Armut mit Migrationshintergrund
Noch immer liegt der soziale Status von Zugewanderten unter dem von einheimischen Deutschen. Statt Vorurteile zu pflegen, sollte man die Einzelschicksale betrachten.
Migration ist ein Thema — meistens, wenn es um Problemfälle geht, Gewalttaten vor allem. Armut hat zumindest manchmal Eingang in die Medien gefunden. Weil sie spätestens, seit es in Deutschland eine rasant steigende Inflationsrate gibt, nicht mehr zu übersehen ist. Beide Themen zusammen werden nur selten betrachtet. Und wenn, dann nur unter dem Aspekt, dass „Ausländer“ die Probleme, die im Land herrschen, angeblich mitverursacht haben. Weil es von „denen“ zu viele gibt, geht es „uns“ schlecht. Ein Gegenmittel gegen Vorurteile besteht immer darin, konkreten Menschen zu begegnen, sich anzuhören, was sie über ihre wechselvollen Schicksale zu erzählen zu haben. Auch eine analytische Betrachtungsweise hilft, die Spaltung in Menschen „mit“ und „ohne“ (Migrationshintergrund) zu überwinden. Denn am Ende sind beide Gruppen doch Opfer in einem perfiden kapitalistischen „Spiel“, das Menschen vor allem aufgrund ihrer Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt beurteilt. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“.
In unserem „internationalen Seniorenverein“, der 1989, als die Schwerindustrie im Ruhrgebiet zuerst die ausländischen Arbeiter ausspuckte, als ein „Selbstermächtigungsprojekt“ älterer Migranten gegründet wurde, spricht niemand über Armut.
Aber sämtliche Umstände sprechen dafür, dass sie alle, inzwischen um die 70 Jahre alt und mehr, es mit ihren mageren Renten nicht leicht haben.
Nationalität ? Unterschiedliche „Ausländer“, türkisch und kurdisch, russisch und ukrainisch, auch italienisch und spanisch.
Aufenthaltsstatus ? Ganz unterschiedlich, späte oder frühere Aussiedler mit zum Teil anerkannten Rentenansprüchen aus der Sowjetzeit, Angeheiratete der Aussiedler ohne eigene Rentenansprüche aus der Sowjetzeit, jüdische „Kontingent“-Bürger aus der Sowjetzeit, Pass-Deutsche mit Migrationshintergrund, selbst eingewandert, türkisch, EU-Bürger, italienisch, spanisch, griechisch und „Ausländer“, zumeist Türken der Gastarbeitergeneration, auch ein Kasache kommt regelmäßig zu den Treffen.
Sie alle werden statistisch als „Menschen mit Migrationshintergrund“ („mMHG“) erfasst im Unterschied zu all den anderen „Menschen ohne Migrationshintergrund“, („oMHG“), den „Ur-Deutschen“ (1).
Freitag ist großer Treffpunkt im Verein. Er ist über die Jahre eine Art „Heimattreffen“ geworden. Es wird in der Muttersprache und in Deutsch gequatscht, erzählt, erinnert. Es wird Mitgebrachtes gegessen, Köfte, Pelmeni, Blini, Canneloni, Plow, Tortilla, Kasy/Pferdeschinken ... viel Saures, Eingelegtes wie Pilze, Kraut, Speck, und Süßes — alles selbst hergestellt.
Der Tisch ist immer reichhaltig gedeckt. Hier wird jeder Geburtstag gefeiert, außerdem der 1. Mai, der Internationale Frauentag, Chanukka oder Nationalfeiertage ... Dann holt Raissa das Akkordeon heraus und alle singen fröhlich mit, russisch, türkisch, italienisch „Bella Ciao“ und deutsch.
Und sehr wichtig, stets werden Neuigkeiten ausgetauscht, zum Beispiel neue Rezepte. Wo gibt es Sonderangebote? Gibt es wieder Reste vom ganzen Lachs im russischen Geschäft für eine richtige Fischsuppe? Wo kann man umsonst in ein Konzert gehen oder günstig Karten kaufen?
Die Nähmaschine surrt: Hosen werden gekürzt, Röcke enger gemacht, Pullover oder Socken gestrickt — im Großen und Ganzen Selbsthilfe zum Alltag.
Viele leben von Grundsicherung, bekommen Wohngeld, obwohl alle in ihrem Leben viel gearbeitet haben. Entsprechend sind ihre Wohnverhältnisse in den nicht so beliebten Stadtquartieren. Viele gehen in der Woche regelmäßig zur Tafel.
So viel zur älteren Generation „mit Migrationshintergrund“.
In unserem reichen Land herrscht neben Kinderarmut auch Altersarmut bei den „Ur-Deutschen“ „oMHG’s“, ebenso wie bei den „Ausländern, den „mMHG’s“, bei Letzteren nur in viel höherem Maße.
Hatten wir die Slogans nicht gehört?
Die Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg?
Ja, vor allem die schlechtest ausgestatteten, kleinsten, alten, überteuerten, in Plattenbauten und in den verrufensten Wohnvierteln …
Die Ausländer nehmen uns die Ausbildungsplätze weg?
Ja, vor allem die dreckigen, wenig qualifizierten und schlecht bezahlten ...
Ja, wenn sie überhaupt einen erwischen, dann in den unterbezahlten und anstrengendsten Berufen, vor allem in der Altenpflege ...
Ein großer Teil von ihnen schafft es weder eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu erhalten, noch einen adäquaten Beruf, noch eine gute, bezahlbare Wohnung in einem angenehmen Viertel. Es sei denn er ist IT-Experte oder Arzt ... also Berufe, wo es großen „Bedarf“ gibt.
Aber selbst wenn du an einer deutschen Universität deine akademische Ausbildung mit Anstrengung geschafft hast und zum Beispiel Pädagogik, Journalistik oder Stadtplanung studiert hast oder in einem anderen Beruf, wo angeblich kein solcher „Bedarf“ herrscht, sind die Aussichten dennoch nicht rosig: Du wirst auf Projekte im Bereich „Migration“ reduziert sein und selten steht dir die Bandbreite deines Berufes in Konkurrenz mit den Akademikern „oMHG“ offen.
Beispiel
Unser guter Freund Ömer hat als in Deutschland studierter Pädagoge nach so und so viel zeitlich begrenzten Projekten mit „Migranten-Kindern“, „Migranten-Schülern und Schülerinnen“, „Migranten-Jugendlichen“, „Migranten-Auszubildenden“ oder „Migranten Senioren und Seniorinnen“ enttäuscht mit seiner ganzen Familie das Land verlassen und verdient seinen Lebensunterhalt nun als Dolmetscher in der Türkei.
Ece kam für ein Studium der Journalistik nach Deutschland. Sie wollte begreifen, welche Rolle die Medien in der gesellschaftlichen Meinungsbildung spielen und versuchen, anderes zu bewirken. Auch ihr ist es nach 20 Jahren Projekt-Beschäftigung nicht gelungen, einen wirklich befriedigenden Arbeitsbereich außerhalb des Migranten-Themas oder gar in der Wissenschaft zu finden. „Als Kurdin, Frau und Linke hast Du keine Chance“, ist ihr enttäuschter Rückblick.
Alles nur Ausnahmen?
Das also ist das Ergebnis nach 75 Jahren gesteuerter Arbeitsmigration, 45 Jahren gesteuerter Ost-West-Migration und 25 Jahren gesteuerter Fluchtmigration.
Armut an Zahlen und Beispielen
Der „Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband“ (DPWV) fasste im Mai 2024 aus den Zahlen des Statistischen Bundesamt für 2023 zusammen: 14,1 Millionen Menschen, das sind 16,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, leben an der Armutsgrenze.
„Bei den Seniorinnen und Senioren dagegen stieg die Armutsquote noch einmal stark an und erreichte traurige Rekordmarken: So müssen mittlerweile 18,1 Prozent aller über 65-jährigen ... zu den Armen gerechnet werden.... Altersarmut ist vor allem weiblich ... und liegt bei 20,2 Prozent aller älteren Frauen über 65 Jahren“ (2).
Bei „Ausländern“ insgesamt, mMHG’s im weitesten Sinne, liegt die Armutsquote bei 28,6 Prozent und bei den hier gerade betrachteten „ausländischen“ Rentnern und Pensionsempfängern sogar bei 31,2 Prozent.
Und bei „Sozialpolitik aktuell“ geht aus dem Mikrozensus noch differenzierter für 2022 hervor:
- Menschen ohne MGH liegen bei 12,1 Prozent,
- Menschen mit MGH und deutschen Pass bei 13,7 Prozent,
- Menschen mit MGH ohne deutschen Pass bei 28,1 Prozent,
- Ausländer, also mit ausländischem Pass bei 35,3 Prozent (3).
Was ist nun Armutsgefährdung und was ist deren Quote?
Für den sozialen Zusammenhalt ist das Wohlbefinden des Einzelnen notwendig. Auf der persönlichen und familiären Ebene spielen dafür Einkommen, Bildung, Arbeitsplatz, Wohnsituation und Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Geschehen eine wesentliche Rolle. Armut oder die Angst vor Armut verunmöglichen ein Wohlbefinden und das Gefühl dazuzugehören nachhaltig. Das wirkt sich auf die gesamte Verfasstheit der Gesellschaft aus. Immer deutlicher werden Spaltung und Segregation bis in die unterschiedlichen Stadtteile und Zentren.
Armut ist ein Phänomen der Großstädte. Die Großstädte sind gespalten.
„Ethnische Merkmale, Nationalität und Aufenthaltstitel sind mit sozialen Ungleichheiten verwoben und schreiben sich in Stadtstrukturen ein“ (4).
Als arm gilt, wessen Einkommen unter einem bestimmten Wert liegt, nach einem berechneten Modell unter 60 Prozent eines gemittelten Einkommensdurchschnittes eines Landes. Der Wert ist relativ und ändert sich je nach den gesamten Einkommensverhältnissen. Dieser „Schwellenwert der Armutsgefährdung“ lag im April 2024 bei netto 1.309,00 Euro im Monat für Alleinstehende. Wer weniger Geld zur Verfügung hat, gilt als arm.
Die Armutsgefährdungs-Quote zeigt den Anteil derer an der Gesamtbevölkerung oder einer bestimmten Gruppe, zum Beispiel der „mMHG’s“, deren Einkommen gerade noch diesen Schwellenwert erreicht, bevor sie zu den Armen gezählt werden (5).
Ein Blick auf die oben genannten Rahmenbedingungen im Vergleich der urdeutschen Bevölkerung mit der zugewanderten zeigt: Segregation und Ungleichheiten zwischen beiden Gruppen sind in vielen Bereichen unserer Gesellschaft nach wie vor gegeben, bei Arbeit und Einkommen, bei Bildung und Ausbildung, beim Wohnen und bei kultureller und sozialer Teilhabe. All dies manifestiert sich heute in bestimmten Stadtteilen jeder Großstadt.
Gilt dieses größere Risiko, in Armut zu geraten, nur für die älteren Migranten?
Nein! Es fängt schon früh an. Arbeit im Pflegebereich ist nicht nur schwer und Kräfte raubend, sie wird auch noch schlecht bezahlt und das wirkt sich auf die gesamte „Armutsgefährdungsquote“ aller „mMHG’s“ aus.
Warum ist das so?
Im Bericht des Sozio-ökonomisches-Panel (SOEP) von 2017, einer Analyse statistischer Daten zwischen 1995 bis 2015, (6) stehen dazu noch immer gültige Hinweise. Nachdem zunächst festgestellt wurde, dass in diesem Zeitraum die Armutsgefährdung bei „mMHG’s“ insgesamt doppelt so hoch war wie bei den „oMHG’s“, heißt es danach:
„Die höhere Armutsgefährdung von Personen mit Migrationshintergrund beschränkt sich weder auf bestimmte soziodemografische noch sozialstrukturelle Gruppen in der Bevölkerung und kann weitgehend einheitlich über Alters-, Bildungs- und Berufsgruppen, über Haushaltstypen, Regionen und einer Reihe weiterer armutsrelevanter Merkmale beobachtet werden ...“
Beispiel
Die junge Bosnierin Jassu lebt seit 2015, ihrem 17. Lebensjahr, in Deutschland mit „Humanitärem Aufenthaltsstatus“. Nachdem sie sämtliche Schulabschlüsse nachholte und im Juli 2023 ihr Examen als Pflege-Assistentin mit „sehr gut“ bestand, hat sie eine unbefristete Vollzeitstelle an einem Klinikum in der Nachbarstadt bekommen. Ihr Netto-Einkommen bei normalem Schichtbetrieb beträgt circa 1.250,00 Euro. Sie lebt also jetzt schon unterhalb der Armutsgrenze. Ab Juni 2024 soll es eine geringe Lohnerhöhung für alle Pflegekräfte geben. Aber was wird, wenn sie ihr Kind bekommt?
Sie wohnt in einem Viertel, wo sich Türken und Kurden streiten und Antifa und Nazis die Hauswände zukleben. Eine Wohnung in einem „besseren Viertel“ kann sie sich nicht leisten.
Selbst ihre junge Kollegin aus Serbien mit einem dreijährigen Abschluss als vollausgebildete Krankenschwester schafft es auf 2.200,00 Euro netto nur deshalb, weil sie 7-Tage mit Nachtschichten durcharbeitet.
Rund ein Viertel aller sozialpflichtig Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich waren 2022 „mMHG’s“ und bezogen auf Altenpflege waren es über 30 Prozent. Sind auch sie zumeist schlecht bezahlt und nahe an der Armutsgrenze, vor allem, wenn sie Frauen sind oder gar Alleinerziehende (7)?
Im SOEP 2017 heißt es an anderer Stelle (S. 5) zusammenfassend zu der Armutsquote von jungen mMHG’s:
Die Gruppe junger Menschen von 18 bis 30 Jahren, also „Berufsanfänger“, ist mehr als der Durchschnitt gefährdet, nämlich mit 30 Prozent.
Weitere Umstände erhöhen eine „Armutsgefährdung“.
Im oben genannten SOEP-Bericht heißt es zusammengefasst auf Seite 19:
„... Und wer zur Gruppe mit höherer Ausbildung gehört, diese aber im Ausland erworben und dort studiert hat, fällt wieder höher in das Armutsrisiko. Das ist mit der Nichtanerkennung oder nur Teilanerkennung solcher Abschlüsse zu erklären mit der Folge, dass diese in minder qualifizierten Tätigkeiten oder Berufen zu arbeiten gezwungen sind.“
Beispiel
Spumi, eine kroatische Kollegin in einem Projekt für traumatisierte Mädchen und Frauen, hat ihr Diplom in den letzten Tagen des ehemaligen Jugoslawiens zur Grundschul- und Musikpädagogin glänzend absolviert und als solche noch einige Zeit gearbeitet. Letztlich hat sie das Land verlassen, weil sie den erstarkenden und bedrohlichen Nationalismus nicht mehr aushalten konnte und selbst betroffen war mit einer kroatischen Mutter und einem serbischen Vater.
Hier, in Deutschland wurde nichts von ihren Zeugnissen anerkannt. Sie wurde auch in Schulen jahrelang nicht adäquat und nur mit Zeitverträgen beschäftigt. Erst durch Aufbaukurse, Zusatzqualifikationen, zum Beispiel Trauma-Pädagogik, und diverse Bemühungen fand sie diese halbwegs gut bezahlte und langfristige Stelle in dem oben genannten Projekt — nicht ihr Traumberuf, sie arbeitet gerne mit Kindern.
Für eine allein erziehende Mutter mit zwei inzwischen fast erwachsenden Kindern hat der Lohn nie wirklich gereicht. Auch sie findet keine Wohnung in einem „besseren Viertel“, die sie bezahlen könnte. „Ich werde weiterkämpfen! Bevor ich in Rente gehe, möchte ich meine Anerkennung als Schul- und Musik-Pädagogin in Deutschland erstreiten!“ Das ist ihr fester Entschluss.
Also schützen nicht einmal eine versicherungspflichtige Arbeit und ein guter Bildungsabschluss hohe Anteile der zugewanderten Menschen vor der Armutsgefahr?
Im oben genannten SOEP-Bericht heißt es weiter:
„Armutsgefährdend wirkt, wenn Personen mit Migrationshintergrund seltener über einen Berufs- oder Hochschulabschluss verfügen, sie häufiger arbeitslos oder ausbildungsinadäquat beschäftigt sind, seltener in Angestellten oder Beamtenpositionen tätig sind und im Durchschnitt jünger sind. Diese Überrepräsentation in besonders armutsgefährdeten Gruppen erklärt jedoch nur einen geringen Teil der um 14 Prozentpunkte höheren Armutsgefährdung von Menschen mit Migrationshintergrund.“
Diese Gefahren treffen auf viele „mMHG’s“ zu. Diese Überrepräsentation in besonders armutsgefährdeten Gruppen — kein Zufall, also was ist es? Diskriminierung?
„Armut mit Migrationshintergrund“ ist also ein offensichtliches Phänomen im „besten Deutschland aller Zeiten“ — und woran ist es zu erkennen?
Obdachlosigkeit und Betteln
Seit der Wiedervereinnahmung der „neuen Bundesländer“ ist Armut gestiegen und überall in Stadtzentren sichtbar: Obdachlose und um ein bisschen Geld bettelnde Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters. In meinem Quartier sind es ausnahmslos „mMHG’s“, ältere Türken, jüngere Rumänen, also aus den ehemaligen und ebenso den neuen Zuwanderergruppen.
Niedriglohnsektor
Mehr als ein Drittel der Beschäftigten mit ausländischer Staatsangehörigkeit arbeiten im Niedriglohnsektor im Vergleich zu deutschen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen doppelt so viele (37 Prozent zu 16 Prozent) (8).
Löhne
Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit lag der Durchschnittsverdienst der gut drei Millionen ausländischen Vollzeitbeschäftigten im Jahr 2019 bei rund 2.600 Euro brutto und damit etwa ein Viertel unter dem der Deutschen, die rund 3.500 Euro brutto verdienten. Armutsgefährdung ist auch bei Vollzeitbeschäftigten, wie wir oben nur an einem Beispiel gesehen haben, doppelt so hoch wie in der deutschen Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund (14,8 Prozent zu 7,1 Prozent) (9).
Arbeitslosigkeit
„Für die Arbeitslosenquoten wird gezählt, wer bei der Bundesagentur für Arbeit als ‚arbeitslos‘ gemeldet ist. Menschen mit Migrationshintergrund werden in der Arbeitslosenstatistik nicht getrennt erfasst. Erfasst werden aber ausländische Staatsbürger*innen in Deutschland — sie machen etwa die Hälfte aller Menschen mit Migrationshintergrund aus.
Im Februar 2024 lagen die Arbeitslosenquoten:
- bei der Gesamtbevölkerung bei 6,1 Prozent
- bei der Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft bei 15,5 Prozent“ (10).
Wohnungsnot
„Mieterinnen und Mieter mit Migrationshintergrund leben im Schnitt in kleinerem und schlechter ausgestattetem Wohnraum als Menschen ohne diesen Hintergrund. Sie sind vermehrt Lärm- und Umweltschmutz ausgesetzt und weniger zufrieden mit ihren Wohnverhältnissen. Diese Wohnbenachteiligung geht einher mit anderen Disparitäten wie dem niedrigeren Einkommen und Bildung. Doch selbst unter Berücksichtigung sozi-ökonomischer Unterschiede konnte in der Vergangenheit eine wohnräumliche Schlechterstellung gezeigt werden ... sie wenden 46 Prozent ihres Einkommens für die Miete auf und zahlen im Schnitt 464,04 Euro“, soweit noch einmal SOEP 2017.
Der Sozialwohnungsbau ist auf niedrigstem Niveau, die ehemals durch Steuern finanzierten Sozialwohnungen sind heute lukrative Objekte ausländischer Finanzgruppen. Mieterschutz wird abgebaut (8).
Soweit die Statistik. Sie spricht eine deutliche Sprache.
Was diese Art der Abstraktion nicht leisten kann, ist die dahinter verborgenen Einzelschicksale zu beleuchten, Empathie zu erzeugen und den notwendigen Aufschrei zu erzeugen.
Hinter der Statistik stehen Menschen, die kaum noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, die vieles sehnsüchtig begehren, aber sich nicht leisten können, die verzichten, in vielerlei Hinsicht unsichtbar werden, nicht mehr wahrgenommen werden, einsam sind und im schlimmsten Fall auf der Platte landen, die verschämt Flaschen für Pfand aus den Abfallkörben sammeln, die in den Altkleidersammlungen versuchen, das Beste herauszufischen, weggeworfenes Essen „retten“.
Einige Berichte zu solch demütigender Existenz haben uns bereits die Vielfalt der Dramen vor Augen geführt.
Im Stadtraum kann sie eigentlich niemand mehr übersehen.
Stadtraum und Armut — eine alte Geschichte
Seit mehr als 40 Jahren beschäftigen sich Stadtplaner, Politik- und Sozialwissenschaftler mit dem Thema Migration, Armut, Differenz und Diskriminierung im städtischen Raum (12).
1976, also kurz nach dem sogenannten Anwerbestopp für „Gastarbeiter“ und seitdem ständig steigenden Familiennachzug wies der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung Heinz Kühn bereits in seinem sogenannten Kühn-Memorandum „Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland“ die Bundesregierung auf sozial- und arbeitsmarktpolitische Defizite hin, forderte ein Einwanderungsgesetz — aber bis zur Jahrtausendwende geschah nach wie vor wenig.
Für die Bildungspolitik empfahl er, sich auf frühkindliche Sprachförderung, Einbeziehung der Muttersprache in den Regelunterricht sowie Begleitprogramme zur Berufsausbildung als Voraussetzung für eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt wenigstens der „zweiten Generation“ einzulassen. Vieles davon ist auf die lange Bank geschoben worden oder wurde schlichtweg ignoriert (13).
Türkisch wird immer noch in Moscheen angeboten, was nicht jedermanns Sache ist. Spanisch und Italienisch zum Beispiel organisierten zumeist die katholischen Missionen, wenn der jeweilige Priester sich darum kümmerte. Nur die griechische Regierung sorgte sich um die Kinder ihrer zeitweisen Auswandererfamilien und bietet bis heute das griechische Gymnasium an mit Deutsch als erster Fremdsprache (14).
1989 erschien der erste Armutsbericht des DPWV, unter dem Titel „Wessen wir uns schämen müssen ...“. Im Kapitel über die Ausländerhaushalte, der Begriff Gastarbeiter wird abgelehnt, belegen die Zahlen die gleichen Phänomene der Diskriminierung bei Arbeit, Ausbildung und Wohnen wie heute. Gefordert wurde eine freie Arbeitssuche und Abschaffung der Arbeitserlaubnis, ein Niederlassungsgesetz statt der Ausländergesetzgebung, politische Teilhabe, kommunales Wahlrecht? und Einbeziehung der Ausländer in arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen (15).
Zunehmender Rassismus und Ausländerhass, Anschläge auf ausländische Familien wie 1992 in Rostock oder 1993 in Solingen zwangen zum Handeln.
1993 initiierte das Land NRW das „Integriertes Handlungsprogramm für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“ (16) Als Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf wurden vor allem die typischen Arbeiterstadtteile der Gründerzeit in der Nähe der Großindustrien und die ehemaligen Bergarbeiter- oder Stahlarbeiter-„Kolonien“ identifiziert. Das waren die sogenannten „AAA-Stadtteile“ mit Armen, Arbeitslosen und Ausländern. Inzwischen sind zu den altindustriellen Quartieren die Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre hinzugekommen.
Sie galten als „problematischer“ Sozialraum marginalisierter Gruppen mit Sprach-, Bildungs- oder Ausbildungsdefiziten, von Langzeitarbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und „Ausländern“ — eine Folge mangelnder Chancen und arbeitsmarktpolitischer Krisen einerseits und von Konzernentscheidungen andererseits.
1999 wurde das oben genannte Programm in NRW vom Bund als „Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf — die soziale Stadt“ als eigene Programmkomponente der Städtebauförderung ins Leben gerufen (17).
In einer Zwischenevaluation dieses Programms zur Phase 2003/2004 forderte zum Beispiel der Soziologe und Stadtforscher Hartmut Häußermann erneut eine genauere Problemanalyse und ressortübergreifende Kooperation ein und beklagte, dass „Insbesondere ... die Beteiligung von Migranten noch auf einem niedrigen Niveau (liege)“ (18). Und nach wie vor scheint die Verbesserung des Bildungsniveaus und der Sprachkompetenz der nachwachsenden Generationen in den nach wie vor problembeladenen Stadtteilen ein zentrales Problem zu sein.
2005 trat das lang debattierte Einwanderungsgesetz in Kraft. Aber es zielt vor allem auf eine Steuerung der Migration unter Berücksichtigung wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Interessen. Obwohl darin Integrationsförderung als staatliche Aufgabe festgeschrieben ist, blieb es bei der strukturellen Benachteiligung großer Gruppen, wie aus dem vorher Geschilderten klar hervorgeht (19).
2006 entwarf die Regierung unter Angela Merkel das Programm „Nationaler Integrationsplan“. Mehr als 400 Akteure aus Bund, Ländern, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Kulturbereichen, Sport, Wirtschaft und auch aus Migrationsverbänden und Migranten-Vereinen widmen sich seitdem den seit 1976 durch Kühn bekannten Problemen struktureller „Nicht-Integration“, also „Defiziten“ auf Seiten der Zuwanderer.
2010 wurde daraus der „Aktionsplan Integration“ mit Schwerpunkten Bildung und Ausbildung, Arbeitsmarkt und soziokultureller Teilhabe und Antidiskriminierung. Migrationspolitik wird seitdem als Prozess und ressortübergreifende Aufgabe auf allen Ebenen verstanden. Es sei ein Paradigmenwechsel, wird gesagt. Na endlich?
Schaut man sich die Ergebnisse bis heute an, hat man nicht den Eindruck, dass es zu besseren Verhältnissen gekommen ist.
Generell müssen wir nach so vielen Jahren, Projekten, Programmen, Analysen und Forderungen und den Aktivitäten so vieler engagierter Menschen immer noch feststellen: Die soziale Ungleichheit hat sich verschärft, Stadtteile sind abgehängt, die sozialräumliche Segregation ist geblieben, AAA gelten nach wie vor, Armut und Armutsgefährdung sind geblieben.
Bestimmte Stadtteile werden inzwischen als „NO-GO“-Gebiete skandalisiert, im „Aktionsplan Integration“ heißen sie nun „Ankunftsquartiere“, was die Situation nicht besser macht.
Genau diese Armutsstadtteile müssen nun auch noch Tausende Flüchtlinge mit ungesicherter Perspektive verkraften.
Nur: Die kleinen Gewerbe sind dort verschwunden, die Arbeit bieten könnten, der Mittelstand, der noch die meisten Ausbildungsplätze in Deutschland anbietet, stirbt langsam unter dem Druck der Energiepreise und den horrend wachsenden Immobilienpreisen. Wo also soll das Miteinander herkommen, wo Integration Räume haben, in denen die „Ankunft“ zukunftsorientiert gestaltet werden könnte (20)?
Kein Licht am Horizont?
Auch die sogenannte zweite oder dritte Generation, Nachkommen der ab den 1960ern angeworbenen Arbeitskräfte, hatte und hat es schwer, einen adäquaten Platz in der Mehrheitsgesellschaft zu erklettern. Wer hier geboren wurde und hier zur Schule ging, hatte es zwar leichter als jede neu ankommende Gruppe ohne diesen Hintergrund, aber eine Garantie gab es nicht. Noch immer zählen sie wegen eines Vaters oder einer Mutter mit „eigener Einwanderungserfahrung“ zu den „mMHG’s“. Einmal Migrantin, immer Migrantin?
Wenn wir heute vierzigjährige oder ältere Frauen aus diesen Folgegenerationen befragen, so waren große persönliche Anstrengungen der Jugendlichen selbst, von den Familien und empathischen Lehrern oder Ausbildern notwendig, damit sie es in die begehrte Ausbildung und Position schafften, sich als Teilhabende fühlten und es ihnen gelang, endlich Armut und Armutsgefahr hinter sich zu lassen. Und selbst das hat nicht immer geklappt. Besonders türkische Mädchen, die den Satz hören mussten: „Du schaffst es sowieso nicht aufs Gymnasium“, haben sich dann darein geschickt (aus den Archivberichten, siehe Anmerkung 14).
Und jede neue Zuwanderergruppe kämpft mit denselben Unzulänglichkeiten und beginnt wieder von vorne.
Wenn im Durchschnitt die Menschen „mit Migrationshintergrund“, ganz unabhängig von den eigenen mitgebrachten Rahmenbedingungen nach nun fast 75 Jahren Einwanderungserfahrungen in dieser Republik immer noch zu großen Teilen auf den Hinterbänken der Gesellschaft Platz nehmen müssen, dann muss eine strukturelle Diskriminierung vorliegen, die dem ganzen System der Arbeitsbeschaffung und Bereitstellung sozialer Lebensbedingungen ausländischer Arbeitskräfte — seien sie Arbeitsmigranten oder Geflüchtete — zugrunde liegt, so wie es der DPWV 1989 bereits schlussfolgerte: Strukturelle Diskriminierung.
Ausländische Arbeitskräfte sind eben unter unseren kapitalistischen Verhältnissen auch nichts weiter als bewegliche Masse, Variablen im Markt- und Profitsystem.
Die Schwerstarbeit wurde durch digital steuerbare Maschinen ersetzt — der Anwerbestopp wurde ausgerufen; die Pflegekraft wird durch KI ersetzt werden — der bestehende Mangel löst sich auf ... Der Zuzug wird steuerbar, wenn Drittländer schon vor dem Eintritt in die EU Zuwanderungswillige abfangen und nachhause schicken.
Es geht auch anders
Länder wie die Niederlande mit Kolonialerfahrungen und anderen Prinzipien der Integration, oder Israel, dessen Existenz vom Zustrom immer wieder neuer, fremder, aber jüdischer Einwanderer abhängt, gehen anders vor. Die Integration hat Vorrang vor der Nutzung als Arbeitskraft, weil sie integriert höchstwahrscheinlich besser nutzbar wird — so könnte man es beschreiben.
In Israel gibt es eine besondere Institution für die Zuwanderung, die „Jewish Agency“, die vor der Staatsgründung maßgeblich politischer Ansprechpartner für alle Fragen der Zionistischen Bewegung gegenüber der Mandatsmacht England gewesen ist und per Staatsvertrag für Israel nach 1948 mit der Aufgabe der Einwanderung betraut wurde. Die höchst unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Einzelpersonen von überall her werden vom ersten Tag ihrer Ankunft durch die Organisation „Keren Hayesod“ in „Aufnahmezentren“ zusammengebracht. Sprache und Kultur werden sofort vermittelt, damit die Neukommer (Olim) schnellstens „Israeli“ werden.
„Die Unterstützung und Begleitung der Aufnahmezentren der Jewish Agency sind für viele Olim aus aller Welt von wesentlicher Bedeutung. Direkt nach der Ankunft werden die Zentren zum ‚ersten Zuhause‘. Sie sind weitaus mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Hier erhalten die Neuen im Land alle Informationen und Qualifikationen, die sie brauchen, um sich in ihrem Leben in Israel einzurichten und auf eigenen Beinen zu stehen“ (19 ).
In den Niederlanden ist die „Buurt“, das Wohnviertel, die Nachbarschaft, Basis der Stadtentwicklungs- und Integrationspolitik. Neuankömmlinge werden im Buurt Centrum willkommen geheißen, dort werden sofort Sprachkurse und soziale Beratung angeboten.
Unter dem Motto „Bouwen vor de Buurt“ mit hoher Nachbarschaftsbeteiligung und komplexer Beobachtung und Analyse des Zustandes der Wohngebiete werden notwendige Veränderungen eingeleitet, seien das bauliche bei den Wohnungen und dem Umfeld, oder soziale in Bezug auf die sozialen Einrichtungen und Angebote, notwendig gewordene Gewerbeförderung, die Schaffung von Ausbildungsangeboten oder Arbeitsplätzen. Daran sind viele Kräfte beteiligt. Der Prozess der Umsetzung ist kurzfristig auf ein Jahr finanziell gesichert, nach Beratung mit allen Beteiligten einschließlich der Bewohnerschaft über den Erfolg geht es weiter.
Dafür gibt es ein nationales Budget für das „Stedelijk Beheer“ (Stadt Management) Programm. Das Prozesshafte gilt für die Veränderungen ebenso wie für die Überprüfung der Ergebnisse. Erfolge werden in die Netze der Städte übermittelt. Das stetige Beobachten durch Buurt-Manager und ein nationales Monitoring System stellt sicher, dass Schwachstellen und negative Entwicklungen frühzeitig erkannt werden, um neue Maßnahmen zu ergreifen, die dem Ziel dienen „die Stadt als Lebensraum für jedermann zu erhalten“.
Eine zentrale Grundbedingung für dieses Vorgehen ist eine grundlegend immer noch am Gemeinwohl orientierte Boden- und Wohnungspolitik. In den Niederlanden besitzen die Kommunen in den Großstädten bis zu 70 Prozent der Wohnungen (20).
Damit ist allerdings auch in den Niederlanden Rassismus nicht ausgerottet und die Profitorientierung der wirtschaftlichen Verfasstheit des Gesamten nicht ausgehebelt.
Wie also kann es weitergehen?
Ein radikales Umdenken wäre notwendig
Was wir benötigen ist ein ganz anderes Denken über die Stadt und ihre Aufgabe. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf alte Reformer, die fragten „Wem gehört die Stadt?“
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger ist keine „Smart City“, die die Bewohner über „Smartphones“ dirigiert und drangsaliert;
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger ist eine soziale Stadt, keine „Profit City“, kein Fitsch für die Immobilienwirtschaft und reiche Grundbesitzer;
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger hält selbst die Hand auf Grund und Boden und baut darauf neue Sozialwohnungen mit Experimenten für neue Wohnformen in der Gesellschaft, die Singles nicht allein lässt, die Wohngemeinschaften gestaltet sowie im Quartier offene und Kommunikationsräume, Kultur- und Experimentierräume bereithält und schafft;
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger ist „small“ orientiert, Quartiers orientiert und schafft dort bestmögliche Lebensumstände für Alt und Jung, für Erwerbstätige und Müßiggänger;
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger ist grün, gesund und bunt, Fußgänger- und Fahrrad-tauglich, bietet Arbeits- und Ausbildungsplätze und ist bestmöglich versorgungs-orientiert auf der Quartiersebene;
- Eine integrierte Zukunftsstadt der Bürger erhält und verteilt dafür größtmögliche Mittel unter Beteiligung und Kontrolle der Bürger.
Radikaler Umbau heißt damit auch: kein Geld für Kriegsabenteuer, kein Geld für die Rüstungsindustrie, kein Geld für Kontrolle und Zensur. Notwendig ist der (Wieder-) Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, in der jeder Bürger an der Gestaltung seines Quartiers teilnimmt und dabei aktiv werden kann.
„Prendiamo la Citta!“ — Modell Chandigarh — das dürfte wieder angesagt sein (21)!
Namen von Personen in den Beispielen wurden leicht verändert.