Anleitung zum Systemwechsel
So wie es ist, kann es nicht bleiben — eine Überlegung zum Ausstieg aus dem Kapitalismus und zum Beginn von etwas Neuem. Teil 1/3.
Interessen sind stärker als Ideen. Es gibt viele gute Konzepte für eine andere Welt jenseits des Kapitalismus. Was es aber nicht gibt, ist ein Plan zur Durchsetzung dieser Ideen. Denn einflussreiche Kräfte stellen sich dem entgegen, was ganz offensichtlich für die überwältigende Mehrheit der Menschen das Beste wäre. Die Frage ist, was sich aus den bisherigen Erfahrungen politischer Parteien, sozialer Bewegungen und aus dem politischen Engagement von Menschen lernen lässt und wie daraus ein Plan für den Ausstieg aus dem Kapitalismus abgeleitet werden kann. Der Autor gibt zunächst einen Überblick über meist wenig erfolgreiche Umgestaltungsversuche der Vergangenheit. Er stellt dann die Frage: Woran hat es gehakt und was können wir in Zukunft besser machen?
Politisches Engagement außerhalb des etablierten und institutionalisierten Betriebs führt immer wieder auch zu der Frage, wie man durchsetzungsvoller agieren kann beziehungsweise wie man überhaupt Wirkung entfalten kann. Manchmal fühlt man sich dabei geradezu ohnmächtig gegenüber einem riesigen staatlichen Apparat, gegenüber milliardenschweren Konzernen, den durchdringenden Massenmedien oder einfach nur gegenüber dem, was alle sagen, meinen und machen.
Die Frage, die in dieser Hinsicht am weitesten reicht und vermutlich am schwierigsten zu beantworten ist, ist die Frage nach einem Systemwechsel. In Bezug auf diese letzte Frage bringen Daniela Dahn und Rainer Mausfeld die Sache auf den Punkt: Es mangele nicht an guten Ideen für eine bessere Welt, sondern es fehle ein Plan zu deren Durchsetzung (1). Das stimmt. Es ist Zeit, über einen solchen Plan nachzudenken.Wir beginnen mit einer Bestandsaufnahme.
Die Antwort des Altmeisters
Wie erreicht man die Menschen? Wie entfaltet man Wirkung? Noam Chomsky wird das immer wieder auf die eine oder andere Weise gefragt. Der emeritierte Professor für Linguistik, langjährige Mitarbeiter am renommierten Massachusetts Institute of Technology, politische Aktivist, Autor zahlreicher Bücher und scharfe Kritiker US-amerikanischer Politik und Außenpolitik ist auch nicht irgendwer. Die New York Times, die auch nicht irgendeine Zeitung ist, bezeichnete ihn einst als einen der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Dieser Ritterschlag aus dem Herzen der etablierten Medienwelt, die regelmäßig selbst Chomskys Kritik ausgesetzt ist, fehlt selten in einer Vorstellung dieses so umtriebigen und produktiven Charakters.
Die Frage variiert. Mal ist es die Frage danach, wie man bei einem bestimmten Anliegen, für das man sich engagiert, Erfolg haben kann, dann wie man Einfluss auf die großen politischen Entscheidungen nimmt und eben auch wie man alles ändert und den Kapitalismus überwinden kann. Chomskys Antwort ist, je nach der Fragestellung, spezifisch, aber im Grunde antwortet er immer gleich beziehungsweise lassen sich seine Antworten zu einer einzigen zusammenfassen.
In der Einführung zu Chomskys Buch „Rebellion oder Untergang!“ schildern die Herausgeber Charles Derber, Suren Moodliar und Paul Shannon eine sogenannte typische Chomsky-Veranstaltung als eine breit angelegte, öffentliche Vorlesung und Konversation (2), in der Chomsky stets in einen Austausch mit seinem Publikum kommt. Bei jeder Chomsky-Veranstaltung, so die Herausgeber, tauche diese Frage wiederholt auf (3).
Beides ist bemerkenswert: sowohl die sich wiederholende Frage als auch die gleichbleibende Antwort. Die Frage selbst ist dabei wenig überraschend, sondern im Gegenteil so drängend wie naheliegend. Natürlich will man angesichts existenzieller Probleme wissen, was zu tun ist und wie man möglichst wirkungsvoll agiert und viele Menschen erreicht. Die Antwort, so wie Chomsky sie gibt, ist bei genauerer Betrachtung ebenfalls naheliegend. Gleichzeitig ist sie unbefriedigend, und das vor allem, weil sie nie auch den Weg offenbart, wie man wirklich letztlich dahin kommt, wohin der Weg führen soll: in eine bessere, friedliche Welt. Die Antwort bleibt an dieser Stelle unklar, und die Frage bleibt unbeantwortet im Raum stehen — und wird vermutlich auch deswegen stets wiederholt gestellt.
Chomskys Antwort ist nachvollziehbar und sicher auch nicht falsch. Es ist eine gute Antwort, die man sich bewusst machen sollte, wenn man sich engagiert und politische oder gesellschaftliche Veränderungen erreichen will. Sie soll hier kurz skizziert werden: Chomsky sagt, dass man zunächst aus seiner Isolation heraus muss, das heißt, man muss sich mit Gleichgesinnten zusammentun, um sich dann zu engagieren. Dann muss man Aufklärung betreiben — immer und immer wieder.
Man muss den Menschen die Fakten darlegen und ihnen die Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Wenn man viele Menschen erreicht und sich eine kritische Masse bildet, kann man Druck auf die Entscheidungsträger ausüben und so Veränderungen durchsetzen.
Das, so Chomsky, sei der Weg, und dieser habe in der Vergangenheit auch wiederholt funktioniert. Veränderungen seien möglich. Es brauche einen langen Atem und kontinuierliche Arbeit an der Basis. Darüber hinaus müsse man sich mit anderen auch auf einer internationalen Ebene vernetzen, denn die großen Herausforderungen seien mittlerweile globaler Natur und könnten nur gemeinsam in internationaler Kooperation angegangen werden. Die unmittelbaren Probleme könnten zudem nur innerhalb der bestehenden Institutionen angegangen werden, da die Bedingungen für weitreichende institutionelle Veränderungen noch nicht gegeben seien, obwohl die Keime einer solchen Entwicklung tatsächlich schon da seien (4).
So weit, so gut, könnte man bis hierhin sagen. Chomskys Analyse und Antwort sind treffend. Gleichzeitig sind sie nüchtern, und es bleibt das Gefühl der eigenen Ohnmacht, ob der Größe der vor einem liegenden Aufgaben. Was fast gänzlich fehlt, ist ein systematischer Ausweg, also die Perspektive, wie man das ganze System — den Kapitalismus im weitesten Sinne — überwinden kann. Die Antwort vermittelt zu wenig Hoffnung und bleibt unbefriedigend. Es braucht eine bessere und weiterführende Antwort — vielleicht eben auch einen Plan.
Interessen gegen Ideen
Zu unterscheiden ist vielleicht noch einmal, worum es geht oder gehen könnte. Dahn und Mausfeld erinnern uns daran, dass es viele gut durchdachte Ideen gibt. Als Beispiele nennen sie die Gemeinwohlökonomie, Ideen zum Klimaschutz, zur Umverteilung von Reichtum, zu einem neuen Geldsystem, neuen Formen von Demokratie oder eine soziale Bildungsoffensive. Diese Liste ließe sich ergänzen um das Grundeinkommen, die Verteilung der Arbeit und die Arbeitszeitverkürzung, Ideen vom Gemeingut oder Commons, eine sozialökologische Verkehrswende oder lokale Kreislaufwirtschaften.
Diese Ideen sind alle nicht schlecht und können auch zusammengedacht werden. Sie sind aber noch zu unterscheiden von der Idee, das gesamte kapitalistische System zu überwinden und eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf diesem Planeten zu schaffen. Für beides — die vielen „kleinen“ Ideen und die Idee, alles zu ändern — fehlt ein Plan zur Durchsetzung.
Warum aber, wenn die Ideen doch so gut sind, werden sie auf der politischen Ebene nicht aufgegriffen und verfolgt? Die Vorstellung, dass es nur um Ideen geht und sich die bestmögliche durchsetzen wird, eben weil sie die bestmögliche ist, ist naiv. Es geht nicht um Ideen, sondern um Interessen. Und dieser Unterschied ist fundamental.
Chomsky liefert dafür ein anschauliches und — mit Blick auf den Zustand der Welt im 21. Jahrhundert — nicht ganz unwesentliches Beispiel (5). Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatten die US-amerikanischen Verantwortlichen erkannt, dass eine dauerhafte staatliche Stimulanz und Intervention des Staates in den Wirtschaftskreislauf höchst förderlich ist, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Die Frage, die sich nach dem Ende des Krieges stellte, war nur, wohin dieser dauerhafte Mittelzufluss von staatlicher Seite gerichtet sein sollte: in den militärischen oder in den sozialen Bereich. Die Entscheidung stand schnell fest. Die Strukturen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in den USA gebildet hatten und die der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills in seinem fast zeitlosen Werk „Die amerikanische Elite“ so eindringlich beschreibt (6), beherrschten die Politik und gaben die Richtung vor. Es ist diese Struktur, die später vom scheidenden US-Präsidenten Eisenhower als militärisch-industrieller Komplex bezeichnet worden ist, welche sich für die militärische Linie entschieden hat.
Vor die Frage gestellt, ob man staatliche Mittel besser in Panzer, Flugzeuge, Raketen und die militärische Forschung oder in Schulen, Krankenhäuser und eine öffentliche Verkehrsinfrastruktur lenken sollte, würden sich fast alle Menschen für den sozialen Bereich entscheiden.
An dieser Entscheidung dürfte auch der aktuelle Krieg in der Ukraine nichts ändern, wenn er nicht durch die massenmediale, blickdichte Brille, sondern historisch, geopolitisch und aus einer neutralen Position heraus betrachtet würde. Es hilft auch nichts, den Entscheidern zu sagen, dass es die Welt besser machen würde, wenn man öffentliche Gelder für soziale und menschliche Zwecke ausgeben würde, anstatt Rüstungsgüter zu kaufen, dass also diese erste Idee „besser“ ist. Man hat sich bewusst anders entschieden und das im Zweiten Weltkrieg entstandene System einfach fortgesetzt.
Die Interessen der Herrschenden überwiegen
Und genauso wie damals ist es müßig, die Diskussion zu führen, was besser wäre, denn die Interessenlage gibt die Richtung vor. Im Übrigen warnte Mills nicht nur deutlich vor dem gestiegenen Machtzuwachs und Einfluss des Militärs, sondern auch vor dem Erstarken der Konzerne und dem Weg der modernen Gesellschaften in die Massengesellschaft. Mills meinte — bereits vor über 60 Jahren — hinsichtlich der Macht der Konzerne, dass es keine Macht gebe, „die wirksam und auf die Dauer gegen sie aufkommen kann“ (7). Am Ende des Weges der Massengesellschaft, so Mills, liege der „Totalitarismus wie im nationalsozialistischen Deutschland und im kommunistischen Rußland“ (8).
Die Macht der Konzerne ist seit den Zeiten von Mills nicht geringer geworden, und in den modernen Staaten des Westens wird der chinesische Autoritarismus und die dortige Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung teilweise weniger kritisch, sondern eher als etwas betrachtet, von dem man lernen kann. Die Technokratie als systemischer Zwang ist Ausdruck eines zunehmenden staatlichen Autoritarismus. Uniforme Meinungen und die Unterdrückung anderweitiger Meinungen sind ein weiteres Kennzeichen autoritärer und totalitärer Staaten. In vielen Ländern, und nicht zuletzt den europäischen, fällt es nicht schwer, in den Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit, etwa der letzten 20 Jahre, eine solche Richtung zu erkennen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die vielen guten Ideen zwar alle in Richtung einer besseren Welt gehen, dass sie aber nicht im Interesse derjenigen liegen, die Macht haben.
Es ist im Grunde also ganz simpel und dann wieder doch nicht so ganz einfach, weil die Welt zu komplex ist, um fundamentale Dinge einfach zu ändern. Das gilt auch für den Weg über diejenigen, die am ehesten etwas tun könnten. Man wird die Machtelite — wie immer man diese Gruppe auch begreift — nicht als Gesamtheit erreichen. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass dies gelänge, erforderten fundamentale Änderungen eine Kooperation auf internationaler Ebene, die im Widerspruch zum auf Konkurrenz und Wettbewerb basierenden politisch-ökonomischen System steht.
Das Spannungsverhältnis zwischen Ideen und Interessen hatten auch Keynes und von Hayek als zentralen Punkt ins Auge gefasst und ihre Überzeugung geäußert, dass es letztlich die Ideen sind, die sich gegenüber den Interessen durchsetzen. Bei dieser Überlegung, die zunächst auch nicht mehr als eine solche und eben nicht zweifelsfrei bewiesen ist, sind Variablen im Spiel. Um welche Ideen geht es und um welche Interessen? Die Feststellung, dass sich nicht jede Idee gegen jedes Interesse durchsetzen wird, ist banal. Und wenn es bei den Ideen nur um ökonomische Theorien geht, dann ist das noch etwas anderes als Ideen von einer anderen Art von Gesellschaft.
Gerade der von Hayek vertretene Neoliberalismus hatte es, als er benötigt wurde, nicht wirklich schwer, in einschlägigen elitären Kreisen angenommen und als Ideologie vor sich hergetragen zu werden. Mit der Idee von einer klassenlosen Gesellschaft wird man in den Palästen weniger offene Türen einrennen. Diese ist eher attraktiv für diejenigen, die die Paläste allenfalls von außen kennen. Zu fragen ist, mit welcher Macht die Interessen verbunden sind und mit welcher Wirkmächtigkeit die Ideen dieser Macht entgegentreten können. Die Frage der Macht spielt bei der Durchsetzung von Interessen eine zentrale Rolle und kann nicht außer Acht gelassen werden.
Ein Kosmos von Alternativen
Neben den Ideen steht die Praxis. Wie schaut es aus mit den vielen kleinen und größeren Initiativen, Projekten und gelebten Alternativen, die, teilweise verwoben mit den Ideen, versucht worden sind oder die bereits heute existieren und gewissermaßen als Keimzellen des Neuen betrachtet werden können? Welchen Beitrag leisten sie, und was können sie leisten? Sind sie unabdingbar und der Schlüssel auf dem Weg zu einer neuen Welt, oder sind sie als kleine Inseln in der rauen und sturmgepeitschten kapitalistischen See zum Untergang verdammt und bald darauf wieder vergessen?
Ein sehr unvollständiges, oberflächliches und gleichzeitig weit gefasstes Bild könnte gezeichnet werden, indem man sowohl politisch-soziale Kämpfe, alternative Gesellschaftsformen, Versuche, anders zu wirtschaften, und einzelne Ideen, die sowohl systemimmanent sein als auch im Widerspruch zum Kapitalismus stehen können, gemeinsam betrachtet und als Sammlung von Versatzstücken nebeneinander stellt. Ein solches blitzlichtartiges Spektrum soll hier in der allerknappsten Form als Aufzählung genügen. Es ist kein Ersatz für eine umfangreichere und detaillierte Betrachtung, die zu unternehmen wäre.
Spannte man den Bogen sehr weit, könnte man dafür im antiken Griechenland und bei der attischen Demokratie beginnen. In jedem Fall ließen sich in eine solche Betrachtung die Commons, also die gemeinsame Nutzung von Wald- und Weideland in England, aufnehmen. Daneben könnte, als Beispiel für den Versuch, eine egalitäre Gesellschaft zu schaffen, die Pariser Kommune stehen oder die anarchistische Bewegung in Spanien, die ihren Höhepunkt und Niedergang in den 1930er-Jahren erlebte. Auch den aktuellen Befreiungsbewegungen in Chiapas in Mexiko oder in Rojava in Syrien geht es um Autonomie. Bei beiden werden eine basisdemokratische Organisation und die Gleichheit der Geschlechter betont.
Im Kosmos alternativer Lebenswelten könnten wir, wenn wir unsere Reise durch Raum und Zeit fortsetzen, auf kleinste, punktuelle Versuche stoßen, eine Gesellschaft nach anarchistischen Prinzipien zu organisieren. Wir würden unter anderem fündig im andalusischen Dorf Marinaleda oder in der Freistadt Christiania in Kopenhagen. In der dänischen Hauptstadt finden wir aber noch viel mehr, wenn wir einen Blick in eine mögliche Zukunft werfen wollen. Kopenhagen gilt als eine der fahrradfreundlichsten Städte weltweit und will als erste Stadt — ebenfalls weltweit — im Jahr 2025 CO2-neutral sein.
Nachhaltige Energieerzeugung und Dezentralität führen uns zu den Initiativen, die die Energieversorgung in Bürgerhand legen, und zu Energiegenossenschaften. Bei Genossenschaften fallen uns als Erstes selbstverwaltete Wohnungsbaugenossenschaften ein und dann die spanische Genossenschaft Mondragón, die zugleich ein Konzern und das siebtgrößte Unternehmen Spaniens ist und die weniger nach kapitalistischen Prinzipien agiert, sondern die Interessen ihrer Arbeitnehmer in den Vordergrund stellt.
Andere Formen von Arbeit
Anders wirtschaften lässt sich aber nicht nur in der Form der Genossenschaft. Kollektivbetriebe bilden eine Möglichkeit, bewusst anders zu arbeiten — nicht losgelöst vom Kapitalismus, aber eben nicht mit dem Blick auf den Profit, sondern ökologisch, solidarisch und sozial. Hier ist fast alles denkbar und vorhanden: der Handwerksbetrieb, die Fahrradwerkstatt, das Café und die Kneipe, die Einkaufsgenossenschaft, der Landwirtschaftsbetrieb, der Verlag, die Druckerei und der Buchhandel. Und auch in den Bereichen Bildung, Beratung und IT finden sich Beispiele. Das für sich genommen ist schon eine spannende Entwicklung. Noch spannender wird es, wenn daraus Netzwerke entstehen. Und noch einen Schritt weiter gedacht, könnten daraus auch größere Strukturen nicht unähnlich der bereits erwähnten spanischen Genossenschaft entstehen. Das könnte sogar der Pfad zu einer anderen Ökonomie sein.
Anders arbeitet man auch, wenn man insgesamt weniger arbeitet, dabei die Arbeit verteilt und niemanden ausschließt.
Während hierzulande einzelne Betriebe ihre Arbeitszeit kollektiv senken, setzt Island nach einer mehrjährigen Experimentierphase seit dem Jahr 2021 als komplettes Land auf eine Vier-Tage-Woche bei einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden — natürlich ohne Lohnverlust. Vorbildlich ist auch das kleine österreichische Dorf Marienthal, das ohne zusätzliche Kosten für den Staat die Langzeitarbeitslosigkeit durch eine Garantie auf einen Arbeitsplatz beseitigt hat. Die ehemals von Arbeitslosigkeit Betroffenen haben damit ein besseres finanzielles Auskommen, können an der Gesellschaft teilhaben und leisten einen sinnvollen Beitrag für die Gemeinschaft. Die Stimulierung der lokalen Ökonomie ist ein weiterer Pluspunkt.
Ganz ohne Arbeit kann es funktionieren, wenn man auf ein bedingungsloses Grundeinkommen setzt. Natürlich — wieder gedacht an eine Ökonomie als Ganzes — auf Dauer nicht ohne Arbeit und eine Tätigkeit der Menschen, aber eben ohne den Zwang und mit einer Garantie der grundlegenden Bedürfnisse. Immer wieder werden hierzu lokale Experimente gestartet.
Was eine alternative Gesellschaft auch wertvoll machte, wären unabhängige Medien. Die vollständige finanzielle Unabhängigkeit ist das Mindeste, was gelten müsste. Es bräuchte aber noch mehr.
Wenn die Medien, unabhängig von ihrer Finanzierung, dennoch zu oft unkritisches Sprachrohr als aufklärerisch tätig wären, dann wäre nicht viel gewonnen. Wenn die Massenmedien nicht viel mehr tun, als die Gedanken der Herrschenden zu den herrschenden Gedanken zu machen, dann werden alternative Möglichkeiten der Vermittlung benötigt.
In jedem Fall sind unabhängige Medien — so gedacht — ein wesentlicher Baustein auf dem Weg in eine andere Welt. Entsprechend positiv ist hier die Entwicklung der letzten Jahre im Bereich alternativer, überwiegend digitaler, medialer Angebote zu bewerten.
Manches aus der Praxis ist gescheitert, wurde gewaltsam bekämpft oder hat sich in eine ganz andere Richtung entwickelt als gedacht und erhofft. Und es ist auch nicht alles so schön und glänzend, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheint. Aber auch die negativen Erfahrungen sind Erfahrungen und Dinge, aus denen man lernen kann. Das Umsetzen und das Machen sind wichtig, denn es sind diese Erfahrungen, die zeigen, was geht, was gut ist, was funktionieren kann und was auch nicht geht. Es sind die Keimzellen, ohne die es nicht geht. Sie alleine aber werden nicht reichen. Wir kommen darauf zurück, wenn wir über die Verbindung von Ideen mit der Praxis, über mögliche Pläne und über wahrscheinliche Widerstände nachdenken.
Soziale Bewegungen und Protest
Zu einer Bestandsaufnahme gehören neben den Ideen und den Beispielen aus der Praxis die sozialen Bewegungen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich punktuell oder spezifisch engagieren und die in einer wechselseitigen Beziehung zu den Ideen und den Praxisbeispielen stehen. Die jüngere Vergangenheit hat eine Reihe größerer Protestbewegungen hervorgebracht, die national, regional und manchmal auch global die Menschen mobilisieren konnten.
Es ist elf Jahre her, als im Zuge der weltweiten Finanzkrise, die in den Jahren 2007 und 2008 ihren Ausgang nahm, eine Protestwelle rund um die Welt ging. In Spanien besetzen die Indignados die öffentlichen Plätze, während Occupy Wall Street namensgebend für eine gesamte globale Bewegung wurde, die den öffentlichen Raum einnahm und die Plätze besetzte. Zeitgleich erhoben sich die Menschen in den nordafrikanischen Staaten im Nahen und Mittleren Osten.
Während in Letzteren autoritäre Herrscher, die teilweise jahrzehntelang geherrscht hatten, hinweggefegt, Regierungen neu gebildet und weitreichende Zugeständnisse an die Menschen gemacht wurden, protestierten die Menschen auf den Plätzen im Westen gegen ein ausuferndes und sich selbst bereicherndes Finanzsystem. Die Proteste in den südlichen Ländern Europas, allen voran in Griechenland, setzten sich durch die anschließende Eurokrise noch über Jahre fort.
Die Occupy-Bewegung, die trotz ihrer Radikalität und Systemkritik viel Zuspruch aus der Bevölkerung erhielt, weil man übereinstimmend im Finanzsystem den Übeltäter erkannte, stach gleichzeitig dadurch hervor, dass sie keine Forderungen erhob. Somit blieb weitestgehend unklar, wofür die Bewegung eigentlich stand.
So umfangreich die politischen Erhebungen und sozialen Bewegungen, die im Jahr 2011 begonnen hatten, auch ausgefallen waren, so ernüchternd fällt die politische Bilanz sowohl für den nordafrikanisch-arabischen Raum als auch für die westlichen Staaten aus.
In Libyen ist nach der Invasion eines westlichen Bündnisses ein zerrütteter „Failed State“ übrig geblieben, während in Ägypten das Militär unter schweigender Zustimmung des Westens die gewählte Regierung wegputschte und erneut ein unterdrückerisches Regime installierte.
In Syrien brach ein Bürgerkrieg aus, der fast zehn Jahre dauerte und das Land verwüstete. Die Proteste im Westen verhallten hingegen, ohne eine spürbare Wirkung zu zeigen. Als letzte Überbleibsel fanden sich vereinzelte Camps, die auch in deutschen Städten Durchhaltevermögen bewiesen.
Die anschließende Regulierung des Banken- und Finanzsektors kann als politische Reaktion der Staaten betrachtet werden, die auch ohne das Zutun der Protestbewegungen erfolgt wäre. Die durch die Eurokrise in den am schwersten betroffenen Ländern — vor allem in Griechenland — exerzierte Politik, die von der sogenannten Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds vorangetrieben wurde, war das Gegenteil dessen, wofür die Menschen ihren Protest so vehement auf die Straße getragen hatten. Es war zudem ein Versagen der politischen Linken in Europa.
Fast fließend kam der Übergang zur Durchsetzung einer Reihe von Freihandelsabkommen, die Konzerninteressen über die Souveränität von Staaten stellen sollten. Das Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) zwischen den USA und der EU war das prominenteste Beispiel dieser multinationalen Vertragswerke.
Die Verhandlungen, die im Jahr 2013 ihren Ausgang nahmen, wurden lange durch anhaltende Proteste auf beiden Seiten des Atlantiks begleitet. Kritisiert wurden die Intransparenz, die einseitige Berücksichtigung und Beteiligung von Konzern- und Wirtschaftsvertretern und die privaten Schiedsgerichte, die mit am deutlichsten den Charakter der Vereinbarungen offenbarten. Es waren nicht die starken Protestbewegungen, die dem TTIP letztlich den Wind aus den Segeln nahmen, sondern der Wille des neuen US-Präsidenten Donald Trump — eine der befremdlichsten Personen, die je das höchste Amt im mächtigsten Staat der Erde bekleidet hatte.
Von Occupy und TTIP zu Fridays for Future und Corona
Wenig später betrat die junge schwedische Schülerin Greta Thunberg die politische Bühne und initiierte die weltweite Bewegung Fridays for Future, die sich für den Klimaschutz und die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels aus dem Pariser Weltklimaabkommen engagierte. Millionen meist junger Menschen gingen dafür regelmäßig auf die Straße, bestreikten die Schule und forderten deutliche Maßnahmen für den Erhalt der Biosphäre. Auch diese Bewegung konnte auf einen großen Rückhalt in der Bevölkerung bauen. Eltern, Lehrer und Wissenschaftler engagierten sich in eigenen Gruppen und unterstützten die Bewegung. Trotz des starken Protests blieben die Maßnahmen der politisch Verantwortlichen weit hinter den Forderungen zurück.
In Deutschland profitierte die Partei Bündnis 90/Die Grünen am deutlichsten bei der Bundestagswahl von diesem neuen Geist. Eine Reihe neuer, junger Abgeordneter schaffte den Sprung ins Parlament. Kaum dort angekommen, brach Anfang 2022 der Krieg in der Ukraine aus. Die ehemals pazifistischen Grünen, deren Aushängeschild stets der Umweltschutz gewesen war, mutierten zu den vehementesten Verfechtern von Sanktionen, Waffenlieferungen und Hochrüstung und traten schon alleine mit dieser Entscheidung den Klimaschutz mit Füßen.
Der selbst auferlegte Boykott russischer Energieträger, der sein erklärtes Ziel verfehlt, ist politisch verantwortungslos und lässt die ehemals für den Umweltschutz stehenden Grünen eine Rolle rückwärts zu Atomenergie und Kohlekraftwerken vollführen.
Die Klimabewegung als Ganzes ist sicher nicht von der Bildfläche verschwunden und sie wird, auch wenn Fridays for Future sich voraussichtlich kaum dauerhaft als treibende Kraft halten kann, weiter an Zuwachs gewinnen. Der Krieg in der Ukraine liegt nicht in der Verantwortung der Klimabewegung. Gleichzeitig ist er eine Zäsur für den Schutz unserer Biosphäre und alleine in dieser Hinsicht ein Rückschlag, wie er schlimmer kaum sein könnte.
Fast parallel zu Fridays for Future zog das Coronavirus um die Welt. Die zunehmend autoritären und unverhältnismäßigen politischen Maßnahmen, die auf Basis einer unklaren Faktenlage getroffen wurden, forcierten einen weltweiten Protest. In vielen deutschen Städten spazierten Tausende von Menschen gegen den Impfzwang, staatlichen Autoritarismus und die Aussetzung von Grundrechten. Mit dem Krieg in der Ukraine und der wärmeren Jahreszeit ist es für den Moment ruhiger um Corona geworden. Eine Fortsetzung ist aber keinesfalls ausgeschlossen und, schlimmer noch, droht uns ein dauerhaftes technokratisches Regime, das im Bereich des Gesundheitsschutzes dem Impfen den Vorzug vor einer soliden Basishygiene mit einem gut ausgebauten Gesundheitssektor gibt.
So werden die Interessen von Pharmaproduzenten bedient und gleichzeitig der Boden bereitet, um die Bevölkerungen enger zu führen und zu kontrollieren. Schon das Äußern abweichender Meinungen gilt spätestens seit der Coronapandemie als subversiv und latent staatsfeindlich. Die wahrnehmbarste Forderung der Spaziergänger ist die nach einer freien Impfentscheidung. Eine weiterführende politische Organisation, Vernetzung und Zielsetzung ist nicht erkennbar. Der knappe Rückzug vom Impfzwang ist sicher auch in Teilen ein Erfolg dieser kritischen Bewegung, die breite Schichten aus der Bevölkerung vereint.
Noch kein bahnbrechender Erfolg
Einen durchschlagenden Erfolg des politischen Protests und der sozialen Bewegungen hat es, so wie eben beschrieben, nicht gegeben. Bestenfalls lässt sich von punktuellen oder zeitweisen Erfolgen sprechen. Man fühlt sich in Teilen an das Zitat des ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker erinnert, der hinsichtlich des Verfolgens einer politischen Agenda — gemeint ist auch die europäisch-politische Elite — sinngemäß sagte, dass man so weit wie möglich gehe, bis man auf Widerstand stoße. Dann warte man eine Zeit, bis der Widerstand verschwunden sei, und dann könne man den Weg fortsetzen. Auf der Agenda der politischen Elite finden sich eher die Interessen der Konzerne. Sie überwiegen auch den Protest.
Betrachtet man nur diesen relativ kurzen Zeitraum der letzten gut zehn Jahre, so bleibt festzuhalten, dass die sozialen Bewegungen es alleine nicht werden richten können. Der Blick weiter zurück in die Vergangenheit offenbart noch größere, radikalere Bewegungen und viel intensivere Auseinandersetzungen, die in Teilen nicht weniger waren als Angriffe auf das System selbst. Das sind sehr wertvolle Erfahrungen, aus denen zu lernen ist und die betrachtet gehören. In ihrem Bemühen, den Kapitalismus zu stürzen, sind aber auch sie letztlich gescheitert.
Der erste Teil unserer Bestandsaufnahme hat gezeigt, dass es nicht an guten Ideen und Beispielen aus der Praxis für eine andere Welt mangelt, dass es aber Interessen gibt, die dagegenstehen, die die politische Durchsetzung verhindern und stattdessen eine eigene Agenda verfolgen. Auch die großen sozialen Bewegungen der letzten Jahre waren hinsichtlich des Erreichens konkreter Verbesserungen kaum erfolgreich. Im zweiten Teil werden wir unsere Bestandsaufnahme fortsetzen. Auch das wird nicht übermäßig erbaulich sein. Am Ende werden wir überlegen, was getan werden kann. Das Beste kommt eben zum Schluss.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/der-systemwechsel
(2) Noam Chomsky: Rebellion oder Untergang!, Westend Verlag, 2021, Seite 8.
(3) Ebenda, Seite 11.
(4) Ebenda, Seite 75.
(5) Noam Chomsky, „Eine Anatomie der Macht“, Europa Verlag, 2003, Seiten 103 bis 107.
(6) Charles Wright Mills, „Die amerikanische Elite“, Holsten-Verlag Schenke & Haß, 1962, Seiten 148 und 149.
(7) Ebenda, Seite 93.
(8) Ebenda, Seite 212.