Am Rande eines Weltereignisses

Eine Manova-Autorin erlebte die „Explosion“ in Palästina im Westjordanland.

Dieser Bericht ist keine objektive Darstellung, sondern die Wiedergabe eines subjektiven Erlebens in Tagebuchform. Die Autorin ist seit Jahrzehnten mit einem palästinensischen Arzt verheiratet und hielt sich zufällig zum Zeitpunkt des Hamas-Überfalls bei ihrer Familie in Nablus auf. Die Wertungen und Gefühle, die in dem Bericht zum Ausdruck kommen, zielen weder auf eine historische oder politische Einbettung, noch versuchen sie, ausgewogen zu sein. Vielmehr geben sie auf eine authentische Art und Weise der Perspektive der palästinensischen Menschen Raum, welche vor allem in Deutschland weitgehend außen vor bleibt.

Vorbemerkung

Unser „Urlaub“ war eine intensive Erfahrung. Vor allem: Wir hatten zu keinem Zeitpunkt Angst. Wir fühlten uns geborgen — in der Familie und bei den Menschen in Nablus. Geborgen, aufgehoben und auch beschützt durch die Menschen, denen es allen gleich geht. Obwohl wir jede Nacht die Militärflugzeuge hörten. Hier in Deutschland, in der Sicherheit und im „Wohlstand“, fühlen wir Bedrückung, Vereinzelung.

Tagebuch

Es ist etwas Unglaubliches und nicht Vorstellbares passiert: Das größte Freiluftgefängnis der Welt, das Getto von Gaza, das seit über fünfzehn Jahren komplett durch die Israelis von der Außenwelt abgeriegelt ist, fängt einen Krieg gegen Israel an! Besetzt Siedlungen, nimmt Gefangene, reißt die Grenze zwischen Gaza und Israel ab.

Ein massiver Aufstand gegen die israelische Unterdrückung. Was bleibt den Palästinensern anderes als Widerstand, nachdem die Vereinbarungen von Oslo (1993) gescheitert sind, die einen eigenen Staat für die Palästinenser vorsehen und Israel seitdem den Palästinensern immer mehr Land raubt, neue Siedlungen baut, alte erweitert. Die Reaktion der israelischen Regierung ist jetzt die Umwandlung Gazas von einem Freiluftgefängnis in ein Massengrab.

Die Welt schaut zu, verurteilt die Palästinenser, als ob sie Israel besetzten und nicht umgekehrt. Natürlich ist jede Gewalt zu verurteilen, egal von wem und gegen wen. Aber was sollen die Palästinenser machen, wenn ihnen kaum Luft zum Atmen bleibt?

Während ich diese Zeilen schreibe, sind bei den massiven Angriffen auf Gaza laut dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (ONRWA) 187.000 Menschen aus ihren Unterkünften in Gaza geflüchtet. Ihre angestammte Heimat — Ländereien und Häuser — ist seit 1948, der Gründung von Israel, einen Steinwurf von ihnen entfernt, zum Beispiel Ashquelon und Aschdod. Diese Orte werden jetzt von Israelis, den sogenannten Siedlern, bewohnt. Die Palästinenser können nicht nach Hause, obwohl sie laut den Beschlüssen der Vereinten Nationen (UN) das verbriefte Recht haben, in ihre Heimat zurückzukehren. Israel jedoch anerkennt diese Beschlüsse nicht.

Der 7. Oktober, ein Samstagmorgen. Seit zwei Tagen sind wir wieder zu Besuch bei der Familie in der Westbank, in Nablus. Bei bedecktem Himmel auf die andere Bergseite Ebal schauend, lassen wir unseren gestrigen Ausflug nach Jenin in Gedanken noch einmal an uns vorbeiziehen.

Jenin: eine Hochburg des palästinensischen Widerstandes. Ständig gibt es Angriffe der israelischen Armee auf das Flüchtlingslager in Jenin — man will der „Terroristen“ habhaft werden. Wir wollen mit ihnen sprechen, kommen aber nicht hinein, weil durch Kreuze aus Metall die Zufahrtstraßen gesperrt sind, um ein Eindringen der israelischen Armee zu verhindern. Versorgungsfahrzeuge, die in das Lager wollen, rufen eine bestimmte Telefonnummer an. Man trifft sich und klärt das Anliegen.

Es ist Krieg! Um sechs Uhr fand der Überraschungsangriff der Hamas auf Israel statt! Jüdischer Feiertag, alle schlafen, die israelische Armee nicht in Alarmbereitschaft, niemand rechnet mit einem Angriff, so scheint es. Oder ist es anders ? Israel hat an der Grenze zu Gaza den sichersten Zaun der Welt geschaffen, dem sich nicht mal ein Vogel unbemerkt nähern kann. Sie haben den besten Geheimdienst der Welt, Mossad, so sagt man, und wollen so einen Angriff nicht bemerkt haben?

Zu Lande, über Wasser und durch die Luft findet zur gleichen Zeit der Angriff der Hamas statt. Tausende Raketen seien von Gaza auf Israel gefallen, so sagt Hamas, die militärische und politische Führung in Gaza, und umgekehrt von Israel auf Gaza. Tel Aviv sei bombadiert worden; im Fernsehen sind brennende Autos, Verletzte, Tote auf den Straßen zu sehen. Der Flughafen Ben Gurion ist geschlossen. Das erste Mal in der Geschichte des palästinensisch-israelischen Konfliktes haben die Kämpfer aus Gaza die Grenze zu Israel überschritten. Alle Grenzübergänge von Gaza nach Israel sind von den palästinensischen Kämpfern besetzt. Sie sind in Siedlungen, die an der Grenze zu Gaza liegen, eingedrungen, es gibt Tote, Verletzte und Gefangene. Auch die deutschen Leitmedien berichten über die palästinensischen Terroristen, die Israel vernichten wollen.

Eine neue Dimension im Konflikt zwischen Israel und Palästina, so eine ausgefeilte militärische Intervention seitens der Hamas, das gab es bis jetzt nicht!

Auslöser für diese Situation: Seit 1967 — Sechstagekrieg, in dem Israel Palästina vollständig besetzte sowie die Golanhöhen und die Sinaihalbinsel — sind die Israelis bestrebt, die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem zu teilen, in einen Teil für die Palästinenser und einen für die Juden, so wie das in Hebron in der Ibrahim-Moschee der Fall ist. Seit der letzten Woche wird den Palästinensern der Zutritt zu Jerusalem und zur Al-Aksa-Moschee massiv erschwert. In Abständen haben Siedler die Moschee in Begleitung der Armee gestürmt.

Während ich dies schreibe, sitzen wir gemütlich auf unserer Couch, circa dreißig Kilometer von Tel Aviv entfernt und trinken Kaffee. Zwei Stunden später Frühstück mit alten Freunden in einem Restaurant am Rande der Stadt, wie beim letzten Aufenthalt. Leilas Kommentar bei der Begrüßung: „Diesmal haben sie (Hamas) es ihnen (Israel) gezeigt!“ Die Musik im Restaurant ist besonders laut. Sie spielen revolutionäre Lieder. Ich wundere mich, dass heute, am Feiertag, wir die einzigen Gäste sind. Sie seien alle in der Stadt tanzend und Knafeh (orientalische Süßigkeit) essend vor lauter Freude darüber, was heute Morgen passiert ist.

Muna ist mit dem Taxi hierhergekommen. Auf die Frage des Fahrers, wohin sie wolle, antwortete sie: „Ich treffe mich mit Freunden zum Frühstück.“ Darauf er: „Kannst du heute drauf verzichten. Vielleicht frühstücken wir alle bald am Strand in Jaffa.“ Muna: „Unser Traum von der Rückkehr in die Heimat könnte wahr werden.“ Die Palästinenser in der Westbank haben keinen Zugang zum Meer. Jaffa ist ein Stadtteil von Tel Aviv, am Meer liegend. Der Taxifahrer ist der Meinung, dass dieser neue Krieg die gesamte Situation verändern könnte, es keine israelisch besetzten Gebiete mehr geben werde und auch die Palästinenser ans Meer könnten.

Das trifft genau die Einschätzung der politischen Situation in der hoch emotionalen Diskussion beim Frühstück. Bassam: „Die Situation in Israel/Palästina wird nach diesem Schlag der Hamas nicht mehr die gleiche sein.“ Die Frühstücksrunde ist der einhelligen Meinung, dass die Zweistaatenlösung von Israel schon lange für tot erklärt wurde und auf ihr Begräbnis wartet. Die einzig vernünftige Lösung sei ein Staat Israel-Palästina, in dem alle Bürger in Gleichberechtigung leben. Dies sei auch die Meinung der Mehrheit der Palästinenser.

Nachdem wir gesättigt sind, wollen wir in das Zentrum fahren, die Stimmung erleben. Zu anderen Zeiten sind an Samstagen die Straßen voll von Autos aus Israel, erkennbar an ihren gelben Nummernschildern. Es sind Palästinenser, die in Israel leben, am Feiertag ihre Verwandten besuchen oder in den besetzten Gebieten preisgünstiger als in Israel einkaufen. Heute sind die Straßen leer.

An einer Kreuzung werden wir angehalten. Von allen Seiten kommen Männer zu unserem Auto — mit gelbem Nummernschild. Durch das offene Fenster entbrennt eine heftige Diskusion. Wer wir seien, was wir hier wollten. Es ist ungewöhnlich, uns hier, wie wir aussehen, in einem israelischen Auto in dieser Situation zu sehen. Was für eine aufgeheizte Stimmung! Eine unglaubliche Wut prasselt durch das geöffnete Fenster auf uns. Die Menschen sind misstrauisch. Es passiert, dass die israelischen Soldatinnen und Soldaten in Zivilkleidung unbehelligt, weil unauffällig, in die Stadt fahren und dann dort ihre Waffen zücken. In anderen Situationen reicht es, wenn Husam sagt, dass er Palästinenser und in Nablus geboren ist. Wir zeigen unsere Pässe. Sie glauben nichts. Erst als Husam den Namen eines nahen Verwandten nennt, der hier bekannt ist, dürfen wir weiter. Wir fahren nach Hause, ich ziehe einen Hijab (Kopftuch der Muslime) an, wir nehmen ein Auto mit palästinensischem Nummernschild und fahren wieder los.

Im Zentrum von Nablus Tausende Palästinenser im Freudentaumel. Sie ziehen durch die Straßen, palästinensische Fahnen enthusiastisch schwenkend, ihre Kinder auf den Schultern. Überschwengliche Reden durch Lautsprecher, eine euphorische Stimmung.

Israel hat Gaza zum Kriegsgebiet erklärt, Reservisten wurden einberufen

20.30 Uhr. Auf israelischer und palästinensischer Seite gibt es viele Tote, Verletzte und Gefangene, wesentlich mehr auf palästinensischer Seite. Der Sprecher von Hamas erklärt, dass die Gefangenen in Gaza so gut versteckt seien, dass niemand sie finden werde — gut vorstellbar, in Anbetracht des Tunnelsystems, das unter Gaza existieren soll. Wenn Israel Gaza bombardiere, würden auch die israelischen Gefangenen darunter leiden.

Sonntag, 8. Oktober. Eine ungewöhnliche Stille in der sonst so quirligen Großstadt. Generalstreik in Nablus, die Familien zu Hause. Alle starren auf ihren Fernseher, ihr Handy, schauen Videos, die die politische Situation wiedergeben sollen. Ähnlich wie in Nablus werden palästinensische Fahnen geschwenkt. Besonders die angrenzenden arabischen Länder solidarisieren sich lautstark mit den Palästinensern.

Al Jazeera berichtet rund um die Uhr, zeigt ständig die gleichen furchtbaren Bilder. Die Menschen starren diese Bilder ununterbrochen an, sie schieben sich in ihr Gehirn. So wird es niemals Frieden auf der Welt geben! Beständig Nachrichten, die die steigende Zahl an Verletzten, Toten und Gefangenen auf beiden Seiten wiedergibt.

Anruf von Verwandten aus Israel. Sobald wir aus Nablus heraus könnten — Zugänge seien gesperrt —, sollen wir das schnellstmöglich tun.

Aus dem Libanon sind Raketen auf Israel geworfen worden. Dort ist die Hisbolla die führende militärische und politische Macht.

Wir fahren in das Zentrum von Nablus. Ich ziehe wieder den Hijab an. Geschäfte, Cafés, Restaurants sind, bis auf ein paar Lebensmittelläden, geschlossen. Ebenfalls die Universität und die Schulen. Heruntergelassene Rollläden, manche nur halb, sodass es möglich ist, bei Gefahr schnell in den Schutz der Läden zu gelangen. Zur Entspannung fahren wir Oliven pflücken, in die Nähe von Sebastia.

20.00 Uhr, wieder zu Hause, Nachrichten hören und sehen. Amerika hat Militär nach Israel — Schiffe im Mittelmeer — geschickt. Wenn Amerikaner unter den Toten sind, können wir uns einmischen, so der Kommentar der Amerikaner. Jeder zweite Israeli hat einen ausländischen Pass.

Ein Militärexperte sagt, dass das, was passiert, mit der Ho-Chi-Minh-Strategie in Vietnam zu vergleichen sei. Eine Zermürbungsstrategie, durch die Israel langfristig keine Chance haben werde, seine Ziele zu erreichen. Welche könnten das sein?

Gaza „platt“ zu machen, das heißt, die Hamaskämpfer zu vernichten, die restliche Bevölkerung von Gaza auf die ägyptische Sinai-Halbinsel zu vertreiben. Israel wolle an die Gasvorkommen vor Gaza!

Die Bevölkerung des besetzten Westjordanlandss solle nach Jordanien. Das, was jetzt geschehe, werde die geopolitische Landkarte komplett verändern, so der Militärexperte. Die Vorstellung von Amerika, Israel und dem Westen vom minderwertigen Süden könne nicht mehr aufrechterhalten werden.

Vor dem Überraschungsüberfall der Hamas auf Israel hatten die Menschen im größten Freiluftgefängnis der Welt — mit circa 2,3 Millionen Einwohnern auf 360 Quadratkilometern — keine Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Jetzt besteht Hoffnung! Sie haben erlebt, dass ihre Situation grundsätzlich veränderbar ist — Israel ist nicht allmächtig. Ihre Gefängnismauern sind innerhalb weniger Minuten alle zur gleichen Zeit gesprengt worden! Nicht nur das: Das Gefängnis wurde verlassen. Hinter der Hamas, die in die Siedlungen eingedrungen sind, folgte die Bevölkerung von Gaza. Sie gingen in die Häuser der Siedler und haben sich Essen aus dem Kühlschrank geholt. Was für eine Botschaft!

Irakische Milizen sagen, wenn Amerika sich einmischt, sei jeder amerikanische Stützpunkt Ziel für sie. Spitzt sich die Situation zu? In den deutschen Nachrichten lese ich, dass wir die besetzten Gebiete verlassen sollten. Die vermulich 90-jährige Patriarchin der Familie — als sie geboren wurde, gab es noch keine Geburtsurkunden —, die sonst gesund ist, hat Bluthochdruck. Erinnert sie diese Situation an die eigene Vertreibung? Vor der Gründung des Staates Israel hat die Familie in der Nähe von Haifa/Israel gelebt. In bewundernswürdiger Weise behält die Familie Ruhe und Gelassenheit. Was sollen wir tun? In Nablus bleiben, hier passiere nichts, ist die einhellige Meinung.

Montag, 9. Oktober. Der „normale Wahnsinn“ ist eingekehrt. Die Euphorie ist vorbei. Es ist Krieg — und das war’s. Fahrt mit dem Auto mit israelischem Nummernschild in die Altstadt, ich lasse den Hijab zu Hause. Wir sehen geschmückte Autos, es werden Hochzeiten gefeiert, gelacht, gesungen und getanzt. Im Zentrum demonstrieren ein paar hundert Leute, die palästinensische Polizei skandiert. Alle Geschäfte sind wieder auf, eine Atmosphäre wie in normalen Zeiten. Gibt es zurzeit einen sichereren Ort in Palästina als Nablus?

Wir treffen einen alten Freund, der berufspolitisch gearbeitet und viele Jahre im israelischen Gefängnis verbracht hat: „Das ist die Gelegenheit, um die Leute zu mobilisieren.“ Er will zehn führende Köpfe sammeln und mit ihnen überlegen, wie die palästinensische Nationalbewegung wiederbelebt werden kann.

Beim Schlendern durch die Altstadt fragt mich im Vorbeigehen ein Mann, woher ich komme. „Alemani“, antworte ich ihm. „Na, dann ist ja gut“, sagt er nickend vor sich hin. Hu, ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Hat er vermutet, ich sei Israelin? Was wäre dann gewesen?

Israel hat Gaza flächendeckend bombardiert. Es gibt keinen Strom, kein Wasser, Versorgungsfahrzeuge aus Ägypten dürfen nicht nach Gaza. Im Fernsehen ist zu sehen, dass alles dunkel ist; hell sind nur die brennenden Häuser.

Ab heute dürfen nur noch Lebensmittel und Medikamente in die israelisch besetzten Gebiete, also auch Nablus, gebracht werden.

20.00 Uhr. Abendbrot mit der Familie. Immer wieder die Frage, was sollen wir tun? In Nablus warten oder so schnell wie möglich nach Israel, um irgendwie das Land zu verlassen? Die Grenze zu Jordanien sei auch zu. Israel sei menschenleer. Netanjahu habe die Bevölkerung aufgefordert, Lebensmittel zu kaufen und sich in den Bunkern, die viele Häuser haben, zu verstecken.

Dienstag, 10. Oktober. Meine Schwiegermutter berichtet uns die Neuigkeiten. Wieder Tote Palästinenser und Israelis. Statt des Grenzzaunes um Gaza stehen jetzt lückenlos Panzer. Israel will Rache üben, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der israelische Verteidigungsminister spricht von einer „kompletten Belagerung“ des Gazastreifens mit Abschaltung von Strom, Wasser und Lebensmitteln und von „menschlichen Tieren“, mit denen die Israelis es in Gaza zu tun hätten. Vor einer Bombardierung in Gaza sei die Zivilbevölkerung gewarnt worden. Was für eine Ironie: Wohin soll denn die Bevölkerung gehen im dichtest besiedelten Gebiet der Welt? Nirgendwohin! Kommt es zu einem Mehrfrontenkrieg?

Mittwoch, 11. Oktober. Wir wagen es, nach Sebastia zu fahren. Nach einem Kaffee mit dem Restaurantbesitzer fragen wir ihn, ob wir gefahrlos spazieren gehen und den Berg umrunden können. Kein Problem, meint er, wir sollten nur nicht an den Ruinen der Kirche stehen bleiben, es bestehe Gefahr, dass dann die Israelis aus der gegenüberliegenden Siedlung schießen. Wir gehen unsere Runde. Ich möchte durch die Olivenfelder und nicht den gut einsehbaren Weg entlang, aus einem Sicherheitsgefühl heraus. Hasan meint, dass wir uns gerade dann verdächtig machen. Recht hat er; so gehen wir auf dem Präsentierteller, zum Glück unbehelligt, oft mit vorsichtigem Blick zur Siedlung.

Donnerstag, 12. Oktober. Berührend, wie fürsorglich sich die Familie, Freunde und Bekannte um uns sorgen. Sie bitten, drängen, dass wir uns auf die Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes eintragen, was wir auch tun. Wir erhalten eine Mail um 13.32 Uhr mit der Nachricht, dass wir am nächsten Tag mit einem Flugzeug der Bundeswehr, welches Material zur militärischen Unterstützung der Israelis gebracht habe, zurückfliegen können. Wir haben bis 19.00 Uhr Zeit, uns zu einzutragen. Um 14.00 Uhr melden wir uns an und hören nichts mehr.

Es folgen Vorschläge für eine Ausreise in ähnlicher Art, für uns nicht realisierbar. Jeden Tag geistert die Frage durch unseren Kopf: Fahren wir oder bleiben wir? Das ungewöhnlich ruhige Nablus, die ausgeglichen, manchmal auch heiter wirkende Familie lässt uns in einer beobachtenden, gelassenen Stimmung bleiben.

Samstag, 14. Oktober. Eine Woche nach der Gazaoffensive auf Israel. Frühstück mit der Familie im Restaurant „1948“. Es wurde so benannt in Erinnerung an das Jahr, in dem Israel gegründet wurde, für die Palästinenser die „Nakba“, die Katastrophe.

In Israel arbeiteten circa 18.000 Palästinenser aus Gaza. Sie haben in Israel zu sechst, zu zehnt in einem Zimmer geschlafen, alle paar Wochen besuchten sie ihre Familien in Gaza. Eine Art moderner Sklaverei. Diese Palästinenser wurden jetzt durch die israelische Polizei vertrieben. Sie kamen am 7. Oktober nachts in die Zimmer, verbanden den Palästinensern die Augen und schnürten die Hände mit Kabelschnüren auf dem Rücken zusammen. Man lud sie auf LKWs, fuhr sie bis zur Westbank. Über vierhundert von ihnen wurden im Fußballstadion in Nablus untergebracht, die anderen verteilt im Westjordanland.

Wir fahren dorthin. Umgehend kommt Sami, Sportdozent an der Universität in Nablus, ein Koordinator, auf uns zu und führt uns durch die Hallen. Auf Matratzen liegen die Männer, essen, dösen oder schlafen. Er bittet uns, zwei Boiler für die Bäder zu kaufen, was wir auch tun. Als wir mitten auf dem Fußballplatz stehen, kommt ein Junge mit einem Ball auf uns zu. Sami streicht ihm über den Kopf. Was macht ein Kind in diesem Lager? Mohammad, 11 Jahre, aus Gaza. Wir beide schauen uns schmunzelnd an, ich raffe mein langes Kleid mit beiden Händen zusammen, wir fangen an, Fußball zu spielen. Ich sehe, wie aus dem Hintergrund langsam Männer auf uns zukommen. Sie spielen mit. Plötzlich hören wir auf, schauen uns alle an und beginnen herzhaft zu lachen. Ein Glücksmoment — „mit“, nicht „trotz“ alledem!

Sonntag, 15. Oktober. Wir wollen uns mit Mohammad unterhalten. Zur Begrüßung schenken wir ihm ein Federballspiel, mit dem ich erst mal mit ihm spiele. Er wirkt sehr angepasst — seine Überlebenschance? Bevor wir reden, spielen wir Schnick-Schnack-Schnuck. Wie ist er in diese Situation gekommen? Er hatte zu Hause in Gaza in eine Maschine gegriffen, sich dabei eine große Verletzung am rechten Arm zugezogen. Er wurde im Frühjahr diesen Jahres in Jerusalem operiert. Der Arm hat große Narben.

Im Oktober sollte er zur Nachuntersuchung, deshalb blieb er bei seinem Cousin, der einer der in Nazareth arbeitenden Palästinenser ist. Dort arbeitete Mohammad in einem Restaurant. Geschirr spülen, 12 Stunden am Tag, zwei Monate lang. Der Restaurantbesitzer habe ihm gezeigt, wo er sich verstecken könne, wenn eine Kontrolle käme. Als die israelische Polizei in der Nacht des 7. Oktober in die Zimmer der palästinensischen Arbeiter aus Gaza eindrang, sprang Mohammad aus dem Fenster und versteckte sich. Nachdem die Arbeiter auf LKWs geladen wurden, blieb im nichts anderes übrig, als mitzufahren.

Wie soll es weitergehen mit Mohammad? Zurück nach Gaza kann er jetzt nicht. Ratlosigkeit. Als einzige Kind unter vierhundert Männern leben?

Am nächsten Tag interviewen wir Omar, 30 Jahre. Seit dem 1. Juni 2023 sei er nicht zu Hause in Gaza gewesen. Vorher habe er alle vierzehn Tage seine Familie besucht. In Nazareth/Israel haben sie in einem Zimmer zu sechst gewohnt, von sechs bis achzehn Uhr gearbeitet und achtzig Euro am Tag verdient. Ihre Arbeit bestand im Reinigen von Gebäuden und Hilfsarbeiten auf dem Bau. In Gaza habe er vom Gemüseverkauf gelebt und vier bis fünf Euro am Tag verdient.

Vor zwei Wochen habe er mit seiner Familie telefoniert. Ihr Haus sei zum Teil zerstört. Zum Glück sei die Familie draußen gewesen. Nun seien sie in einer UN-Schule untergekommen, 18 Personen auf 100 Quadratmetern. Er habe vier Geschwister. Ein Bruder sei krank und habe neun Kinder, der Älteste 13 Jahre alt. Sein Vater sei 2015 gestorben, anschließend habe Omar die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Er sei seit 2016 verheiratet, habe keine Kinder. Es liege an ihm, er müsste behandelt werden, habe aber kein Geld dafür.

Die israelische Polizei sei in der Nacht gekommen, hätte ihn und die anderen 24 Stunden ins Gefängnis gesteckt und die ganze Zeit verhört. Dann um 1 Uhr nachts aus dem LKW geworfen. Ein Onkel sei verschollen. Solange er keinen Kontakt mit der Familie in Gaza habe, könne er nachts nicht schlafen.

„Was wünscht du dir, Omar?“ — „Ich will zu meiner Familie nach Gaza zurück, ein eigenes Zuhause haben, ein eigenes Kind im Arm halten.“

Mit erstarrter Miene und Körperhaltung erzählt er seine Geschichte. Uns laufen die Tränen über die Wangen.

Samir berichtet, dass von 15 Männern im Fußballstadion die Familien in Gaza in den letzten Tagen durch die israelischen Invasoren ausgelöscht worden seien. Weiter erzählt er, dass ein anderer Betreuer der Männer im Stadion gestern Nacht in seiner Wohnung in Nablus verhaftet worden sei. Er habe eine Familie, zwei kleine Kinder. Die Armee sei gekommen, habe mit einer Bombe die Tür gesprengt und ihn mitgenommen. Warum? Israel wolle nicht, dass den Männern aus Gaza solidarisch unter die Arme gegriffen werde. Nun werden die Männer diskret in Dörfern und Familien verteilt.

Wird so etwas mit uns passieren? Nein. Wir beschließen, das Land zu verlassen. Es ist uns zu gefährlich, die Straßen in Israel Richtung Tel Aviv zu benutzen. Wir hören von der Bombardierung einer Siedlung, Ariel, am Rande der Straße, über die wir fahren müssten. Auch der Flughafen wird bombardiert. Kein Taxi ist bereit, uns zu fahren. Es bleibt die Ausreise über Jordanien. Mit einem Taxi fahren wir zur Grenze, dann weiter nach Amman.

Der Taxifahrer bringt uns im Hilton-Hotel unter. Vor dem Eingang stehen fünf Sicherheitsleute. Einchecken wie im Flughafen: Gepäck über ein Rollband, wir gehen durch ein elektronisches Tor, werden mit einem Stab gescannt. Zusätzlich muss ich noch hinter einen Vorhang, werde von einer Frau abgetastet, sie kontrolliert nochmals meine Handtasche, die vorher schon über ein Rollband gelaufen ist. Dieses Prozedere jedesmal, wenn wir das Hotel betreten. Weiter geht's: ein mit einem Tablet digital gesteuertes Hotelzimmer. Ein Teil des arabischen Personals weigert sich, mit uns in ihrer Landessprache zu reden — nur Englisch. Die Zukunft? Uns graust davor. Aber nach zwei Tagen können wir nach Deutschland fliegen.

Das Morden in Gaza geht weiter. Die Bodenoffensive der Israelis schreitet ungehindert fort. Ein Genozid.

Der 4. November 2023. Fast einen Monat ist der Angriff der Hamas auf Israel her. Bei den Palästinensern soll es fast 10.000 Tote geben, davon rund 4.000 Kinder, 2.500 Frauen, 1.500 Verschollene, das heißt, sich unter den Trümmern befindend. In der Westbank mittlerweile 145 Tote und 2.100 Verhaftete. 1.400 tote Israelis, davon 136 Soldaten. Am 3. November wurde ein Krankenwagen in Gaza mit einer Rakete beschossen.