Auf der Hut vor den Rechtschaffenen
Jede einzelne der schlimmsten Gräueltaten in der Geschichte der Menschheit wurde von Menschen begangen, die davon überzeugt waren, im Recht zu sein.
Menschen handeln gemäß den Sitten ihrer Zeit und Gruppe. Es gibt nichts Gefährlicheres als die Unfähigkeit, zu erkennen, dass andere das Recht haben, eine andere Meinung oder ein anderes Interesse zu vertreten. Die Zeitung The Guardian veröffentlicht bis heute Aufrufe, die NATO solle Russland den Krieg erklären. Auf Twitter gibt es viele fanatische „Liberale“, die argumentieren, es könne keine Verhandlungslösung für den Krieg in der Ukraine geben und der Krieg könne erst beendet werden, wenn die Ukraine alle Gebiete, einschließlich der Krim, zurückerhält. Die Verrücktesten gehen manchmal sogar noch weiter und behaupten, der Krieg fände erst nach einem Regimewechsel in Russland ein Ende. Es bedarf keines besonders hohen Intelligenzquotienten, um die Gefahren zu erkennen, die in einem Krieg gegen eine Atommacht und in dem Beharren auf einer bedingungslosen Kapitulation liegen oder auf der Inhaftierung oder dem Tod derjenigen, deren Finger über dem roten Knopf schweben.
Im 20. Jahrhunderten gab es zwei schreckliche „Weltkriege“. Der erste war das Ergebnis Imperialer Rivalitäten und dynastischer Macht, und es fällt schwer, eine Moral in dem Ganzen zu erkennen — wenngleich die Propagandaerzählungen über Deutsche, die belgische Babys auf ihren Bajonetten aufspießten, ein Muster sind, das die westlichen Medien mit leichten Variationen in jedem Krieg bis heute wiederholten.
Der Zweite Weltkrieg dagegen war so nahe an einem gerechtfertigten Krieg, wie es nur geht. Faschismus und Nationalsozialismus waren wahrhaft teuflische Doktrinen, während die westlichen Kräfte, die ihnen Widerstand leisteten, am Rande einer goldenen, aber kurzlebigen Ära von Sozialdemokratie und bedeutender Ermächtigung der Arbeiterklasse standen.
Das Problem ist, dass dies das Muster dafür wurde, wie im Westen über den Krieg gedacht wird — dass wir immer „die Guten“ sind und unsere Widersacher wahrhaft böse, und dass der totale Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation geführt werden muss, während selbst die furchtbarsten Gräueltaten wie Dresden und Hiroshima im Rahmen des allumfassenden moralischen Imperativs gerechtfertigt sind.
Wir haben eindeutig imperiale Kriege im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien erlebt, die von den Medien jeweils so manipuliert wurden, dass sie diesem Denkmuster entsprachen. Dieses Denkmuster nährt auch die anhaltende Propaganda, dass der Krieg in der Ukraine auf die Invasion eines bösen russischen Regimes zurückgeht und „illegal und unprovoziert“ war.
Wie Sie wissen, gehe ich davon aus, dass der russische Einmarsch oder die Invasion sowohl 2014 als auch 2022 illegal waren. Unprovoziert dagegen waren sie ganz sicher nicht.
Es ist interessant, hier auf den Präzedenzfall des Zweiten Weltkriegs zurückzukommen, weil bis heute der Versuch nicht gelungen ist, das Böse des Nationalsozialismus zu entkoppeln von dem Verständnis, wie es dazu kam.
Jedem Schulkind meines Alters wurden die „Ursachen des Zweiten Weltkriegs“ beigebracht, und die erste Ursache war stets der extrem strafende Versailler Vertrag.
Das Bestehen auf der bedingungslosen Kapitulation im Ersten Weltkrieg, die völlig unbegründete Behauptung, Deutschland sei am gesamten Konflikt des Ersten Weltkriegs schuld, die Annexionen, grausame finanzielle Reparationen und der Schlag gegen den Nationalstolz durch die militärische Unterdrückung — all dies wurde von Historikern allgemein als Fehler anerkannt, die für Hitler eine große Hilfe waren.
Interessanter Weise widmen sich die heutigen Geschichtslehrpläne im Vereinigten Königreich dem Zweiten Weltkrieg viel ausführlicher, aber weniger differenziert, als zu unseren Zeiten. Die Ursachen des Krieges spielen eine viel geringere bis gar keine Rolle. Stattdessen rücken Heldengeschichten der Briten als mutiges, sich durchkämpfendes Volk — die natürlich nicht unwahr sind — in den Vordergrund.
Die Ukraine betreffend ist es uns nicht erlaubt, die Faktoren anzuerkennen, die Russland provoziert haben. Nicht die Erweiterung der NATO und die Vorwärtspositionierung von Raketen, nicht die Verherrlichung des Nationalsozialismus, nicht die Unterdrückung der russischen Sprache und ihrer politischen Parteien, nicht der Beschuss russischer ziviler Gebiete.
Tatsächlich ist es offenbar Verrat, diese Dinge zu erwähnen — ein Verbrechen gegen das übergeordnete Ziel des totalen Sieges.
Dieses Narrativ des Establishments und der Medien wird in den sozialen Medien von anderen gekontert, die eine gegenteilige und ebenso kompromisslose Meinung vertreten. Sie glauben, Russland müsse bis zum totalen Sieg in der Ukraine kämpfen, Selenskyj absetzen, die NATO demütigen und schwächen und somit dem US-Imperialismus einen Schlag versetzen.
Obwohl sie eine viel kleinere Gruppe darstellen, können die pro-russischen Extremisten ebenso blutrünstig sein wie die NATO-Falken.
Das Problem ist, dass all diese Menschen auf beiden Seiten, von der Rechtschaffenheit der eigenen Überzeugungen angetrieben, dem unermesslichen menschlichen Leid des Krieges gegenüber blind sind. Es scheint ihnen nichts auszumachen, dass ein Vielfaches des bisherigen Leidens nötig wäre, um einer der beiden Seiten den totalen Sieg zu bescheren.
In Wirklichkeit jedoch sind beide Seiten in einer sich kaum bewegenden Abnutzungsschlacht festgefahren. Die Idee eines „totalen Sieges“ ist realitätsferner Unsinn.
Was die eigentlichen Entscheidungsträger anbelangt, ist ein anhaltender Krieg für westliche Politiker eine Win-Win-Situation. Er schwächt Russland, ihren erklärten Feind. Aber noch wichtiger ist, dass er konzentrierte politische Macht und sehr hohe Profite aus den öffentlichen Kassen verspricht, die nur ein Krieg bringen kann.
Bis jetzt hat das Vereinigte Königreich ohne politischen Widerspruch im Mainstream Waffen im Wert von 4,1 Milliarden Pfund an die Ukraine geliefert. Wenn das Ziel der totale Sieg ist, ist dies nur ein Appetithäppchen.
Und doch erklärt die pseudo-oppositionelle Labour Partei, dass 1,2 Milliarden Pfund für die Aufhebung des „ two-child benefit cap“ (eine Deckelung der Steuererleichterung nach dem zweiten Kind, Anmerkung der Übersetzerin) und die Bekämpfung der Kinderarmut nicht aufzubringen sind.
Dies ist ein Grund dafür, warum Kriege so gut für die Reichen sind, die uns kontrollieren. Rüstungsausgaben dürfen weder kontrolliert noch kritisiert werden.
Bislang wurden 5 Milliarden Pfund für das Projekt des leichten Panzerfahrzeugs Ajax ausgegeben, ohne dass auch nur ein einziges einsatzbereites davon produziert worden wäre.
Es ist nicht abzusehen, wie viel Trident schließlich kosten wird — 125 Milliarden werden es mindestens sein. Der Krieg in der Ukraine beweist wieder einmal, dass unsere atomare Abschreckung nicht wirklich abschreckt.
Allerdings vermute ich, dass der Krieg in der Ukraine die Chancen drastisch verbessert, dass wir bei Trident auf unsere Kosten kommen, wenn wir die ganze Welt in die Luft jagen.
Mein ständig wiederholtes Argument, dass der Krieg in der Ukraine gezeigt hat, dass Russland nicht mal eben ein viel kleineres, schwächeres und extrem korruptes Nachbarland besiegen kann, ist kaum zu widerlegen, sodass die extrem hohen Ausgaben für die „Verteidigung“ durch die NATO nicht wirklich notwendig sind.
Die Vorstellung, dass Russland, das lange braucht, um die Ukraine zu besiegen, eine ernsthafte Bedrohung für das gesamte NATO-Bündnis darstellen könne, ist schlichter Unsinn.
Aber natürlich kann Russland letztendlich seinen viel schwächeren und kleineren Nachbarn besiegen. Letzten Endes kann die Ukraine den Krieg nicht gewinnen, und irgendwie muss der Westen damit fertig werden. Der Ukraine werden einfach die Menschen ausgehen, die fähig und willens sind, zu kämpfen.
Der Einsatz von US-Streubomben durch die Ukraine war vielleicht der erste Kratzer im so sorgfältig im Westen aufgebauten blaugelben Image. Die „Wer hat angefangen“-Frage wird in der öffentlichen Meinung verblassen, je länger der schreckliche Krieg voranschreitet, ohne dass es echte ukrainische Siege zu bejubeln gibt.
Ich glaube noch immer, dass es unklug und illegal von Putin war, diesen Krieg zu beginnen. Wenn seine Ziele begrenzt sind, wäre dies ein guter Zeitpunkt, seine Gewinne einzukassieren und sich zurückzuziehen.
Es mag Sie überraschen zu hören, dass ich eine gewisse Bewunderung für Bismarck hege. Abgesehen davon, dass er möglicherweise die Grundlagen eines Wohlfahrtsstaates gelegt hat, war Bismarcks.
Bismarck hielt sich an definierte und begrenzte Ziele und ließ sich von spektakulärem militärischen Erfolg nicht dazu hinreißen, diese Ziele zu erweitern.
Das Ziel seiner zwei Kriege gegen Österreich und Frankreich war die Einigung Deutschlands, was ihm in sehr schnellen, sofort beendeten Kriegen gelang. In seinem Denken spielte die Demütigung oder Bestrafung Frankreichs oder Österreichs keine große Rolle. Bismarck hatte begrenzte Ziele, erreichte sie und beendete die Kämpfe sofort.
Dieser schreckliche Krieg wird damit enden, dass Russland die Krim behält — darüber braucht man nicht zu streiten. Ob der Donbass theoretisch ein Teil der Ukraine bleibt, wird sich zeigen, aber eine russische de-facto-Autonomie wird dort eingerichtet werden. Ich vermute, dass das Gebiet weiter südlich, das den Zugang zur Krim sichert, für Putin wichtiger ist als der Donbass.
Es wird eine territoriale Lösung geben müssen. Hierfür ist die Diplomatie zuständig. Die Optionen eines totalen Krieges sind an sich schon furchtbar und bergen ein massives nukleares Risiko.
Die Vorstellung, dass eine der beiden Seiten sich bis zum totalen Sieg durchkämpft, ist schlicht Wahnsinn. Denjenigen, die von einem andauernden Krieg profitieren oder die Welt in den Flammen der Ideologie und Rechtschaffenheit aufgehen lassen wollen, muss mit Verstand begegnet werden.
Stellen Sie denjenigen, die auf einem totalen Sieg für die eine oder andere Seite bestehen, folgende Frage: „Wie viele tote Menschen ist das wert?“ Bestehen Sie auf einer konkreten Zahl. Für einen totalen Sieg, egal für welche Seite, ist weniger als eine Million unrealistisch. Es könnte viel, viel schlimmer sein. Wollen Sie das wirklich?
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Beware the Righteous“ auf dem Blog von Craig Murray. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.