Anleitung zum Systemwechsel
So wie es ist, kann es nicht bleiben — eine Überlegung zum Ausstieg aus dem Kapitalismus und zum Beginn von etwas Neuem. Teil 2/3.
Interessen sind stärker als Ideen. Es gibt viele gute Konzepte für eine andere Welt jenseits des Kapitalismus. Was es aber nicht gibt, ist ein Plan zur Durchsetzung dieser Ideen. Denn einflussreiche Kräfte stellen sich dem entgegen, was ganz offensichtlich für die überwältigende Mehrheit der Menschen das Beste wäre. Die Frage ist, was sich aus den bisherigen Erfahrungen politischer Parteien, sozialer Bewegungen und aus dem politischen Engagement von Menschen lernen lässt und wie daraus ein Plan für den Ausstieg aus dem Kapitalismus abgeleitet werden kann. Der Autor gibt zunächst einen Überblick über meist wenig erfolgreiche Umgestaltungsversuche der Vergangenheit. Er stellt dann die Frage: Woran hat es gehakt und was können wir in Zukunft besser machen? Teil 1 finden Sie hier.
Wir setzen unsere Bestandsaufnahme fort, weiten unseren Blick und schauen neben den sozialen Bewegungen auf die Entwicklung der politischen Linken — vornehmlich in Europa in den vergangenen zehn bis dreißig Jahren. Weil man nicht alles, was schon da ist und was gut ist, neu erfinden muss, können wir dankbar auf das aus drei Artikeln bestehende kurze Dossier in der deutschsprachigen Ausgabe von Le Monde diplomatique vom Januar diesen Jahres zurückgreifen, das sich unter dem Titel „Europas Linke“ genau mit dieser Entwicklung beschäftigt (1).
Linke Parteien in schlechter Verfassung
Das „Trauerspiel in Rot“ — aus dem genannten Dossier — könnte viel treffender nicht bezeichnet sein. Auch die internationale Entwicklung jenseits von Europa und die sozialen Bewegungen werden im Dossier kurz betrachtet. Bezogen auf Letztere ist der Befund, dem zuvor schon im ersten Teil ermittelten, gleich: Im Grunde wurde nichts erreicht. Als Beispiele werden der Arabische Frühling, Occupy und die beiden französischen Gruppen von Nuit Debout und die Gelbwesten genannt. Der Druck auf der Straße sei unerheblich, so das Fazit, wenn er nicht im politischen System ankomme.
Diese Erkenntnis, also den sozialen Protest in die Parlamente zu tragen, um von dort aus das System zu ändern, war eine, die die spanische Partei Podemos angetrieben hat. Entstanden aus den Indignados und den sozialen Protesten von vor zehn Jahren hat sich eine politische Partei gebildet, die aus den Niederlagen der politischen linken Parteien lernen wollte und die umgekehrt auch auf die erfolgreichen Entwicklungen der Linken in Südamerika geschaut hat.
Südamerika — das sei am Rande erwähnt — ist eine eigene politische Hemisphäre und verdient eine gesonderte Betrachtung. Der erweiterte Hinterhof der USA steht nur in Teilen unter der Kontrolle der lange Zeit einzigen Weltmacht und entzieht sich ihrem Einfluss immer wieder. Die Ausschläge in das politisch linke und rechte Lager sind dabei deutlich ausgeprägter als in den westlichen Demokratien, wo allenfalls ein vergleichsweise moderater Wechsel zwischen politischen Richtungen stattfindet, die sich ohnehin mehr und mehr angleichen. So lautet etwa ein Vorwurf an die europäische Linke, ihr Niedergang habe auch damit zu tun, dass sie, als sie an der Macht war, nicht ihr eigenes, sondern das Programm ihrer Gegner umgesetzt habe. Man denke beispielsweise an Tony Blair, Gerhard Schröder oder François Hollande. In Südamerika oszilliert die politische Macht von Links nach Rechts ausgeprägter, wobei bisher jede Hoffnung auf eine dauerhafte Besserung immer wieder im Laufe der Zeit zerstört worden ist. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist man noch weit entfernt.
Das ist in Europa kaum anders, wo die politische Linke einen langen Weg des Niedergangs hinter sich hat und mit Ausnahme Frankreichs aktuell ein sehr schwaches Bild abgibt. Die griechische Syriza ist bitter gescheitert. Jeremy Corbyn ist vom Hoffnungsträger einer neuen starken linken Bewegung in Großbritannien zum fraktionslosen Mitglied des englischen Unterhauses geworden, während jenseits des Atlantiks der charismatische Senator Bernie Sanders letztlich am politischen Establishment und wiederholt am US-amerikanischen Wahlsystem gescheitert ist. Und in Deutschland kämpft die Partei Die Linke um ihr politisches Überleben.
Gekappte Verbindungen
Der Niedergang der politischen Linken in Europa und auch in den USA hat eine Entsprechung in der Entpolitisierung der untersten Klasse, die sich zu Recht nicht mehr von der herrschenden Politik vertreten fühlt, die sich entkoppelt hat vom politischen Prozess und die kaum mehr an den Wahlen teilnimmt. Es hat dabei eine gegenläufige Bewegung stattgefunden. In den 1950er- und 1960er-Jahren wählten die gebildeteren und höheren Schichten noch weitestgehend rechts, während die Menschen aus der Arbeiterklasse, die, bevor die große Deindustrialisierung einsetzte, auch noch als solche bezeichnet werden konnte, linke Parteien wählten. Sechzig Jahre später sieht die Lage ganz anders aus. Linke oder sozialdemokratische Parteien werden eher von den höher Qualifizierten und den Menschen in den urbanen Zentren gewählt, während die ländliche Bevölkerung und die unteren Schichten — so sie denn wählen gehen — rechts wählen.
Die Verbindungen, die zwischen der Arbeiterklasse und einer gebildeten Mittelschicht mal bestanden haben und die die Basis für eine starke politische Linke bildeten, gibt es nicht mehr. Damit einhergehend hat bei den Mitgliedern der großen, alteingesessenen Parteien ein Exodus eingesetzt.
Die Mitgliederzahlen sind stark zurückgegangen, und Menschen aus den unteren Schichten sind kaum mehr präsent. Übrig geblieben sind bürgerliche Hochschulabsolventen und Rentner. Noch fragmentierter wird die Wählerschaft durch eine „Mauer der Werte“ (2), die sich im kulturellen Bereich und bei Fragen der Identität und Zugehörigkeit gebildet hat. Diese Differenzen, die man unter anderem an Themen wie der Zuwanderung, der Religion, dem Recht auf Abtreibung, der Geschlechtergerechtigkeit oder der Genderpolitik festmachen kann, spalten die Gesellschaft, sodass auch Teile, die in vielen wesentlichen Bereichen übereinstimmen, etwa in ihrer Systemkritik, kaum zueinander finden können.
Bei den untersten Schichten haben die etablierten Parteien das Vertrauen verloren. Für Wahlerfolge muss man auf die Wünsche und Forderungen dieser Menschen nicht mal mehr eingehen. Zu einer zusätzlichen Politikverdrossenheit, über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg, tragen die Systemzwänge bei — die einen prominenten Ausdruck darin finden, dass den Politikern oft „die Hände gebunden sind“. Die Aufhebung der Mehrwertsteuer auf bestimmte Produkte, was 90 Prozent der Franzosen befürworten? Unmöglich. Das verstößt gegen europäische Vorschriften.
Mut zu einer neuen Radikalität
Der Schlussfolgerung, dass die Linke „den Mut für eine neue Radikalität aufbringen“ muss, ist unbedingt zuzustimmen und kann mit Blick auf die Entwicklung der politischen Parteien nur unterstrichen werden. Das immer wiederkehrende politische Appeasement, die Anpassung an das System, an die Zwänge, das Glattreiben und am Ende „die Regierungsfähigkeit“ führen in die Bedeutungslosigkeit. „Regierungsfähige Parteien“ gibt es schon mehr als genug. Radikal darf in diesem Sinne auch gerne als ausgesprochene Systemgegnerschaft verstanden werden.
Doch auch hier sei vorweggenommen, dass es sich mit Blick auf den Systemwechsel „nur“ um politische Parteien und den politisch etablierten Prozess handelt. Denn gerade die Geschichte — zuletzt das „Trauerspiel in Rot“ — zeigt, dass uns auch dieser Weg bisher nicht zum Ziel und zu einer anderen Gesellschaft geführt hat. So vielversprechend die Ansätze und der Beginn auch immer wieder gewesen sein mögen, am Ende ist nicht viel übrig geblieben. Damit soll an dieser Stelle nichts anderes gesagt sein, als dass die Politik im Parlament im besten Fall nur einer von mehreren Bausteinen sein kann, wenn es um grundlegende Änderungen und vielleicht sogar um einen Systemwechsel geht. Wie genau ein solcher Baustein beschaffen sein könnte, um einen konstruktiven Beitrag zu leisten, soll später überlegt werden.
Das Beispiel Podemos
Podemos ist so gestartet: radikal und vielversprechend. Aus den sozialen Bewegungen heraus und in anhaltender Verbindung zu diesen, als Vereinigung von verschiedenen, wenn auch am ehesten linken, politischen Strömungen, wollte man politisch wirksam werden, die Macht übernehmen, um mit dem Bestehenden zu brechen. Die junge Partei scheint dabei vieles zunächst richtig gemacht zu haben, indem sie einerseits Lehren aus vergangenen Niederlagen linker Parteien ziehen wollte und für erfolgreiche Modelle den Blick auf Südamerika richtete. Podemos setzte auf unabhängige Medien und auf ihren Vorsitzenden Pablo Iglesias als charismatische und medial präsente Identitätsfigur. Auch der Ansatz, das klassische linke Lager zu verlassen, um für mehr Menschen attraktiv zu sein, war sicher gut gedacht. Die gleichzeitige Polarisierung zwischen einer korrupten Kaste einerseits und der Masse der Menschen anderseits war darüber hinaus ein effektiver, wenngleich populistischer Schachzug, der aber auf einfache Art und Weise für Zustimmung sorgen konnte.
Dann aber scheiterte auch Podemos. Für dieses Scheitern können eine Reihe von Gründen ausgemacht werden. Im Vordergrund standen schnelle politische Wahlerfolge, die auf Kosten der Einbindung der ansonsten aktiven politischen Basis gingen und die letztlich an dieser Stelle zum Bruch führten. Ein weiterer Punkt und eine Herausforderung, vor der jede auch noch so radikale Partei irgendwann steht, wenn sie politische Macht übernehmen will, sind die nötigen Kompromisse, die Zwänge des bestehenden Systems und die herrschende Ordnung gerade auch auf der lokalen Ebene. Dort gibt es wenig finanziellen Spielraum, insgesamt nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten und eine etablierte und tendenziell wenig veränderungsbereite Verwaltung. Dazu kommen gewachsene Machtstrukturen und Netzwerke. Wer dort mitregieren will, der muss sich anpassen.
Die Anpassung der Partei an mehrheitsfähige Positionen vollzog sich nicht nur auf der lokalen Ebene relativ schnell. Der Reflex, möglichst nichts Falsches zu sagen und zu fordern, um niemanden zu verlieren und möglichst viele zu gewinnen, ließ die weitreichendsten und radikalsten Forderungen, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Volksabstimmung über die Monarchie oder einen Aufschub bei der Tilgung der Staatsschulden, langsam verschwinden. Dazu kamen weitere Faktoren, die die Partei unter Druck setzten und die sie einiges an Zuspruch kosteten. So begannen die etablierten Medien irgendwann das Feuer zu eröffnen, und mit der liberalen Partei Ciudadanos trat eine neue politische Kraft hervor, die sich ebenfalls als eine Alternative zum politischen Establishment anbot, auch wenn sie aus einer ganz anderen Richtung als das emanzipatorische Podemos kam.
Im Jahr 2016, beim Kampf um politische Mehrheiten und eine möglichst hohe Zustimmung bei den Wahlen, positionierte sich Podemos mit dem Bündnis mit der Vereinigten Linken im linken politischen Spektrum, um sich gleichzeitig als sozialdemokratisch zu klassifizieren und mehr in die Mitte zu rücken. Wahlerfolge konnte die Partei damit nicht erzielen. Mittlerweile hat sich Podemos aufgerieben. Wichtige Bündnispartner und prominente Führungsfiguren haben die Partei verlassen.
Die Bewegung hinterlässt Spuren
Es ließe sich nun von Neuem analysieren, warum auch dieser Anlauf einer progressiven politischen Partei gescheitert ist. Was auch immer die genauen Ursachen sind, fest steht, dass der Weg durch die Parlamente kein einfacher ist, sondern dass er im Gegenteil fast immer dazu zu führen scheint, dass einst radikale und linke Parteien im Laufe der Zeit durch das System entweder geglättet oder bis zur Unkenntlichkeit verformt werden oder sich in der Bedeutungslosigkeit verlieren und von der politischen Bühne wieder verschwinden. Bisher hat das System noch jede solche Partei auf die eine oder andere Weise geschluckt.
Genau dieser Punkt gehört mit in die Überlegungen hinein, wenn es darum geht, welche Rolle Parteien und der Parlamentarismus beim Weg in eine andere Welt spielen können.
Schwer vorstellbar ist jedenfalls, dass da eine Partei antritt, die sagt, dass sie den Staat, so wie er existiert, nicht bestehen lassen will, dass sie das Eigentum neu aufteilen will und dass auch der demokratische Prozess mal auf den Prüfstand gehört. Da sind schon andere für viel weniger als „Terroristen“ bezeichnet worden — und an der Stelle hat der Spaß dann schon lange aufgehört.
Ein vorläufiges Fazit kann nach dem bisher Betrachteten nicht so wirklich positiv ausfallen. Zwar gibt es viele gute Ideen, es fehlt aber an einem Plan zu ihrer Durchsetzung und an einer guten und befriedigenden Antwort, die aufzeigt, wie der Weg zu einer anderen Welt ausschauen kann. Die jüngeren sozialen Bewegungen waren nicht von Erfolg gekrönt, und die Politik in den Parlamenten folgt wie die großen Medien irgendwie einer anderen Regie und einer anderen Agenda. Gleichwohl sollte das Fazit auch nicht zu einseitig ausfallen. Neben den Zielen, die dann doch zum Teil erreicht werden, bildet sich bei den Beteiligten auch immer — mehr oder weniger — ein politisches Bewusstsein, das als Basis für ein weiteres Engagement dienen kann.
Chomsky verweist in diesem Zusammenhang gerne auf den Protest gegen den Vietnamkrieg. Die USA könnten es sich nun nicht mehr leisten, nach Belieben mit ihrem Militär in andere Länder einzufallen. Sie müssten andere Wege der Intervention wählen. Ob das wirklich besser ist, ist noch eine andere Frage. Sicher aber ist, dass dadurch nicht Hunderttausende oder noch mehr Menschen einer direkten militärischen Konfrontation zum Opfer fallen. Auch die über Jahrzehnte anhaltende Umweltbewegung hat das Bewusstsein für diese Problematik geschärft und ihren Teil dazu beigetragen, dass beispielsweise Deutschland den Weg zu alternativen Energien eingeschlagen, Atomkraftwerke abgeschaltet und den Ausstieg aus der Kohle beschlossen hat.
Es sind nicht nur die Erfahrungen aus sozialen Bewegungen und dem politischen Engagement, welche für die Teilnehmer zu einer persönlichen Erfahrung werden, sondern es ist vor allem die Geschichte selbst, die für uns alle lehrreich ist — und hier ist nicht nur an die Geschichte sozialer Bewegungen gedacht. Am meisten lernt man bekanntlich aus Erfahrung. Zuvorderst sind das gewiss die persönlichen Erfahrungen, aber auch die Erkenntnisse, die wir aus dem erhalten können, was andere erfahren haben, haben einen unschätzbaren Wert. Diese Erkenntnis, also das Lernen aus der Geschichte, ist eigentlich so banal und simpel, dass es fast keiner Erwähnung wert wäre, wenn es nicht allzu oft so erscheinen würde, als würden die Lehren der Vergangenheit viel zu wenig beachtet.
Noch keine kritische Masse
Das gewachsene politische Bewusstsein bei den Menschen, die sich engagieren, genügt aber nicht für eine kritische Masse. Und mehr noch, muss es jedes Mal, das heißt in jeder Generation, aufs Neue hergestellt werden. Bei der Elite, sagt man, sei das anders. Sie lerne aus der Vergangenheit und könne daher ihre Reaktion stetig verbessern. In Gänze kann das kaum stimmen, denn sonst wäre die Welt nicht, wie sie ist, und würden sich die Eliten nicht oft augenscheinlich so ungeschickt anstellen. Vielleicht gilt das auch nur für den Widerstand gegen den Widerstand, und vielleicht bleiben deshalb die Erfolge der sozialen Bewegungen aus?
Hinzu kommt, dass eine mögliche kritische Masse in ihrer Größe gar nicht genau bestimmbar ist.
Es scheint manchmal einfach egal, wenn Millionen Menschen auf der Straße demonstrieren oder wenn eine, vielleicht sogar deutliche, Mehrheit gegen bestimmte politische Entscheidungen ist.
Zur Bestandsaufnahme und zu den anschließenden Überlegungen, was man tun kann, gehört auch zu fragen, warum sich keine kritische Masse bildet, und darüber hinaus, was passiert, wenn sie sich doch bildet. Mit dem letztgenannten Punkt sind mögliche Widerstände von Interessengegnern gemeint.
Es ist die Bewusstseinsbildung, mit der es beginnt. Man kann das auch Aufklärung nennen. Und die gibt es nicht, jedenfalls nicht als Massenware. Aufklärung ist ein Glücksfall und ein Zufallstreffer. Es kann sie auch gar nicht geben. Henry Ford meinte, dass es gut sei, dass die breite Masse keine Ahnung vom Finanzsystem habe, da andernfalls noch vor dem nächsten Morgen eine Revolution ausbrechen werde. Nicht anders ist das mit dem System Kapitalismus. Es ist darauf angewiesen, dass keine Aufklärung darüber stattfindet und dass die breite Masse nicht versteht, wie es funktioniert — sich jedenfalls nicht kritisch damit auseinandersetzt und schon gar keine Alternativen angeboten bekommt.
Die Rolle der großen Medien ist es gerade nicht, eine solche Aufklärung zu leisten, sondern im Gegenteil nehmen die Medien eine Wächterfunktion (3) in umgekehrter Richtung ein, die sie zu einer tragenden Säule des gesamten Systems machen. Weil es Wahlen gibt und weil sie nichts ändern sollen, muss in der Öffentlichkeit ein Konsens hergestellt werden, bei dem entscheidende Fragen erst gar nicht gestellt werden. Ein enges Spektrum von Betrachtungen, Sichtweisen und Meinungen, das fehlende Aufzeigen von Zusammenhängen und die nicht vorhandene Aufklärung der Menschen zu mündigen und selbstbestimmten Wesen machen uns zu „den Lämmern, die schweigen“, und zu der „verwirrten Herde“, die so nicht zu einer kritischen Masse werden kann.
Verbunden mit der Unmöglichkeit, sich wirksam politisch zu organisieren, führt die meinungsmachende Kontrolle der Bevölkerung zu einer apolitischen und teilnahmslosen Masse.
Vor dem Hintergrund der politischen Meinungshoheit, die durch die Massenmedien vermittelt wird, und der Aufklärung als Ausgangspunkt einer kritischen Bewegung ist die Rolle alternativer medialer Angebote alles andere als gering zu schätzen. Die Zunahme alternativer Medien in ihrer Vielfalt und in ihrer Reichweite ist eine sehr positive und wertvolle Entwicklung, die dazu geführt hat, dass herrschende Narrative in Frage gestellt werden. Die etablierten Medien selbst geraten dadurch zusätzlich in das Zentrum der Kritik. Die Auseinandersetzung ist hart. Faktenchecker auf beiden Seiten sollen die Gegenseite jeweils diskreditieren und die eigene Position stärken.
Die Sichtweisen zu verschiedenen politischen Themen sind dabei nicht selten äußerst konträr und kaum miteinander vereinbar. Die Popularität alternativer medialer Angebote hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass die Kritik wahrnehmbarer wurde. Die fast schon disjunkte Faktenlage — konkret und aktuell in Sachen Corona und in Sachen Ukraine — verhärtet die Auseinandersetzung nicht nur in der digitalen Sphäre. Das Vordringen alternativer medialer Angebote genügt aber noch lange nicht, um das Gewicht gegenüber dem medialen Mainstream ausschlaggebend zu verändern. Die Kräfteverhältnisse sind hier weiterhin recht eindeutig. Man täusche sich aber nicht darüber: Je größer der Einfluss alternativer Medien, desto größer werden auch die Widerstände, und der Kampf kann noch mit ganz anderen Bandagen geführt werden.
Neue alte Ordnungen nach 1945
Bevor wir zum konstruktiven Teil übergehen und mit dem „Pläneschmieden“ beginnen, fehlt uns für eine Bestandsaufnahme noch der Blick auf die Widerstände gegen den Widerstand. Diese Betrachtung ist gleichsam der Übergang zum konstruktiven Teil, der unvollständig und alleine wenig wert wäre, wenn nicht auch mögliche Widerstände ein Teil der Überlegungen sind. Die Durchsetzung von Interessen und das Bekämpfen von Widerständen sind Teil desselben Prozesses und können von jeder Seite aus — von den Bewahrern des Bestehenden und den opponierenden Kräften — betrachtet werden. Aus systemkritscher Sicht umfasst die „Klaviatur der Widerstände“ das gesamte denkbare Spektrum.
Die politische Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein gutes Beispiel für die Durchsetzung von Interessen und die Bekämpfung von Widerständen. Es ist außerdem wesentlich für das Verständnis der heutigen politischen Ordnung auf globaler Ebene. Mit dem Ende des zweiten großen Krieges im 20. Jahrhundert lagen Europa und Russland in Trümmern. Der alte Kontinent war buchstäblich zerstört. Im asiatischen Raum musste Japan bedingungslos kapitulieren, während sich auf dem Festland der chinesische Bürgerkrieg fortsetzte und wenig später in Korea, in den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und der Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West, ein neuer Konflikt militärisch eskalierte.
Der Zweite Weltkrieg führte zu einer Vorherrschaft der USA im politischen Westen, die dem von ihnen mehr oder weniger kontrollierten Teil der Welt ihren Stempel aufdrücken konnte. Angeführt und beherrscht vom militärisch-industriellen Komplex und gedanklich — sowie teilweise real — in der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion befindlich, unterdrückten die USA jedwede Bestrebung autonomer staatlicher Entwicklungen, die ihren Interessen widersprachen. Linke Strömungen, Parteien und eine sich emanzipierende Arbeiterschaft wurden überall und mit allen Mitteln bekämpft. Stattdessen suchte man Stabilität und Kontinuität und setzte auf konservative und auf reaktionäre Kräfte.
In Italien waren die Kommunisten während des Zweiten Weltkriegs führend im Widerstand gegen den Faschismus gewesen. Sie waren auch unmittelbar nach dem Krieg und bis in die 1970er-Jahre hinein eine starke politische Kraft, die fortlaufend bekämpft und deren Machtübernahme verhindert worden ist. Der US-Präsident, das US-Außenministerium, das US-Justizministerium, höchste Richter und Staatsanwälte und die Voice of America agierten im Rahmen einer massiven Kampagne, um den Wahlsieg der kommunistischen Partei im Jahr 1948 zu verhindern. Mit der Drohung, jede wirtschaftliche Hilfe aus dem Marshallplan einzustellen, mit Bestechungen, Erpressungen, Einschüchterungen und einer massiven Unterstützung der konservativen Christdemokraten und mit Millionen von Dollar griffen die USA in den Wahlkampf ein. Die CIA zog mit verdeckten politischen Operationen, Propaganda und paramilitärischen Operationen im Hintergrund die Fäden (4).
In Korea kam es nach der Befreiung von der japanischen Besatzungsmacht zu einer Aufteilung des Landes durch die Siegermächte. Der südkoreanische Landesteil blieb bis 1948 durch US-Militär besetzt und kontrolliert. Aus der Bevölkerung heraus hatte sich unmittelbar nach dem Abzug der Japaner eine Regierungsstruktur gebildet. Ihr Hauptquartier lag in Seoul, während weitverteilte „Bevölkerungskomitees“ im ländlichen Raum das Fundament und den Rückhalt der Regierung bildeten. Am 6. September 1945 wurde die Volksrepublik Korea ausgerufen. Die USA standen dieser selbstverwalteten Struktur feindlich gegenüber. Sie wurde gewaltsam zerschlagen. Dazu reaktivierten die USA alte koloniale Machtstrukturen und den Polizeiapparat aus der japanischen Besatzungszeit. In dem wenig beachteten Konflikt, der einen Teil der Vorgeschichte zum 1950 ausgebrochenen Koreakrieg bildet, starben zwischen 1945 und 1950 mehrere 10.000 —wahrscheinlich sogar mehr als 100.000 — Menschen.
Ähnliche Bemühungen, eine gewünschte politische Ausrichtung zu erhalten, fanden auch in anderen Ländern statt, so etwa in Frankreich, Deutschland oder Japan. Noam Chomsky fasst es so zusammen: „Das geschah nicht nur in Ländern wie Italien, Frankreich und Griechenland, sondern auch in Korea und Thailand. Das erste Kapitel der Nachkriegsgeschichte handelt davon, wie wir die italienischen, französischen und japanischen Gewerkschaften in die Knie zwangen und die sehr reale Drohung einer bevölkerungsnahen Demokratie, deren Idee nach 1945 weltweit verbreitet war, beseitigten“ (5).
Zur Verteidigung des „American Way“
Die nachhaltigste und umfangreichste Kampagne, um den „Amerikanischen Weg“ in die Köpfe der Menschen zu bekommen und die freie Marktwirtschaft zu propagieren, fand aber an der Heimatfront statt, denn der gefährlichste Feind sitzt immer im Inneren. Beginnend in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre bis zum Anfang der 1950er-Jahre führte die National Association of Manufacturers (N.A.M.), der Spitzenverband der US-Industrie, eine beispiellose Propagandaoffensive durch. Die Botschaften wurden multimedial verbreitet, über wöchentliche Radioprogramme, Filme und Lehrfilme, direkte Werbung oder Briefsendungen, Ausstellungen für Schulen und Firmen und einen industriellen Presseservice, der kurze Nachrichten für Hunderte von kleineren Zeitungen zur Verfügung stellte. Die Informationsvermittlung war dabei weder transparent, geschweige denn objektiv.
In den 1940er-Jahren weitete die N.A.M ihre Bemühungen aus und zielte auf die Beeinflussung von Bildungseinrichtungen und religiösen Institutionen. Es ging auch darum, mehr in die lokalen Kommunen einzutauchen, um dort die Botschaft des freien Unternehmertums zu verbreiten. Im einem Editorial aus dem Fortune-Magazin vom Mai 1949 ist zu lesen, dass fast die Hälfte des Inhalts der besten Zeitungen aus den Pressetexten und Veröffentlichungen von Unternehmen abgeleitet ist. Fast der gesamte Inhalt der kleineren Zeitungen sowie Hunderte von spezialisierten Zeitschriften seien zudem direkt oder indirekt das Werk der PR-Abteilungen aus den Unternehmen.
In den 1950er-Jahren wandte sich die N.A.M. dem Fernsehen zu. Schon 1951 erreichten die von der Geschäftswelt gesponserten Filme ein wöchentliches Publikum von 20 Millionen Menschen. Zu dieser Zeit hatten die USA gut 150 Millionen Einwohner. Die Vermittlung der richtigen ökonomischen Sichtweise kam einer Bildungsoffensive gleich, die sich nicht zuletzt in den Unternehmen selbst abspielte, die aber auch die klassischen Bildungseinrichtungen wie die Schulen und die Universitäten umfasste. Viele der großen Unternehmen wie beispielsweise General Motors, Sears Roebuck und U.S. Steel entwickelten eigene Bildungsprogramme, produzierten Heftchen oder Filme und veranstalten Vorführungen und Diskussionsrunden während der Arbeitszeit.
Millionen von Angestellten wurden auf diese Weise im Laufe der Zeit ökonomisch im richtigen Geiste erzogen. Die Geschichte des N.A.M. und seiner gewaltigen PR-Kampagne zur Verteidigung des bestehenden Systems kann hier nicht gebührend dargestellt werden. Die ideologische Verteidigung und Verbreitung der eigenen Sichtweise endet auch nicht an dieser Stelle. Die Bedrohung der globalen sozialen Erhebungen der 1960er-Jahre bedurfte einer neuerlichen Anstrengung der Geschäftswelt und einer Kampagne, die nach Ansicht des Fortune-Magazins eine Studie in Gigantismus war, die die Medien durchdrang und praktisch jeden im Land erreichte.
Staatlicher Terror
Die 1960er- und 1970er-Jahre sind auch eine Zeit, die von einer intensiven und teilweise gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den sozialen Bewegungen, den linken Strömungen und Gruppen einerseits und den staatlichen Strukturen und einem bürgerlichen Milieu auf der anderen Seite, geprägt ist. Die staatlichen Methoden sind dabei durchdringend und offenbaren gut, dass die Klaviatur sehr weitgehend bespielt wird, sofern es nötig erscheint. Dabei wird auch der legale Rahmen verlassen und mitunter nicht einmal vor terroristischen Aktionen zurückgeschreckt. Ein Beispiel ist das Counterintelligence Program — kurz Cointelpro. Es startete schon zu Kriegszeiten, wurde unter Kennedy forciert und erreichte in der Zeit der Revolten in den späten 1960er-Jahren und Anfang der 1970er-Jahre einen Höhepunkt.
Dazu gehörte die Anheizung von Krawallen in den Gettos, um die Organisation der Schwarzen zu zerstören, sowie Angriffe auf die Bewegung der Native Americans und die Frauenbewegung, eine fünfzehn Jahre andauernde Überwachung der Socialist Workers Party und auch die Ermordung eines Führers der Black Panther. Die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den USA und die Mobilisierung der afroamerikanischen Bevölkerung zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren ist auch eine Geschichte über die Zerschlagung und Spaltung sehr starker und progressiver Bewegungen von staatlicher Seite, bei der alle Register gezogen worden sind: von der Überwachung, der Infiltration, der Spaltung bis hin zum politischen Mord.
Die Geschichte ist gerade auch in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Die gewaltsamen Auseinandersetzung spielten letztlich nicht nur in den USA, sondern genauso in Deutschland oder in Italien der staatlichen Seite in die Hände. Auch in diesem Wissen muss die von staatlichen Strukturen bewusst geförderte Eskalation betrachtet werden. Die terroristischen Anschläge der Geheimorganisation Gladio in Italien zwischen 1969 und 1984 sind unter dem Begriff der Strategie der Spannung mit das drastischste Beispiel in dieser Kategorie.
An dieser Stelle fügt sich eine Rezension von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller zu Erik Olin Wrights Buch „Reale Utopien“ halbwegs passend ein (6), denn obwohl Schiller sich im Wesentlichen strategisch äußert — wir greifen dem Plan ein wenig vor —, verdeutlicht er, dass man bei einer Transformationsstrategie die Widerstände und namentlich die Gewaltmittel mächtiger Akteure nicht unberücksichtigt lassen darf. Der im Jahr 2019 verstorbene Wright war Professor für Soziologie. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit lag in der Beschäftigung mit Utopien. Im Jahr 1991 startete er mit seinem „The Real Utopias Project“, in dessen Rahmen sieben Bücher veröffentlicht wurden, von denen „Reale Utopien“ den Abschluss bildete. Im Vorwort der deutschen Ausgabe ist ein wesentlicher Gedanke Wrights festgehalten, der meinte, dass der Kapitalismus nicht durch Reformen von oben zu zähmen sei und auch nicht durch einen revolutionären Bruch zerschlagen werden sollte. Stattdessen solle er dadurch erodiert werden, dass „in den Räumen und Rissen innerhalb kapitalistischer Wirtschaften emanzipatorische Alternativen aufgebaut und zugleich um die Verteidigung und Ausweitung dieser Räume gekämpft wird“.
Schiller meint in seiner Rezension, dass es abwegig sei, davon auszugehen, dass es eine friedvolle Koexistenz verschiedener Produktionsweisen geben und man bezweifeln könne, dass die Ausnutzung von Freiräumen überhaupt so etwas wie eine Transformationsstrategie sein könne. Schiller verweist darauf, dass Wright selbst sagt, dass „eine nennenswerte Entwicklung hin zu realer gesellschaftlicher Ermächtigung die Interessen mächtiger Akteure bedroht, die am stärksten von kapitalistischen Strukturen profitieren, und dass diese ihre Macht einsetzen können, um solche Entwicklungen zu bekämpfen“. Schiller ergänzt, dass „es keinen Sozialismus geben kann, ohne dass die Macht des großen Geldes gebrochen wird, die nicht zuletzt in der Verfügung über Massenmedien und Gewaltmittel besteht. Wer aber will einen Kampf auf Leben und Tod riskieren? Die Bewahrer von Klassenverhältnissen kennen nicht den Abscheu vor Gewalt, den eine intellektuelle Tätigkeit in der Regel mit sich bringt“.
Gewaltlosigkeit als Teil der Antwort
Genau dieser Punkt, also die Widerstände, die hervorgerufen werden, wenn alternative Formen von Ökonomie, Gesellschaft und Leben sich auszudehnen beginnen und aus den Rissen und Nischen immer größere Brüche und Schneisen werden, die vielleicht sogar auf einen Bruch hinauslaufen, darf nicht unberücksichtigt bleiben. Wrights Standpunkt ist sicher überzeugend. Reformen von oben werden den Kapitalismus nicht beseitigen. Eine Revolution als unmittelbarer Bruch birgt die Gefahr größter Verwüstungen und eines ungewissen Neubeginns, der sich schnell als noch schlechtere Alternative entpuppen könnte. Die Transformation alleine durch die Keimzellen des Neuen scheint aber, ganz wie Schiller meint, zu wenig, wenn es nur dabei bleibt und der vollständige Systemwandel nicht von Beginn an mitgedacht wird. Selbst wenn es verheißungsvoll klingt, genügte es dann nicht, die Nischen und Risse zu besetzen und sich von dort aus auszudehnen. Auch dies kann nur einer von mehreren Bausteinen sein.
Die möglichen Widerstände und Widrigkeiten, die einem bei der Überwindung der kapitalistischen Ordnung hin zu einem anderen System begegnen, werfen die lange bereits diskutierten Fragen nach dem Weg auf. Reform oder Revolution? Gewalt oder keine Gewalt?
Eine Transformation durch Reformen wird nicht gelingen. Wenn man die Revolution als punktuellen Umbruch begreift, der das eine System durch das andere ersetzt, dann liegt auch diese Variante — gerade bei fundamentalen Änderungen, wie etwa die Einführung einer herrschaftsfreien Gesellschaft — jenseits der Vorstellungskraft. Damit bliebe nur ein langsamer Transformationsprozess.
Die Frage nach der Anwendung von Gewalt ist vielleicht nicht schön, sie stellt sich aber zwangsläufig und kann nicht ausgeblendet werden, wenn sie nicht spontan und individuell beantwortet werden soll. Indiens Befreiung von der kolonialen Herrschaft des britischen Empires erscheint als ein gangbarer Weg, und vielleicht ist die Gewaltlosigkeit auch die einzige Art und Weise, wie man überhaupt von einem System wie dem Kapitalismus, der durchaus schöpferische Kräfte besitzt, dessen Zerstörungskraft aber um ein Vielfaches überwiegt, zu einer gerechten und friedlichen Welt kommen kann. Der Vergleich mit der Befreiung von der Kolonialherrschaft ist nicht ganz zulässig, denn wir haben es nicht mit einer fremden Besatzungsmacht einerseits und einer unterdrückten Bevölkerung anderseits zu tun. Mehr noch sind die menschlichen Verhältnisse und die Verfasstheit der Staaten in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts vielfältig, die Freiräume für die Menschen und das restriktive, teils repressive Agieren von staatlicher Seite ganz unterschiedlich. Und doch ist das indische Beispiel anschaulich.
Die Gewaltlosigkeit ist in mehrfacher Hinsicht überzeugend. Zunächst einmal scheint es naheliegend, den Weg in genau der gleichen Weise zu gestalten, wie die zukünftige und angestrebte Gesellschaft gedacht wird. Die umgekehrte Vorstellung passt schlecht. Den gewaltsamen Weg zu wählen, um dann die Waffen niederzulegen und eine friedliche Welt auszurufen, passt nicht zusammen und ist auch nur schwer vorstellbar.
In der Form eines revolutionären Bruchs gedacht, wird es ganz undenkbar, denn wer sollte sich — nach dem gewaltsam errungen Sieg und mit allen Machtmitteln in der Hand — hinstellen und sagen, von nun an machen wir alles anders. Meine Macht gebe ich ab, und niemand soll mehr Macht haben und die Welt von nun an friedlich sein. Wer die Anarchie wohlwollend betrachtet oder gar befürwortet, der sollte tunlichst nicht die Wörter Chaos und Anarchie in einem Atemzug nennen, um nicht ein herrschendes und gleichzeitig falsches Narrativ zu bedienen. Wer aber die Transformation als gewaltsam-revolutionären Bruch denkt, um anschließend eine anarchistische Gesellschaft auszurufen, der schafft das Chaos.
Nichtkooperation als passiver Widerstand
Ein weiterer Gedanke ist ganz pragmatischer Natur. Wenn es hart auf hart kommt, so hat die staatliche Seite alle physischen Gewaltmittel — im Grunde ein fast unerschöpfliches und sehr weitreichendes Arsenal — in der Hand: die Techniken zur Überwachung, die Waffen, die Soldaten und andere bewaffnete Einheiten. Kriege wurden in der Vergangenheit oft durch eine überlegene Technologie gewonnen. Je größer der Vorsprung in der Waffentechnik, desto ungleicher wurden die Kräfteverhältnisse. Die Gewaltmittel des Staates sind so umfangreich, dass ein gewaltsamer Widerstand, um die Macht im Staat zu übernehmen, alleine schon aus diesem Grund, so es denn noch einen weiteren Grund für die Vermeidung von Gewalt bräuchte, nur Kopfschütteln auslösen kann.
Beim Weg in eine andere Welt und um den Kapitalismus zu überwinden, ist die Gewaltlosigkeit das Mittel der Wahl. Sie überzeugt durch einen weiteren Grund, der dem indischen Beispiel entnommen werden kann: Es ist der Gedanke, dass ein ungerechtes und unterdrückerisches Regime, bei dem nur eine Minderheit wirklich profitiert, während eine übergroße Mehrheit ein ganz anderes System wünscht, nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn diejenigen, die unterdrückt werden, kooperieren.
Der Gedanke ist simpel und wird mit dem indischen Beispiel vor Augen leicht einsichtig. Wenn niemand die auferlegte Arbeit ausführt und sich keine Menschen finden, die sich durch Überwachung oder Unterdrückung der anderen am System beteiligen, dann kann das Regime nicht aufrechterhalten werden. Es ist anderseits keine Frage, dass das, was so einfach klingt, in der Umsetzung eine mehr als große Herausforderung ist.
Der zweite Teil unserer Bestandsaufnahme kommt einem Parforceritt gleich. Wir haben ausschnittartig auf die Entwicklung der linken Parteien in Europa in den letzten Jahrzehnten geschaut, um anschließend erneut auf die sozialen Bewegungen und ihre Wirksamkeit zurückzukommen. Die Bewusstseinsbildung bis hin zur kritischen Masse haben wir den systemseitigen Widerständen gegenübergestellt. Dafür haben wir erneut einen Blick in die Historie geworfen. Dort konnten wir auch die Gewaltlosigkeit entdecken, die als einer der ersten Bausteine Teil einer Strategie auf dem Weg in eine andere Welt sein kann. Wie ein solcher Weg genauer noch beschaffen sein könnte, soll im letzten Teil überlegt werden.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) Le Monde diplomatique, deutschsprachige Ausgabe vom Januar 2022. Dossier Europas Linke mit den Artikeln „Trauerspiel in Rot“, „Sie nannten sich Podemos“ und „Das seltsame Verschwinden des PCI“.
(2) „Der zynische Sieg des Macronismus“ von Serge Halimi, Le Monde diplomatique, deutschsprachige Ausgabe vom Mai 2022.
(3) Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine, Promedia Verlag, 2015, Seiten 158 bis 160 und Seiten 165 bis 168. Siehe auch Fabian Scheidler: Chaos, Promedia Verlag, 2017, Seiten 153 bis 164.
(4) Armin Wertz: Die Weltbeherrscher, Westend Verlag, 2017, Seite 105.
(5) Noam Chomsky: Eine Anatomie der Macht, Europa Verlag, 2003, Seite 212.
(6) https://www.socialnet.de/rezensionen/23165.php