An die Kinder des Krieges
Der renommierte Journalist Chris Hedges wendet sich mit einem Brief an alle Kinder in Gaza, die die Hauptleidtragenden des Krieges sind.
Jeder Kriegstag im Leben eines Kindes ist einer zu viel. Jede Detonation, die vielen Schüsse und all die Schreie werden ein Kind zeitlebens verfolgen. Im schlimmsten und nicht seltenen Fall werden Kinder eines Tages genau zu jenen Kriegern, durch die sie in Kindheitstagen traumatisiert wurden. Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden. Öffentlichkeit für diese Schrecken zu schaffen ist einer der wichtigsten Schritte in diese Richtung. Der Pulitzerpreisträger Chris Hedges reiste erneut nach Ägypten, um von der Gazagrenze bei Rafah von dem unbeschreiblichen Leid zu berichten. Auf dem Hinflug nach Kairo verfasst er einen sehr persönlichen Brief an all die Kinder des Freiluftgefängnisses, welche tagein, tagaus um ihr Leben bangen müssen.
Liebes Kind. Es ist schon nach Mitternacht. Ich fliege mit einer Geschwindigkeit von mehreren Hundert Stundenkilometern in der Dunkelheit, Tausende Meter über dem Atlantik. Ich bin auf einer Reise nach Ägypten. Ich werde zur Grenze von Gaza bei Rafah gehen. Ich gehe deinetwegen.
Du warst noch nie in einem Flugzeug. Du hast Gaza nie verlassen. Du kennst nur volle Straßen und Gassen. Die Bruchbuden aus Beton. Du kennst nur die Sicherheitsbarrieren und Zäune, die von Soldaten bewacht werden und Gaza umgeben. Flugzeuge machen dir schreckliche Angst. Kampfjets. Angriffshubschrauber. Drohnen. Sie kreisen über dir. Sie werfen Raketen und Bomben ab. Ohrenbetäubende Explosionen. Die Erde bebt. Gebäude stürzen ein. Die Toten. Die Schreie. Die gedämpften Hilferufe unter den Trümmern.
Es hört nicht auf. Nacht und Tag. Gefangen unter den Trümmerhaufen aus Beton. Deine Spielkameraden. Deine Schulfreunde. Deine Nachbarn. In Sekunden verschwunden. Du siehst ihre kreidebleichen Gesichter und schlaffen Körper, wenn sie ausgegraben werden. Ich bin ein Reporter. Es ist meine Arbeit, das zu sehen. Du bist ein Kind. Du solltest das niemals sehen.
Der Gestank des Todes. Verwesende Leichen unter zerbrochenem Beton. Du hältst den Atem an. Du verdeckst deinen Mund mit einem Stück Stoff. Du gehst schneller. Dein Viertel ist zu einem Friedhof geworden. Alles, was dir vertraut war, ist verschwunden. Dein starrer Blick ist verwundert. Du fragst dich, wo du bist.
Du hast Angst. Explosion um Explosion. Du weinst. Du klammerst dich an deine Mutter oder deinen Vater. Du hältst dir die Ohren zu. Du siehst das weiße Licht einer Rakete und wartest auf den Knall. Warum bringen sie Kinder um?
Was hast du denn getan? Warum kann dich niemand schützen? Wirst du verletzt werden? Wirst du ein Bein oder einen Arm verlieren? Wirst du blind werden oder im Rollstuhl sitzen? Warum wurdest du geboren? War es für etwas Gutes? Oder hierfür? Wirst du groß werden? Wirst du glücklich sein? Wie wird es ohne deine Freunde sein? Wer wird als nächster sterben? Deine Mutter? Dein Vater? Deine Brüder und Schwestern? Jemand, den du kennst, wird verletzt werden. Bald. Jemand, den du kennst, wird getötet werden. Bald.
Nachts liegst du im Dunkeln auf dem kalten Betonboden. Die Telefone sind tot. Das Internet funktioniert nicht. Du weißt nicht, was gerade passiert. Da sind Lichtblitze. Es gibt Wellen von Erschütterungen durch Explosionen. Da sind Schreie. Es hört nicht auf.
Wenn dein Vater oder deine Mutter auf die Jagd nach Nahrung oder Wasser gehen, wartest du. Dieses schreckliche Gefühl in deinem Bauch. Werden sie wiederkommen? Wirst du sie wiedersehen? Wird dein kleines Zuhause als nächstes dran sein? Werden die Bomben dich finden? Sind dies deine letzten Augenblicke auf Erden?
Du trinkst salziges, schmutziges Wasser. Du musst dich schlimm übergeben. Dein Bauch tut weh. Du hast Hunger. Die Bäckereien sind zerstört. Es gibt kein Brot. Du isst eine Mahlzeit täglich. Nudeln. Eine Salatgurke. Bald wird dies wie ein Festmahl erscheinen.
Du spielst nicht mit deinem Fußball aus Lumpen. Du lässt deinen Drachen aus alten Zeitungen nicht fliegen.
Du hast ausländische Reporter gesehen. Wir tragen kugelsichere Westen, auf denen das Wort „PRESSE“ steht. Wir haben Schutzhelme. Wir haben Kameras. Wir fahren in Jeeps. Wir erscheinen nach einem Bombenangriff oder einer Schießerei. Wir sitzen lange beim Kaffee und reden mit den Erwachsenen. Dann verschwinden wir wieder. Normalerweise interviewen wir keine Kinder. Ich habe aber Interviews gemacht, wenn Gruppen von euch um uns herum standen. Lachend. Mit dem Finger zeigend. Uns bittend, ein Foto von euch zu machen.
Ich bin in Gaza von Jets bombardiert worden. Ich bin in anderen Kriegen bombardiert worden — in Kriegen, die ausgefochten wurden, bevor du geboren wurdest. Auch ich hatte sehr große Angst. Ich träume noch immer davon. Wenn ich die Bilder von Gaza sehe, kehren diese Kriege mit der Kraft von Blitz und Donner zu mir zurück. Dann denke ich an dich.
Wir alle, die wir den Krieg erlebt haben, hassen den Krieg vor allem dafür, was er den Kindern antut.
Ich habe versucht, deine Geschichte zu erzählen. Ich habe der Welt zu erzählen versucht, dass Menschen, die man grausam behandelt, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt, denen man Freiheit und Würde verweigert, die man demütigt und in einem Freiluftgefängnis einsperrt, die man tötet, als seien sie wilde Tiere, sehr wütend werden. Dann tun sie anderen das an, was ihnen selbst angetan wurde. Ich habe es immer wieder und wieder gesagt. Ich habe es sieben Jahre lang gesagt. Nur wenige haben zugehört. Und nun das.
Es gibt sehr mutige palästinensische Journalisten. Seit Beginn der Bombardierung wurden 39 davon getötet. Sie sind Helden. Das Gleiche gilt auch für die Ärzte und Krankenpfleger in euren Krankenhäusern. Ebenso die UN-Mitarbeiter — 89 von ihnen sind gestorben. Und die Fahrer von Rettungswagen und die Sanitäter. Die Rettungsteams, die die Betonplatten mit ihren Händen hochheben. Und die Mütter und Väter, die dich vor den Bomben schützen.
Aber wir sind nicht dort. Diesmal nicht. Wir können nicht hinein. Wir sind ausgesperrt.
Reporter aus aller Welt gehen zum Grenzübergang bei Rafah. Wir gehen dorthin, weil es uns nicht möglich ist, dieses Gemetzel anzusehen und nichts zu tun. Wir gehen dorthin, weil täglich Hunderte von Menschen sterben, darunter 160 Kinder. Wir gehen dorthin, weil dieser Völkermord aufhören muss. Wir gehen dorthin, weil wir Kinder haben. Wie du. Kostbar. Unschuldig. Geliebt. Wir gehen dorthin, weil wir wollen, dass du lebst.
Ich hoffe, dass wir uns eines Tages begegnen. Du wirst dann erwachsen sein. Ich werde ein alter Mann sein — aber für dich bin schon jetzt sehr alt. In meinem Traum für dich wirst du frei und glücklich sein. Niemand wird versuchen, dich zu töten. Du wirst mit Flugzeugen fliegen, die voller Menschen sind, nicht voller Bomben. Du wirst nicht in einem Konzentrationslager in der Falle sitzen.
Du wirst die Welt sehen. Du wirst erwachsen werden und Kinder haben. Du wirst alt werden. Du wirst dich an dieses Leid erinnern, aber du wirst wissen, dass es bedeutet, dass du anderen helfen musst, die leiden. Das ist meine Hoffnung. Mein Gebet.
Wir haben dich im Stich gelassen. Dies ist die furchtbare Schuld, die wir tragen. Wir haben es versucht. Aber wir haben es nicht fest genug versucht. Wir werden nach Rafah gehen. Viele von uns. Reporter. Wir werden an der Grenze zu Gaza stehen — im Protest. Wir werden schreiben und Filme drehen. Genau das tun wir. Es ist nicht viel. Aber es ist etwas. Wir werden deine Geschichte nochmal erzählen. Vielleicht dürfen wir dich dann um Vergebung bitten.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Letter to the Children of Gaza“ auf dem Blog von Chris Hedges. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.