Angst im Bauch
Perspektivlosigkeit und Stress, die die aktuelle Endzeitstimmung begleiten, spielen der transhumanistischen Ideologie in die Hände.
Wir werden immer weniger. Vor allem in Europa nimmt die Fruchtbarkeit seit Jahrzehnten rapide ab. Im Kontrast zu jenen, die um jeden Preis ein Kind wollen, nehmen immer mehr junge Menschen Abstand vom Kinderwunsch. Welche Zukunft würde die nächste Generation erwarten, wenn die sogenannte Letzte Generation dabei ist, sich am Asphalt festzukleben? Überbevölkerung, Klimawandel, Wassermangel — wer wollte angesichts dieser ungelösten, globalen Probleme noch eine Familie gründen?
Als ich meine Schulzeit beendete, geriet mir ein Buch in die Hände: „Die letzten Kinder von Schewenborn oder … sieht so unsere Zukunft aus?“ von Gudrun Pausewang. Zur Zeit des Kalten Krieges fährt der zwölfjährige Roland mit seiner Familie in die fiktive Stadt Schewenborn, um die Großeltern zu besuchen. Auf dem Weg dorthin werden sie Zeugen einer Atombombenexplosion.
Nach und nach wird das Maß der Zerstörung offensichtlich. Der Kampf ums Überleben beginnt. Viele, die noch nicht tot sind, gehen an der Strahlkrankheit, an den ausbrechenden Seuchen oder an den katastrophalen Lebensbedingungen zugrunde. Bis auf den Vater und Roland sterben in der Familie alle. Zum Schluss hatte die Mutter ein schwer behindertes Mädchen zur Welt gebracht, das vom Vater getötet wurde, da es nicht lebensfähig war. Der Roman endet damit, dass der inzwischen Siebzehnjährige die verbleibenden Kinder unterrichtet, die — so wird es in Aussicht gestellt — die letzten sein werden.
Von Schewenborn zur Letzten Generation
Das Buch griff eine Angst auf, die die Jugend der Nachkriegsgeneration geprägt hatte: Kriege in Korea, Vietnam und Afghanistan, Kubakrise, Wettrüsten und Overkill. Immer wieder hielt die Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den Atem an. Verdeckte Geheimdienstoperationen, Militärputsche, Interventionen in den strategisch und wirtschaftlich wichtigen Ländern der Welt — auf erbitterte Weise wurde der Kalte Krieg zwischen den USA und dem „Ostblock“ ausgetragen, der 1989 mit dem Fall der Mauer und 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion ein Ende fand.
Damit wurde die Welt nicht ruhiger. Die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986, der 11. September 2001 und der Tsunami in Indonesien 2004 stimmten die Weltbevölkerung auf ein apokalyptisches Szenario ein, das ab 2020 den gesamten Planeten in einen Ausnahmezustand versetzte. Seitdem wird alles immer nur noch schlimmer. Kriege, an denen sich jederzeit die ganze Welt entflammen kann, die wachsende Wahrscheinlichkeit weiterer Pandemien, die Klimakrise, die uns zu gefährlichen Ausatmern macht und in den wirtschaftlichen Ruin treibt.
Anfang 2022 trat die Aktionsgruppe Last Generation auf den Plan, deren Mitglieder versuchen, einen wissenschaftlichen Konsens bezüglich des Klimawandels und des Erreichens des 1,5-Grad-Zieles zu erzwingen. Alles muss ganz schnell gehen. Wir haben keine Zeit mehr. Die Strategie der Gruppierung zielt vor allem auf eines ab: Alternativlosigkeit aufzeigen. Eine zutiefst verunsicherte und orientierungslose Gesellschaft wird darauf vorbereitet, dass sie nur dann eine Zukunft hat, wenn bestimmte Abkommen eingehalten werden.
No Future
Parallel geht die Geburtenrate vor allem in Europa bedenklich zurück (1). Seit den Siebzigerjahren hat sich die Spermienzahl bei den Männern halbiert (2). Auch bei den Frauen nimmt die Fruchtbarkeit stark ab. Das Phänomen erklärt sich aus den modernen Lebensbedingungen und ist menschengemacht. Vor allem sind endokrin wirksame Chemikalien und Pestizide sind für den Rückgang der Fruchtbarkeit verantwortlich (3). Handelsübliche Insektensprays etwa, so wurde kürzlich nachgewiesen, können beim Menschen zu Unfruchtbarkeit, Geburtsfehlern sowie Fehl- und Totgeburten führen (4).
Zwischen dreißig und vierzig Prozent, so ein ehemaliger Impfwissenschaftler Bill Gates‘, wird die Bevölkerung in den stark geimpften Ländern in den kommenden Jahren schrumpfen (5). Zu den wichtigsten Faktoren jedoch, dass Paare keine Kinder mehr bekommen, gehört Stress (6). Das kommt denen entgegen, die meinen, wir seien zu viele Menschen auf diesem Planeten.
Wäre es nicht geradezu verantwortungslos, durch einen egoistischen Kinderwunsch die gigantischen Probleme der Welt noch anzuheizen?
Auf Abstand
Mit dem Kinderwunsch geht auch die Lust. Bereits bevor Maßnahmen zum angeblichen Schutz vor Corona das Sexualleben vor allem der Singles massiv ausbremsten, hatte nahezu ein Drittel der jungen Männer in den USA keinen Sex (7). Eine australische Umfrage aus dem Jahr 2019 ergab, dass vierzig Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 24 überhaupt noch nie Sex hatten. Ein beachtlicher Teil der „Generation Z“ schwört dem Sex ganz ab und zelebriert Celibacy: sexuelle Enthaltsamkeit (8). Wer noch Lust hat, wird von einer boomenden Pornoindustrie bedient oder hat „Safer Sex“ auf Distanz.
So gehen wir auch zum eigenen Körper immer mehr auf Abstand. Jede zehnte Frau in Deutschland lässt sich heute Eierstöcke und Gebärmutter entfernen, um Krebserkrankungen vorzubeugen. Unterleibserkrankungen und Brustkrebs haben in den vergangenen Jahrzehnten geradezu explosionsartig zugenommen. Immer mehr Frauen leiden an Endometriose, einer krankhaften Wucherung der Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutterhöhle oder an anderen Stellen des Bauchraums, die mit starken Schmerzen verbunden ist.
Wie alle Zivilisationskrankheiten kann die industrielle Medizin diese chronische Erkrankung nur behandeln, nicht heilen.
Viele der Betroffenen halten die Schmerzen für normal, so wie in unserer Vorstellung auch Geburt stets mit Schmerz verbunden ist. Der Monatszyklus wird oft als Last wahrgenommen und Menstruationsblut gilt vielen als ekelig. Man will möglichst nichts davon mitbekommen. So wie wir die peniblen gynäkologischen Kontrolluntersuchungen ertragen, schieben wir uns mehr oder weniger genervt chemiegetränkte Tampons in den Unterleib und warten darauf, dass es vorbei ist.
Während jedes Kind einen Penis zeichnen kann, ist kaum ein Erwachsener dazu in der Lage, eine Vulva zu zeichnen. Lange galt das weibliche Geschlecht als sündig und schmutzig und wurde abwertend behandelt. Um das weibliche Lustempfinden zu kontrollieren, werden bis heute in vielen Kulturen die äußeren weiblichen Genitalien teilweise oder komplett herausgeschnitten. Über 200 Millionen Mädchen und Frauen sind weltweit betroffen (9). Jede dritte Frau in der Welt erfährt im Laufe ihres Lebens sexuelle Gewalt. In Deutschland hat mehr als jede zweite Frau sexuelle Belästigung erlebt (10). Vergewaltigung ist kein Nebenprodukt kämpferischer Auseinandersetzungen, sondern eine bewusst eingesetzte Kriegswaffe, die ganze Kulturen zerstören kann (11).
Keine Kinder oder künstliche Kinder?
Ob individuell erlebt oder im kollektiven Gedächtnis verstrickt: Bei vielen Menschen ist der Schambereich mit Scham besetzt, mit Abscheu, Ekel, Schmerz und Leid. Der Schoßraum beider Geschlechter hat sich im Laufe unserer Geschichte zunehmend verschlossen. Über diese Schranke kann schwer das Vertrauen entstehen, das es braucht, damit zwei Menschen zueinander finden und die Bedingungen dafür schaffen, ein gesundes neues Leben in die Welt zu bringen.
In Deutschland wird ein Drittel der geschlossenen Ehen wieder geschieden (12). Alleinerziehende Mütter sind normal geworden und gelten, obwohl besonders von Armut betroffen, als irgendwie emanzipiert. Macht es uns nicht auch unabhängiger, keinen Mann mehr zu brauchen, und bald auch keine Frau mehr, um eine Familie zu gründen?
Als eine der größten Errungenschaften der Gleichberechtigung der Frau gilt die Pille. Dank ihr braucht sich der Mann so gut wie keine Gedanken mehr um Verhütung zu machen. Sein Körper ist es nicht, der künstlich hormonell umgestellt und Risiken wie Thrombose, Lungenembolie, Schlaganfall, Depression, Herzinfarkt, Brustkrebs oder Migräne ausgesetzt wird. Es lebe die Emanzipation! Zwar verdienen Frauen in Deutschland immer noch zwanzig Prozent weniger als Männer, doch sie können Sex haben, so oft sie wollen. Wenn sie denn wollen.
Wenn sie dann irgendwann einen Kinderwunsch verspüren, bleibt für immer mehr Frauen nur noch die künstliche Befruchtung. Die Chance, dass es klappt, liegt bei etwa dreißig Prozent. Ein Prozent der Neugeborenen entsteht auf diese Weise in Deutschland. In Dänemark sind vier von hundert Neugeborenen IVF-Babys (13). Mit erheblichen Auswirkungen. Embryonen, die in Petrischalen entstehen und in einem Nährmedium bebrütet werden, leiden häufiger an Herzfehlern und Fehlbildungen der Gliedmaßen. Sie sind anfälliger für Diabetes, ADHS und Krebs, und sie altern früher (14). Ihnen scheint der Lebensfunke zu fehlen, der durch die Begegnung zweier Menschen entsteht.
Aussteigen
Rückgang der Fruchtbarkeit, Enthaltsamkeit, Lustlosigkeit, Entfremdung, Endzeitstimmung — die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kommt der transhumanistischen Ideologie entgegen, die unserer Kultur mit der Genesis gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde: Nicht dem Leib einer Frau entsprang das neue Leben, sondern der Rippe eines Mannes. Alle sind gleich. Alle sollen die gleichen Chancen haben. Ist es nicht ein Zeichen des Fortschritts, Männern einen Uterus einzupflanzen?
So wird der natürlich gezeugte Mensch zu einem Auslaufmodell. Nicht nur die künstliche Intelligenz verdrängt uns zunehmend, sondern auch die künstliche Befruchtung.
Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten. Der Zug ist abgefahren. Wir können nur noch aus ihm aussteigen. Wählen wir uns hierfür einen Ort, an dem es noch Natur gibt. Vielleicht gibt es keinen Bahnhof. Vielleicht müssen wir springen. Tun wir es.
Suchen wir uns den nächsten Baum und lehnen wir uns an seinen Stamm. Fühlen wir, wie der Boden lebt. Beobachten wir, wie auf den Tag die Nacht folgt und auf sie wieder der Tag. Erinnern wir uns daran, dass auch wir zyklisch eingestellt sind. Nehmen wir Kontakt mit dem eigenen Körper auf. Berühren wir uns. Fühlen wir. Suchen wir die Verbindung. Erforschen wir uns neu. Fassen wir erneut Vertrauen in unseren Körper. Er ist noch da. Bis hierhin hat er uns begleitet. An uns ist es, ihn dorthin zu führen, wo die Lebenslust ist.
Wie sähe eine solche Vision aus? Wie wäre eine Welt, in der nicht ein Endzeitszenario ein anderes jagt, eine Welt ohne Last Generation und No Future, ohne junge Menschen, die sich mit den Händen am Asphalt festkleben, sondern die ihre Finger dazu benutzen, achtsam und zärtlich den Körper des anderen zu erkunden? Eine Welt, in der sich die Menschen berühren und in die Arme nehmen, in der die Erwachsenen es lernen, sich um ihre Verletzungen zu kümmern, und in der Kinder willkommen sind.
Es kann dauern, bis diese Welt Wirklichkeit ist. Doch es kann ganz schnell gehen, die Bedingungen dafür zu schaffen. So schnell, wie wir vom Schlaf ins Aufwachen kommen. Es kann lange dauern einzuschlafen. Doch das Aufwachen geschieht oft mit einem Schlag. Plötzlich ist alles klar. Plötzlich wissen wir ganz genau, was wir zu tun haben, um aus einer kurzen Geschichte der Menschheit eine lange werden zu lassen.