erkennen. Wir setzen bewusst ein Zeichen gegen die Cancel Culture, die russische Künstler aktuell zu erleiden haben, wenn sie – ähnlich wie wir alle in der Coronazeit – vor eine Gesinnungsprüfung gestellt werden.

Kunst, Musik und Literatur sind kein reines Entertainment, sondern eine Art der menschlichen Kommunikation, die über Landes- und Sprachgrenzen hinweg verstanden wird und Menschen miteinander verbindet. Diese Verbindung darf nicht gekappt werden. Wer es dennoch versucht, dem ist nicht zu trauen, denn er betreibt Spaltung der übelsten Sorte. Wer Kunst zensiert, um wie auch immer geartete politische Ziele durchzusetzen, und seien sie noch so edel, der hat bestenfalls die Demokratie nicht verstanden. Im Schlimmsten Fall arbeitet er an ihrem jähen Ende, dem schnellsten und tragischsten, das eine freie Gesellschaft finden kann: dem Krieg.

Wer die russische Kultur und Lebensweise aus dem öffentlichen Raum verbannen will, der verbannt auch den russischen Blick auf die Dinge, und dieser ist, wie Sie zweifelsfrei in den nächsten Wochen sehen werden, ein ganz besonderer.


Der voraussichtliche Ablauf der Reihe (weitere können folgen):
(23. Juni 2023) Lilly Gebert: Jenseits von Schuld und Sühne (über Nikolai Gogols „Tote Seelen“ und die Eigenheiten der russischen Literatur
(30. Juni 2023) Michael Meyen: Mit dem Wolf nach Russland (über die sowjetische Kinderserie „Hase und Wolf“)
(7. Juli 2023) Nicolas Riedl: Russischer Tiefgang (über die apokalyptische Science-Fiction-Trilogie „Metro 2033-35“ von Dimitry Glukhovsky)
(14. Juli 2023) Bilbo Calvez: Eine Gemeinschaft in Sibirien (über ihre Zeit in einem sibirischen Dorf, in dem sie Ende vorigen Jahres mit gebrochenem Arm gestrandet ist)
(21. Juli 2023) Kenneth Anders: Die Russen und wir (über seine persönlichen Erfahrungen vom Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht in einer Garnisonsstadt der DDR)
(28. Juli 2023) Felix Feistel: Antiautoritäres Russland (über die anarchistische Mentalität der Russen und seine Eindrücke während einer Reise in der Coronazeit)
(11. August 2023) Aaron Richter: Ein Monument der Freundschaft über Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“)
(18. August 2023) Renate Schoof: Weltliteratur und Birkenwälder (über die Gedichte von Jewgeni Jewtuschenko, „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor Dostojewski und „Der Weg des Schnitters“ von Tschingis Aitmatow)
(25. August 2023) Hakon von Holst: Versöhnung im Land der Verbannung (über den Baikalsee und die ZDF-Dokuserie „Sternflüstern“)
(8. September 2023) Owe Schattauer: Die harten Neunziger (über die beiden russischen Filme: „Bruder“ von Alexei Balabanow und „Toschka ― Der Punkt“ von Yuri Moroz)
(15. September 2023) Roland Rottenfußer: Der Himmel auf Erden (über russische Spiritualität und Orthodoxie)
(22. September 2023) Wolfgang Bittner: Hinter dem neuen eisernen Vorhang (über seine Vortragsreise durch Russland und die damit verbundenen Erlebnisse)
(29. September 2023) Lea Söhner: Der Feindkomponist (über die Musik und das Leben von Pjotr Iljitsch Tschaikowski)
(6. Oktober 2023) Laurent Stein: Ein unbekanntes Viertel (über das Viertel Sokolniki in Moskau und die Erinnerungen an seine russische Großmutter)


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/ukraine-deutsche-oper-krieg-100.html
(2) https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/auschwitz-gedenken-ohne-russland/
(3) https://www.berliner-zeitung.de/open-mind/florence-gaub-bei-markus-lanz-vielleicht-sind-russen-ja-doch-auch-europaeer-li.223137
(4) https://www.nzz.ch/feuilleton/putin-fuehrt-krieg-den-russen-ist-es-egal-woher-ruehrt-die-kaelte-ld.1669539