Antigone oder Der Ungehorsam
Das klassische griechische Drama des Sophokles erzählt von der Freiheit, das eigene Schicksal auch im Widerspruch zu weltlicher Autorität zu wählen.
Vor dem Hintergrund einer differenzierten Betrachtung des antiken Mythos und dessen literarischer Verarbeitungen entwickelt die Autorin einen Gegenentwurf zu all jenen Glücksvorstellungen, die Freiheit versprechen, in Wahrheit jedoch den emanzipatorischen Raum des eigenen Denkens im Interesse gesellschaftlicher Konformität verengen. Antigone, die das Gesetz missachtet, um sich selbst treu zu bleiben, steht für all jene, die sich den Zweifel nicht verbieten lassen und bereit sind, dafür die Konsequenzen zu tragen. Der Mythos wäre jedoch kein Mythos, würde er nicht auch die Gegenseite zu Wort kommen lassen. In der Konfrontation zwischen Antigone und König Kreon spiegelt sich der zeitlose Konflikt zwischen individuellem Gewissen und Staatsräson, der im Rahmen des griechischen Denkens niemals aufgelöst, sondern immer wieder neu zur Disposition gestellt wird.
Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich.
Sophokles, Antigone
Antigone, Tochter des Ödipus und der Iokaste, kann es nicht hinnehmen, dass ihr Onkel, König Kreon, beschlossen hat, an ihrem Bruder Polyneikes ein Exempel zu statuieren: Vor den Stadttoren Thebens soll sein Leichnam unbegraben vor aller Augen verwesen. Auf denjenigen, der seinem Befehl zuwiderhandeln sollte, wartet die Todesstrafe. Dieser Drohung zum Trotz geht Antigone heimlich zu Polyneikes, um ihn mit Erde zu bedecken, so wie die Tradition es will.
Der klassische Konflikt zwischen dem Gewissen des Einzelnen und der Staatsräson ist ein Topos, mit dem man sich seit der Antike umso intensiver beschäftigt hat, als er keine abschließende Antwort zulässt. Wer hat am Ende recht? Derjenige, der ungeachtet der Konsequenzen seiner inneren Stimme folgt, oder derjenige, der als Repräsentant des Staates die Verantwortung für das Gemeinwesen trägt?
Im fünften Jahrhundert vor Christus greift der Tragödiendichter Sophokles aus Mythen und Überlieferungen seiner Heimat die Figur der Antigone heraus und entwickelt aus ihr ein Stück, dessen Wirkungen bis in die Gegenwart hinein andauern. In unzähligen Adaptionen hat der reflektierte Ungehorsam der antiken Prinzessin Schriftsteller und Philosophen dazu angeregt, den Ur-Konflikt zwischen individueller Freiheit und staatlicher Autorität zu thematisieren.
Die erste deutsche Übersetzung geht auf den Barockdichter Martin Opitz zurück, zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Friedrich Hölderlin eine Übertragung angefertigt, die trotz ihrer schwierigen Sprache bis heute maßgeblich geblieben ist. In seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 ist Georg Wilhelm Friedrich Hegel aus Sicht des Staatsphilosophen ausführlich auf den Antigone-Stoff eingegangen, und im 20. Jahrhundert haben sich so unterschiedliche Persönlichkeiten wie die Philosophin Simone Weil, die Schriftstellerin Marguerite Yourcenar und der Dramatiker Jean Anouilh mit ihm beschäftigt. Zuletzt schrieb 2015 der bekannte slowenische Philosoph Slavoj Žižek sein Stück "Die drei Leben der Antigone".
Innere Notwendigkeit versus Zeitgeist
Die unkalkulierbare Wirkkraft von Mythen und Märchen verdankt sich den archetypischen Konstellationen, die in ihnen immer neu in Szene gesetzt werden, und in denen Menschen aller Nationen und Epochen sich in ihrer Vielschichtigkeit und Unergründbarkeit erfahren. Im Gegensatz zu Werken, deren Urheber klar zu benennen sind, können sie keine direkte Autorschaft für sich beanspruchen. Aus ihnen sprechen nämlich die Stimmen aller Menschen, und sie gehören folglich jedem, der sich auf seiner Suche nach der komplexen Natur des Seins nicht mit dem begnügen möchte, was ihm der Zeitgeist an Vorläufigem gerade anzubieten hat. In diesem Sinne kann man die unterschiedlichen Bearbeitungen der großen Mythen der Menschheitsgeschichte nicht als richtig oder falsch qualifizieren, sondern sie sind vielmehr individuelle Verlebendigungen der psychischen Materie, die eigentlich erst in der Rückschau jene innere Folgerichtigkeit erkennen lassen, für welche die Antike das Wort Schicksal geprägt hat.
Moiren werden die drei Göttinnen genannt, die dem Menschen bei seiner Geburt den Lebensweg weissagen. Wer sich gegen sie auflehnt, wird unterliegen; das ist von vorneherein klar. Aus dunkler Vorbestimmung einerseits und persönlichem Freiheitsdrang andererseits entspringen also eine Reihe archetypischer Konflikte, deren mögliche Konstellationen und Handlungsmuster unendlich variieren.
Mythos oder Machbarkeit?
Dem vorplatonischen Denken galt derjenige als idealer Mensch, der sein Schicksal — wie immer grausam oder ungerecht es auch erscheinen mochte — am vollkommensten erfüllte. Was als gut und recht angesehen wurde, war nicht die freie Selbstverwirklichung, sondern die bedingungslose Hingabe an die unergründlichen Ratschlüsse transzendenter Mächte. Keine Vorstellung könnte dem heutigen Denken ferner liegen.
In einer Lebenswelt, in der dem Menschen permanent suggeriert wird, er könne alles aus sich machen, ja neuerdings sogar nach Belieben aus seinem biologischen Geschlecht heraus in ein anderes treten, kann das Prinzip der Vorherbestimmung eigentlich nur als Relikt aus vorvergangenen Zeiten erscheinen. Als überflüssiges Bildungsgut, dessen man sich am besten so schnell wie möglich entledigt, um die Idee, selbst Herr über die eigenen und die Geschicke der Welt zu sein, unter keinen Umständen in Frage stellen zu müssen.
Die neue Zeit, welche den Wert des Menschen maßgeblich danach bemisst, wie viel Profit aus ihm herauszuschlagen ist, möchte den Mythos hinter sich lassen; der aber will einfach nicht weichen und manifestiert sich allen Verboten zum Trotz als scheinbar irrationales Handlungsmuster oder urplötzliches Aufscheinen einer tiefen inneren Wahrheit.
In der Zeitlosigkeit mythischen Geschehens ist Antigone, deren Name soviel bedeutet wie "die im Widerspruch Geborene", eine von uns: ein Mensch auf der Suche nach seiner tieferen Bestimmung. Nach jener Tür, die, wie in Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz", für keinen anderen bestimmt ist als für ihn allein.
Vielfältig sind die Perspektiven, unter denen sich Antigones Geschichte in alle möglichen Richtungen verzweigt. Die Kernfrage nach Herrschaft und Gefolgschaft birgt Teilaspekte in sich, in denen weltliche und spirituelle Werte grundsätzlich zur Diskussion gestellt werden. So will Kreon den toten Polyneikes dazu benutzen, seine Macht zu befestigen, obwohl er weiß, dass er sich durch das Verbot, ihn beerdigen zu lassen, wie die Tradition es will, gegen die Götter vergeht. Da man im antiken Griechenland davon ausging, dass die Verstorbenen ihre Ruhe nur dann finden können, wenn man ihnen zuvor durch Begräbnisrituale die letzte Ehre erwiesen hatte, galt die Bestattung der Toten als allerhöchste Pflicht ihrer Angehörigen.
Antigone, die das Gesetz der Götter über die des Königs stellt, ist in der Tragödie des Sophokles eindeutig die positive Heldin, deren moralische Überlegenheit Kreon am Ende anerkennen muss: "Denn alle Schiefe hat/ Hier in den Händen und hier mir auf das Haupt/ Ein wüst Schicksal gehäufet. So lautet seine traurige Lebensbilanz in der Hölderlin’schen Übersetzung".
Entscheidung für die eigene Bestimmung
Indem Kreon sein Schicksal beklagt, erkennt er es zugleich an, und, indem er es anerkennt, findet er auf tragische Weise zu sich selbst. Ebenso wenig wie Antigone ist es ihm möglich, anders zu handeln, als er handeln muss. Stärker als die Willensfreiheit des Menschen erweist sich in der griechischen Tragödie die eherne Ordnung der Götterwelt, die den Protagonisten keine andere Wahl lässt, als ganz und gar in die ihnen vorherbestimmten Rollen zu treten.
In der Adaption des französischen Dramatikers Jean Anouilh spricht Antigone gleich zu Beginn den ungeheuren Satz: "Ich muss nein sagen und sterben", der deutlich macht, dass es weniger um ihre Tat selbst geht, als um das auf den ersten Blick paradox anmutende Gebot, einer übergeordneten Macht gehorchen zu müssen, um zu sich selbst zu gelangen.
Das Angebot des Königs, ihres Onkels, sie zu erretten, weist sie zurück, ebenso wie die niederländische Schriftstellerin Etty Hillesum — auf Manova erschien unlängst ein ihr gewidmeter Artikel — den Vorschlag ihrer Freunde ablehnte, sie angesichts der drohenden Deportation durch die Nazis zu verstecken. Die Widerstandskämpferin Sophie Scholl erteilte dem Versuch ihres Vernehmers, ihr unter Auflagen das Leben zu retten, eine klare Absage, und die Dichterin Gertrud Kolmar hatte ihren Weg als Jüdin im Nationalsozialsozialismus gedanklich bereits soweit antizipiert, dass sie ihn in gewisser Weise als überwunden betrachten konnte, als man sie schließlich im Rahmen der sogenannten Fabrikaktion von ihrem (Zwangs)arbeitsplatz in einem Rüstungsbetrieb direkt nach Auschwitz deportierte.
Dies sind nur einige wenige hochdramatische Beispiele, und selbstverständlich impliziert die Vorstellung, sich der eigenen Bestimmung bewusst zu werden, nicht notwendigerweise eine fatale Wendung. Woran uns die antiken Moiren allerdings auch heute noch erinnern, ist eine gewisse Dunkelheit und Schwere des Menschseins im Sinne des kosmischen Anthropos, wie ihn der Philosoph Jochen Kirchhoff in seinem Werk herausgearbeitet hat und wie man ihn etwa in den Statuen Alberto Giacomettis versinnbildlicht finden kann, die mit ihren riesigen Füßen an die Erde gebunden sind, während ihre übermäßig gelängten Körper unaufhaltsam in die Höhe zu streben scheinen.
Antigone oder Die Verweigerung des konformen Glücks
Angesichts eines zunehmenden gesellschaftlichen Konformitätsdrucks, der, je stärker er sich durchsetzt, desto weniger überhaupt als solcher noch erkennbar ist, steht Antigone, "die im Widerspruch Geborene" für all diejenigen, die sich mit der bunten Kollektion nahezu identischer Lebensentwürfe, die dem homo consumens die freie Wahl der Glücksversprechen vorgaukelt, nicht begnügen möchten.
Selbstverwirklichung im Sinne des Delphischen Orakelspruchs Werde, der du bist bestünde demnach nicht in dem unweigerlich krank machenden Versuch, sich selbst effizient und gesellschaftskonform zu optimieren, sondern gerade darin, sein Wesen in größeren Zusammenhängen und weiteren Kreisen frei zu ergründen.
Dabei kann es manchmal schon genügen, wie Melvilles Bartleby, the scrivener auf einem "I would prefer not to" zu beharren. Ein klares nein, wo alle anderen ja sagen, könnte durchaus der erste Schritt in eine Richtung sein, deren Ziel eben nicht bereits an der Startlinie festgelegt ist.