Am deutschen Wesen
Die Außenministerin hat ihre chinesischen Gastgeber mal wieder die abendländische Überlegenheit spüren lassen — ein sattsam bekanntes Spiel.
Die Chinesen müssen uns Deutsche sehr bewundern, nachdem sie unlängst von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock besucht wurden. Denn wie um Himmels willen — so denken sie vermutlich — können wir es mit einer solchen Person als Teil der Regierung aushalten? Es ist geradewegs eine teutonische Meisterleistung, eine derart bildungsferne Figur in einem solchen Amt zu ertragen. Die Deutschen können es — und womöglich wollen sie es auch. Denn eine solche Vertreterin des politischen Establishments, die auf fremdem Boden deutsche Werte verteidigt: Dergleichen schätzt man hierzulande.
Der Auftritt Baerbocks in China war skandalös und peinlich. Im Ausland schüttelt man den Kopf. Die Frau ist gänzlich ungeeignet für ein Amt, in dem diplomatisches Geschick nicht ganz unwesentlich ist. Im deutschen Medienbetrieb lobt man sie jedoch: Sie zeige Haltung — gemeint ist damit: Sie drückt anderen Ländern und Erdteilen das deutsche Wesen auf. Das zu loben hat Tradition. Man mag es eben seit geraumer Zeit wieder, wenn man sich über andere aufschwingt.
Man spricht wieder Deutsch in Europa
Die Wiedervereinigung stand vor einer hohen Hürde: Sie war nicht unbedingt politisch, sondern emotional. Viele in Europa fürchteten ein wiedererstarktes Deutschland als kontinentalen Hegemon, der Europa den Stempel aufzudrücken versucht. Die britische Premierministerin Thatcher artikulierte diese Sorge am lautesten und war dazu befähigt, der Wiedervereinigung im Wege zu stehen. Sie musste erst mal überzeugt, wenigstens aber beruhigt werden. Mancher in Osteuropa fürchtete ähnlich — komischerweise nicht die Russen. Sie glaubten naiverweise gemachten Versprechungen.
Außenpolitisch tat sich Deutschland einige Jahre nicht hervor. Noch hing man der alten Scheckbuchdiplomatie an. Bis der Krieg in Jugoslawien Deutschland erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg in die Lage versetzte, doch wieder einen Führungsanspruch geltend zu machen. Die deutsche Geschichte sollte nun nicht mehr mahnend angeführt werden, sondern handelnd. Deutschland profitierte in den Folgejahren als Exportweltmeister — einen Titel, mit dem man sich brüstete — am meisten von der Einführung des Euro und nutzte die Finanz- und Eurokrise dazu, Brüssel und dem Rest Europas, insbesondere dem kontinentalen Süden, das deutsche Wesen einzubläuen.
Dass man wieder Deutsch spreche in Europa: Das erklärte man — Volker Kauder war es, genau gesagt — voller Stolz. Angela Merkel wurde als Eiserne Kanzlerin und Mutter Europas hochgejazzt. Nur weil sie die deutsche Haltung, das Prinzip der schwäbischen Hausfrau im unmittelbaren Ausland hochhielt, könne die Europäische Union überleben. In Wirklichkeit sorgte sie dafür, dass deutsche Unternehmen in krisengeschüttelten Nachbarländern keine finanziellen Ausfälle in Kauf nehmen mussten. Die menschenverachtende Politik der Troika wäre ohne diesen deutschen Austeritätskurs nicht denkbar gewesen.
Spätestens mit der Rückkehr des Deutschen im Korsett europäischer Politik und der Etablierung einer deutschen Ex-Ministerin als EU-Präsidentin ließ man sich nicht mehr davon abbringen: Deutschland war wieder wer. In Europa. Und in der Welt. Wirtschaftlich war man das schon seit Jahrzehnten. Aber nach dem Krieg erlaubte man sich keine Großmannssucht. Die erwuchs erst in den Jahren nach der Wiedervereinigung. Man wirtschaftete das Land in die Krise, investierte nichts mehr, nahm Verarmung in Kauf und wollte dieses Modell den Nachbarn aufdrücken: Man sprach nicht nur Deutsch in Europa — man belehrte auch Deutsch. Man las sogar, Hartz IV sollte in andere europäische Länder exportiert werden.
Wie Tacitus — nur andersherum
Über Jahre hat sich eine Arroganz kultiviert, die mit Verachtung auf das Ausland blickt. Dass Annalena Baerbock da einen „Epochenbruch“ darstellen soll, stimmt so natürlich nicht: Sie ist das radikalisierte Produkt eines Deutschlands, das schon lange auf den Rest der Welt herabblickt. Das zeigt sich auch daran, wie man die Politiker der anderen sieht. Gemeinhin hält man sie für korrupt, verschlagen und größenwahnsinnig. Mit diesem Kniff kann sich die politische Kaste hierzulande aufhübschen: Man moralisiert um die Trumps, Orbáns und Erdoğans herum — ganz zu schweigen von Putin — und stellt sich selbst gegenüber: als anständig, moralisch und immer im Namen des Gemeinwohls unterwegs.
Es fühlt sich in diesem zeitgenössischen Deutschland offenbar gut an zu wissen, dass es überall sonst vermeintlich viel unfähigere und schlimmere Politiker und Zustände gibt.
Solche Geschichten schätzt man sehr heutzutage. Der Journalismus bereitet mit Vorliebe Storys auf, die sich dem Dunkelausland widmen. Er gibt damit einen modernen Tacitus. Allerdings umgekehrt. Denn der römische Historiker von einst ermahnte seine römischen Landsleute — der umgekehrte Tacitus wertet jedoch auf.
In seinem Werk „Germania“ hat Tacitus die Völkerschaften jenseits von Rhein und Donau in ein verklärtes, positives Licht gerückt. Die Germanen — Stämme jenseits der römischen Außengrenzen, die er so nannte — stellte er seinen römischen Lesern in purer Idealisierung vor. Die Dekadenz seiner Landsleute war es, die ihm diese Gegenspiegelung notwendig erscheinen ließen. Der edle Wilde aus den Wäldern des Nordens war laut Tacitus viel naturverbundener, als es der wohlstandsverwahrloste Bürger der Urbs, der sich in Toga gewandete und mit Brot und Spielen abfertigen ließ, es je sein wollte. Noch war nicht die spätrömische Dekadenz ausgebrochen, aber Tacitus ahnte wohl, dass sie eines Tages um sich greifen würde. Heute läuft das wie gesagt andersherum — heute hübscht der Journalismus in Deutschland die anderen nicht auf, er macht sie, ihre Volksvertreter, ihre Sitten und Lebensverhältnisse, möglichst hässlich.
Zu allen Zeiten hat es das gegeben, dass sich auserwählte Völker durch Abhebung konturierten und Wertigkeit verliehen. Viele Völker gaben sich Namen, die in ihrer Bedeutung nach nichts weiter als „Mensch“ meinen. Und damit war alles gesagt: Die afrikanischen Khoikhoi lassen sich etwa als die wahren Menschen, die bolivianischen Runakuna und die Kanaken aus dem Südpazifik schlicht als Menschen und die Slawen als Menschen des Wortes übersetzen. Sie sahen sich also als die menschliche Gattung — die anderen Völker jedoch nicht so ganz. Die alten Griechen nannten jene Völker Barbaren, was in etwa „Stotterer“ bedeutet, denn ihre Sprachen klagen für griechische Ohren wie Br-Br.
Haltungskolonialismus
Seit zwei Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine Politik mit dazugehöriger Haltung entwickelt, die austariert, wer man selbst in der Welt sein will. Im Regelfall funktioniert das mit Abhebung. Mit dem Ausland verbindet man alles, was man in diesem Land nicht haben möchte, aber durchaus hat. Die Bundesrepublik verkommt zu einer Bananenrepublik; besonders gut konnte man das während der Corona-Episode sehen. Überall mangelt es an Personal und Investitionswillen. Selbst in Italien, wo einst die Bahnen als die unpünktlichsten Europas galten, hat man die Bahn zu neuer Pünktlichkeit geführt. In Deutschland kann man froh sein, wenn der Zug überhaupt kommt.
Aber dennoch verweist man auf die schlimmen Strukturen im Ausland. Auf die Südeuropäer, die keinen Sinn für Tugenden haben, die man in der Gesellschaft der Arbeitsteilung benötigt. Doch wer geht heute in Deutschland bitte noch tugendhaft zur Arbeit? Die meisten haben sich in eine innere Emigration verabschiedet, schieben Dienst nach Vorschrift: Aber es tut gut, die anderen als noch verkorkster darzustellen. Das wertet ungemein auf und macht manchen Deutschen selig.
Neben dieser „strukturellen“ Beschau hat sich in den letzten Jahren auch noch eine Haltung entwickelt, die dem dummen Ausland auch gleich noch mitgeben will, wie man zu denken und zu fühlen hat. Ein regelrechter Haltungskolonialismus hat sich etabliert. Schon in der Finanzkrise gab es erste kolonialistische Auswüchse. Sie kaprizierten sich aber auf die Arbeitsethik, die man gleichsetzte mit deutschen Werten.
Zuletzt kam aber auch noch ein vermeintlich sozialer Kompass dazu. Man sollte nun von Deutschland lernen, was progressive Denkansätze sind, wie man sich zu gewissen Phänomenen des gesellschaftlichen Lebens zu verhalten hat. Und so fliegt man mal eben zu Großveranstaltungen, trägt symbolisch Armbinden und — was noch viel schlimmer ist — versetzt die gesamte Außenpolitik unter dieses Haltungsprimat.
Da steht dann eben Annalena Baerbock vor dem Mikrofon in China, setzt sich nachher hin, schlägt die Beine übereinander — was in China als höchst unanständig gilt — und erklärt dort den Menschen die Welt und wie man sie zu sehen hat. Sie tut das nicht aus einem Vakuum heraus. Baerbock ist die Konsequenz einer langen Entwicklung im Lande, die selbstgerechte Folge eines wiedervereinigten Deutschlands, das eben genau das wurde, was viele befürchteten: ein Hegemon. Mag ja sein, dass die Außenministerin an sich eine — sagen wir mal — unerotische Beziehung zur Bildung hat und auch das mit hineinspielt in ihre Auftritte. Aber auch Bildungsferne ist eben so eine deutsche Entwicklung. Das ist aber ein anderes Thema.