An die Arbeit, Ruhrgebiet!
Ein Anschlag wie der auf den Mannschaftsbus des Fußballvereins Borussia Dortmund vom 11.04.2017 versetzt die Menschen in einen Schockzustand.
Emotional aufgewühlt von Nachrichten und Bildern treffen Menschen irrationale Entscheidungen. Die öffentliche Meinung, ein wichtiger Machtfaktor, lässt sich leicht interessengleitet beeinflussen. Es ist an der Zeit zu lernen, sich aus Angst- und Schockzuständen wieder zu befreien. Denn nach dem Anschlag ist vor dem Anschlag.
Der 11.04.2017 wird der Fußball-Welt mit Sicherheit einige Zeit im Gedächtnis bleiben. Das ist klar, denn dass ein Champions-League Viertelfinale abgesagt wird, weil es - zumindest laut massenmedialer Berichterstattung - „vermutlich einen gezielten Anschlag“ (Der Westen) auf einen Fußballverein gegeben hat, kommt nicht alle Tage vor.
Glücklicherweise sind keine Toten zu beklagen, sondern ein verletzter Spieler und ein Polizist. In den Medien wird jedoch ausgiebig dafür gesorgt, dass Angst, Wut und Schrecken weiter angefacht wird. Die Medien lassen keine Besonnenheit walten oder warten präzise Analysen und Ermittlungen ab. Wer den Anschlag begangen hat, ist völlig unklar. Doch es werden rasch Verdächtige geliefert. Keiner kommt zur Ruhe, um den Schock zu verarbeiten und wieder klar denken zu können. Und das ist nicht gut so.
„Der Schock sitzt tief“ tönt tagesschau.de
Die Fußballmannschaft Borussia Dortmund ist auf dem Weg vom Hotel zum Stadion, als auf dem Weg drei in einer Hecke versteckte Sprengsätze explodieren und den Spieler Marc Bartra sowie einen Begleitpolizisten auf dem Motorrad verletzen. Am nächsten Tag wird das Spiel nachgeholt und 2:3 aus Dortmunder Sicht verloren. Die Tagesschau präsentiert auf ihrer Internetseite ein Interview mit der ARD-Sportmoderatorin Sabine Töpperwien, mit dem reißerischen Titel: „Der Schock sitzt tief".
Einen Tag später sind bereits zwei Tatverdächtige aus dem „islamistischen Spektrum“ gefunden und einer davon bereits verhaftet worden. Grundlage der Ermittlungen sind drei textgleiche Bekennerschreiben, die man am Anschlagsort gefunden hat. Frauke Köhler, Staatsanwältin am Bundesgerichtshof berichtet in einer Reuters-Pressekonferenz am 12.04.2017, dass in den Schreiben der Abzug von Tornados in Syrien und die Schließung der Ramstein-Airbase gefordert wird.
Wiederum einen Tag später lässt Reuters am 13.04. 2017 verlauten, dass der festgenommene Iraker Abdul Beset A. doch nichts mit dem Anschlag zu tun hat. Es wird also weiter ermittelt und das ist auch spannend, denn es wird gegen „Links- und Rechtsextremisten“ ermittelt.
Kumpel heißt Verlässlichkeit
Das Ruhrgebiet ist für einen Anschlag dieser Art, von wem auch immer er begangen wurde, besonders gut ausgewählt, wenn er dazu dienen soll, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Der „Ruhrpott“ im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen ist durch zwei wesentliche Elemente des sozialen Zusammenhaltes charakterisiert: Bergbau und Fußball.
In der Region gibt es eine „Kumpel-Kultur“, die aus dem Bergbau stammt. Wenn man in den Kohlestollen, die Grube, einzieht, muss man sich auf seinen Kollegen, seinen „Kumpel“ verlassen können, weil die Arbeit unter Tage gefährlich ist. Auch wenn der Bergbau in der Region inzwischen an Dominanz verloren hat, ist die „Kumpel-Kultur“ dennoch erhalten geblieben und als wichtiger sozialer Faktor der Region eingeprägt. Dies findet sich im Ausdruck „Verlässlichkeit zählt am meisten“ wieder.
In der Freizeit trifft man sich dann, teilweise mit der ganzen Familie auf dem Platz, im Stadion oder vor der live-Übertragung im Fernsehen. Fußball als „Arbeitersport“ ist in dem immer noch als „Arbeiter-Region“ geltenden Ruhrgebiet Ausdruck von Zusammenhalt und Solidarität. An der größten Dichte von Fußballvereinen in der Region im Vergleich zu anderen Bundesländern lässt sich das ablesen.
Wird dieses innere sichere Grundverständnis von „mein Nachbar ist mein Kumpel“ und „Es gibt keinen Zusammenhalt und keine Verlässlichkeit mehr“ erschüttert, kann das eine ganze Region traumatisieren, in Schockstarre versetzen. Sofort kochen die Emotionen hoch. „Bald ist man ja vor gar nichts mehr sicher“ ist auf den Straßen, in Bus und U-Bahn zu hören, oder in sozialen Netzwerken zu lesen.
Es herrscht gedrückte Stimmung und die Gesichter der Menschen auf den Straßen sind ernster als sonst. Sie sind nicht nur schockiert, sondern auch wütend, wenn es jemand wagt, Solidarität und den sozialen Frieden zu missachten. Normalerweise wird ein Kumpel, auf dem man sich nicht verlassen kann, als antisolidarisch ausgegrenzt.
Nach einem solchen Anschlag kann sich die zunächst die Wut und soziale Ächtung gegen niemanden richten. So wird es leicht für Propaganda, einen Schuldigen zu liefern, der von den anderen getrennt und ausgegrenzt wird.
Pseudo-Beruhigung durch Terror-Frame
Sind die Emotionen aufgewühlt, ist also Vorsicht geboten. Die Frage „Wem nützt es?“ kann eine zielführende Frage sein, wenn man sich damit beschäftigt, wessen Interessen durch einen solchen Anschlag vertreten werden. Die Frage führt vielleicht zu umfassenden Informationen zu den Hintergründen von Anschlägen und den darin verwickelten Akteuren. Für große Teile der Bevölkerung ist dieser Zugang zu gesicherten Informationen jedoch verschlossen, weil eine Analyse von Zusammenhängen Expertenwissen, Zugang zu Quellen und Zeit bräuchte, um seriös zu sein.
Da es auf Dauer unerträglich ist, sich in einem emotionalen Schockzustand zu befinden, haben ermittlungstechnische und medial vermittelte „Schnell-Lösungen“ leichtes Spiel. Eine schnelle Präsentation von Tätern, zeitnahe Darstellung von Zusammenhängen, bestimmte Zuschreibungen, wie im genannten Fall „dem islamistischen Spektrum“ zugehörig, beruhigen scheinbar.
Allerdings bleibt das Gefühl der Anspannung auf diese Weise bestehen, weil schnelle Lösungen nur scheinbar beruhigen können. In der Tiefe bleibt ein unterschwelliges Gefühl von Verunsicherung und des Alleinseins zurück, denn wenn davon auszugehen ist, dass es keine Verlässlichkeit einer „Schicksalsgemeinschaft“ unter den Menschen gibt, dann ist jeder auf sich selbst zurückgeworfen.
Da der Mensch ein soziales Wesen ist, gerät er in eine Krise, wenn er von anderen Menschen getrennt ist und wird leichter empfänglich für Manipulation und Propaganda, welche den Wunsch nach Solidarität und Verbundenheit in eine gewollte Richtung lenkt, zum Beispiel für die Fußballmannschaft und gleichzeitig gegen „den Terror“.
Der Anschlag auf den Mannschaftsbus in Dortmund kann und soll in dem Deutungs- und Interpretationsrahmen „Terror“ interpretiert werden. Innerhalb dieses so genannten „Frame“ kommt Solidarität als Ausdruck von Verbundenheit mit allen Menschen nicht vor, sondern Solidarität meint eigentlich Trennung, und zwar vom „islamistischen Spektrum“, was auch immer das sein soll.
„Frames“ prüfen und ergänzen
Es ist also von zentraler Wichtigkeit, Strategien zu entwickeln, die nicht nur medialer Beeinflussung etwas entgegensetzen, sondern die uns dorthin führen, dass wir uns mit allen Menschen verbunden und dadurch sicher fühlen.
Wie kann man sich also aus dem Schock wieder befreien, und sich damit obendrein von der Beeinflussung durch medial vermittelte Feindbilder unabhängig machen?
Eine wesentliche Möglichkeit besteht darin, auf die eigenen Gedanken und Gefühle zu achten und die eigenen Denk- und Interpretationsrahmen zu hinterfragen. Doch wie geht das?
Anregung zum Weiterdenken: The Work von Byron Katie
Eine Möglichkeit bietet die amerikanische Lehrerin Byron Katie mit ihrer Methode, die sich „The Work“ nennt und mit der sie inzwischen sehr bekannt geworden ist, weil sie sich als hilfreich bei seelischem Leiden, auch dem durch gesellschaftliche und politische Machtverhältnisse verursachten, erwiesen hat.
„The Work von Byron Katie ist ein Weg, jene Gedanken zu identifizieren und zu hinterfragen, die alles Leiden in der Welt verursachen. Es ist ein Weg, der zum inneren Frieden und zum Frieden mit der Welt führt.“ (www.thework.com)
Kernpunkt von The Work sind vier Fragen, mit denen man seine Gedanken und Gefühle hinterfragen kann. Die Fragen lauten:
- Ist es wahr?
- Kannst Du mit absoluter Sicherheit sagen, dass es wahr ist?
- Wie reagierst du, was passiert, wenn Du diesen Gedanken glaubst?
- Wer wärst Du ohne den Gedanken?
Ist beispielsweise der Gedanke „Überall sind Terroristen, ein Anschlag kann uns jederzeit treffen“ wahr? Stimmt das überhaupt? Selbst wenn diese Frage mit „Ja“ beantwortet wird, ist es doch oft so, dass wir kaum mit absoluter Sicherheit sagen können, dass überall Terroristen sind, die uns jederzeit umbringen können. Wir müssen bei dieser Frage recherchieren: Wer sind die Terroristen? Wie viele gibt es? Wie viele Menschen in meiner Nähe sind in der letzten Zeit durch Terroristen umgekommen?
Frage 3 macht klar, in welchen „Frames“ ich denke. Habe ich Angst? Bin ich im Schockzustand? Bin ich wütend? Ziehe ich mich aus Angst zurück? Werde ich misstrauisch? Die vierte Frage löst mich aus meinen bisherigen Gedanken und Reaktionsmustern, weil ich mir vorstellen muss, wie ich mich fühlen würde, wenn ich nicht glauben würde, dass überall Terroristen sind und mich ein Anschlag treffen kann. Vielleicht würde ich mich wieder sicherer fühlen.
Byron Katie sagt oft in ihren Gesprächen über The Work, von denen sich zahlreiche auf YouTube finden, dass ihre Methode nicht umsonst „Arbeit“ heißt, denn nach Beantwortung dieser vier Fragen erfolgt die so genannte „Umkehrung“. Das bedeutet, dass man die eigenen Aussagen in das Gegenteil verkehrt. Im genannten Beispiel könnte die Umkehrung lauten: „Es sind nicht überall Terroristen, ein Anschlag kann mich nicht jederzeit treffen“.
Die Umkehrung ist ein entscheidender Schritt, denn sie führt zum Denken und Fühlen einer Alternative. Das ist insbesondere in Bezug auf das Erlangen von Medienkompetenz von Bedeutung.
Wenn man beispielsweise Prof. Rainer Mausfeld Glauben schenkt, dass wir durch Medien und Propaganda so „mental vergiftet“ sind, dass wir uns gar keine Alternativen mehr vorstellen können, braucht es dringend einen Weg, alternative „Frames“ überhaupt denkbar machen zu können. The Work könnte ein solcher Weg sein.
Innere Sicherheit anders gedacht
Da es sich um ein menschliches Grundbedürfnis handelt, sich solidarisch mit anderen Menschen verbunden zu fühlen, ist es wichtig, der medial vermittelten Unsicherheit etwas entgegenzusetzen.
Wenn wir in Schockstarre sind, ist es wichtig, dass wir unsere Gefühle und Gedanken hinterfragen und nicht einzig die Frage „Wem nützt es?“ stellen, sondern zusätzlich die Frage: „Ist es wahr?“. Das würde nicht nur zu mehr Medienkompetenz, sondern auch zu innerer Sicherheit und innerem Frieden führen – trotz und gerade in Zeiten von Krieg und Terror. Machen wir uns also an die Arbeit, unsere Denk- und Interpretationsrahmen zu hinterfragen.
Es ist anstrengend, aber eine echte Alternative zu den bisher üblichen „Sicherheitsmaßnahmen“, die massiv unsere Freiheit einschränken und unseren Frieden gefährden. Probieren wir es doch gleich mal beim nächsten Anschlag, über den in den Medien emotional aufgeheizt berichtet wird, aus und fragen wir uns „Ist es wahr?“