Am Bahngleis

Sie werden angepöbelt und teilweise körperlich angegangen: Die Mitarbeiter der Deutschen Bahn müssen das systematische Betriebsversagen jeden Tag direkt am Kunden ausbaden.

Die Arbeiterklasse hat es schwer. Sie wird verleugnet, man tut so, als gäbe es sie nicht. Aber es gibt sie nach wie vor. Zeit, dass sie mal wieder zu Wort kommt. Und zwar hier bei Manova — unter der Rubrik „Arbeiter? Klasse! Der Podcast für die Ungehörten“. Wir sprechen nicht über die, die schwer schuften — wir sprechen mit ihnen. Arbeiter? Klasse! — vierter Teil. Dieter Müller*: Servicemitarbeiter bei der Deutschen Bahn.

Roberto De Lapuente: Herr Müller, seien Sie gegrüßt. Wann wurden Sie das letzte Mal von einem unzufriedenen Fahrgast angeschnauzt?

Dieter Müller: Das passiert täglich. Aber meistens wird es nicht persönlich, sondern die Wut richtet sich gegen die Verspätung im Allgemeinen oder gegen Ausfälle. Der Unmut ist an die Bahn als Unternehmen adressiert. Persönliche Beschimpfungen sind eher selten.

Bitte erläutern Sie uns kurz, was Sie bei der Bahn machen.

Wenn man jemandem erzählt, dass man bei der Eisenbahn arbeitet, dann stellen sich immer alle vor, man fährt einen Zug. Oder man sei Schaffner. Das tue ich nicht. Man könnte meine Tätigkeit darauf herunterbrechen, dass ich mich acht Stunden am Tag beschimpfen lasse — und dann wieder nach Hause gehe.

So steht es hoffentlich nicht in Ihrer Stellenbeschreibung …

Nein, das steht nicht drin. Aber man muss schon stressresistent sein. Im Grunde ist meine Aufgabe, die Reisenden zu informieren und zu unterstützen. Oder jemanden zu begleiten, der Einschränkungen hat, etwa beim Umsteigen oder auch beim Aussteigen. Mobiler Service nennt sich das. Das ist das, was bei der Bahn noch am besten klappt, habe ich den Eindruck. Der Mobile Service kriegt jedenfalls das meiste positive Feedback.

„Welche Information kann ich überhaupt geben?“

Schämen Sie sich zuweilen, für die Deutsche Bahn zu arbeiten? Ich will ehrlich sein, wenn mir jemand begegnet und sagt, dass er dort arbeitet, habe ich immer gleich ein wenig Mitleid.

Mitleidsbekundungen bekommen wir auch direkt am Arbeitsplatz im Bahnhof. Da sagen dann Reisende zu uns: „In Ihrer Haut möchte ich nicht stecken“ oder „Um Ihren Job beneide ich Sie nicht“ oder ähnliches.

Per se ist es aber kein schlechter Job. Ich hatte schon schlechtere.

Vermutlich auch wegen der Konditionen …

Ja, das nehme ich auf jeden Fall an. Es ist so, dass ich ein Quereinsteiger bei der Deutschen Bahn bin. Ich habe es nicht von der Pike auf gelernt, sondern bin erst seit über einem Jahrzehnt dabei. Es gibt natürlich viele Kollegen, die seit Beginn der Ausbildung für die Deutsche Bahn arbeiten. Und die jammern manchmal ein bisschen auf hohem Niveau, muss ich auch sagen — wenn die wüssten, wie es da draußen in der freien Wirtschaft zum Teil zugeht und was für schwachsinnige Jobs es da außerdem gibt.

Fühlen Sie sich von der Unternehmensführung insofern missbraucht, dass Sie mehr Vermittlungsagent schlechter Firmenpolitik sind als Servicemitarbeiter, der Reisenden helfen soll?

Missbrauch ist zu hart.

Also die Führungsebenen wissen, dass wir Blitzableiter sind, und es gibt auch eine gewisse Wertschätzung dafür. Die kommt auch zum Ausdruck. Finanziell zwar eher nicht …

Ach, es gibt also Applaus wie in anderen Berufen?

Ja, so ungefähr. Es gibt moralische Aufmunterung — und das verfängt auch schon bei dem einen oder anderen. Wir fühlen uns aber verarscht, denn wir sind der eigentliche Brennpunkt. Bei uns kommt es darauf an, dass die Information stimmt, dass sie zuverlässig ist: Aber welche Information kann ich überhaupt geben?

Sie sagten mir ja im Vorgespräch, dass auch Sie kaum mehr Informationen haben als ganz normale Fahrgäste. Wenn die nach dem nächsten Zug fragen und ob der auch pünktlich sei, gucken Sie in dieselbe App wie die Kunden auch. Das war nicht immer so?

Wir hatten den sogenannten Streckenspiegel. Vor zwei Jahren hat man den eingestellt und regelrecht rausgerissen. Wir müssen jetzt die App nutzen, den sogenannten DB-Navigator. Der Streckenspiegel war ein separates System. Man sah dort den Zu- und Ablauf, welche Züge kommen, welche Züge sich wo befinden und so weiter. Das war dort präzise angezeigt, auch mit welcher Verspätung die unterwegs sind. Ich konnte sehen, was für Züge vor denen fahren und wie viele Stationen die noch zu absolvieren haben, bis sie bei uns sind. Es war mir dadurch möglich, exakt die präzise Position des Zuges zu ermitteln. Mit diesen Informationen haben wir früher auch im Bahnhof die Ansagen gemacht, um Leute zu informieren.

Der DB-Navigator ist unzuverlässig, mir hat er schon Fahrten angezeigt, die nicht stattfanden …

Ja, eben! Wir haben zwar noch zwei andere Programme. Mit einer Software kann ich die Position der Wagen am Bahnsteig ermitteln — oder welcher Wagen mit welchem Service ausgestattet ist, zum Beispiel Behindertentoilette oder Fahrradabteil und so weiter. Mit dem anderen kann ich Verbindungen berechnen. Aber ansonsten nutzen wir diese App.

„Wir können keine Durchsagen mehr machen.“

Sie haben ja vorhin von Durchsagen am Bahnhof gesprochen. Doch selbst wenn Sie wollten, so weiß ich von Ihnen bereits, könnten Sie das nicht. Was hat sich die Bahn denn da einfallen lassen? Oder besser gefragt: wegfallen lassen?

Ein System namens IRIS Plus steuert jetzt Ansagen und Anzeigen.

Das heißt, Sie werden entlastet!

Oder entmündigt! Es gab früher schon halbautomatische Ansagen zur Unterstützung oder für Standardansagen und das nannte man bei uns „die Blech-Else“. Der neue Kollege, den man nun in jedem Bahnhof hört, das ist der Heiko. Das ist wohl auch der echte Vorname des Sprechers.

Das sind standardisierte Ansagen, die im Grunde nicht auf jeden Fall angewandt werden können?

Ja, Heiko sagt Ihnen zum Beispiel um fünf nach halb Sechs, dass der Zug, der um halb Sechs losfahren sollte, heute fünf Minuten Verspätung hat. Es gibt also keinen wirklichen Informationsgehalt. Früher konnten wir die Ansage selbst machen und schauten auf den Streckenspiegel. So sagten wir eine Verspätung rechtzeitig an. Dann ärgerten sich die Leute zwar kurz, konnten sich aber noch eine Zeitung, einen Snack oder einen Kaffee kaufen.

Die schlechte Kommunikation ist es, die die Leute ja wirklich zur Weißglut bringt. Diese Salamitaktik, wenn durchsagt wird, der Zug sei fünf Minuten zu spät, dann plötzlich zehn Minuten, dann werden 20 Minuten daraus. Das ist fast schon Kundenverhöhnung.

Aber dann schreiten Sie doch ein und machen die Durchsage selbst, Herr Müller!

Das machen manche Kollegen auch. Aber in unserem Bahnhof geht das nicht. Man hat die gesamte Anlage abgebaut — und zwar mit Stumpf und Stiel rausgerissen, Kabel durchtrennt und den Streckenspiegel entfernt. Wir könnten noch nicht mal eine Durchsage machen: „Achtung, Achtung, die kleine Melanie sucht ihre Mama!“

Kann Heiko das?

Ja, aber das müsste einprogrammiert werden. Dafür muss ich dann das Reiseinformationszentrum informieren. Die könnten dann so einen Text unter Umständen eingeben und dann kann der Heiko das sprechen. Aber bis dahin ist die kleine Melanie schon längst wiedergefunden worden oder …

… erwachsen?

Ja — oder erwachsen! Ich kann gar keine Ansagen mehr machen. Auch nicht, wenn es brennt. Dann muss ich die 3S-Zentrale anrufen: Das steht für Sicherheit, Service und Sauberkeit. Und die sind in großen Bahnhofsknoten zu finden. Zum Beispiel gibt es eine 3S-Zentrale in Frankfurt, in Berlin, in Hamburg und in Mannheim. Die betreuen alle Bahnhöfe drumherum mit. Wenn mir zum Beispiel ein Koffer auffällt, der schon seit 20 Minuten herumsteht und der keinem gehört, dann melde ich das der 3S-Zentrale. Die vermitteln dann weiter. Mehr kann ich aber nicht tun. Mit der Meldung ist meine Pflicht erledigt.

„Das Gender- oder Regenbogen-Gedöns kotzt neun von zehn Mitarbeitern an.“

Der Bahnkritiker Arno Luik lässt zuweilen durchschimmern, dass die Zerstörung der Bahn so weit fortgeschritten sei, dass eine Umkehrung des Prozesses nicht mehr möglich ist — Insider bestätigen diese Einschätzung. Wie sehen Sie das? Wenn heute Politik und Management es wirklich nochmal rumreißen wollten: Geht das überhaupt noch?

Das ist rein technisch betrachtet. Aber ich glaube, wenn da guter Wille wäre, könnte man zumindest einiges verbessern. Doch vor dem Hintergrund der Agenda 2030 sehe ich da keine Perspektive. Das ist doch nicht gewollt — nehmen Sie nur das Konzept der 15-Minuten-Stadt. Klingt jetzt ein bisschen verschwörungstheoretisch …

Ich möchte ganz kurz das Thema Corona anreißen: Wie ging die DB mit ihren Mitarbeitern um? Viele Schaffner waren sehr hart im Verfolgen der Maßnahmen in den Zügen. Wie groß war der Druck auf sie?

Also vorab: Impfdruck gab es keinen. Es gab zwar extra für Bahnmitarbeiter regionale Impfzentren und das wurde auch beworben. Aber es war kein Zwang seitens des Unternehmens. Wenn man sich testen lassen musste, dann wurde das von der Deutschen Bahn gestellt. Kein Vorgesetzter hat da gedrängelt. Was man schon musste: In den Gebäuden Maske tragen — und wir sollten das auch am Bahnsteig tun. Wenn ich aber am Bahnsteig mit so einer Maske rumlaufe und Brillenträger bin und mir beschlägt die Brille, gefährde ich mich und andere.

Man glaubt übrigens gar nicht, wie häufig Leute ihren kleinen Kindern dabei zugucken, wie sie ihre ersten Schritte genau an der Bahnsteigkante machen. Man muss da also hellwach sein und die Augen überall haben. Beschlagene Brillengläser machen das unmöglich.

Was meinen Sie, wie oft ich hören musste, dass ich meine Maske falsch trage!

Die Deutsche Bahn ist immer weniger pünktlich. Bahnchef Richard Lutz sagte der Frankfurter Sonntagszeitung vor einigen Monaten, Klimaschutz sei wichtiger als Pünktlichkeit. Das Bahn-Logo wird oft in Regenbogenfahnen präsentiert — wenn es nicht gerade klimaschützend grün ist. Die Frauenquote im Bahnaufsichtsrat wurde erreicht und als Erfolg präsentiert, der Boni rechtfertigen soll. Haltung steht also vor Kerngeschäft: Fühlen Sie sich, der an der Basis ganz andere Probleme in den Griff kriegen soll, von dieser Praxis verspottet?

Ja, dass sich da offensichtlich so wenig um das Kerngeschäft gekümmert wird, das geht wohl jedem auf den Senkel. Und dieses ganze Gender- oder Regenbogen-Gedöns, das kotzt neun von zehn Mitarbeitern extrem an und einer findet das halt richtig gut. Der Missmut artikuliert sich aber nur im Kollegenkreis. Es laut kundzutun, wäre ja sowieso wie Don Quijotes Ritt gegen die Windmühlen. Also rollt man mit den Augen und lässt es über sich ergehen, besonders diesen Pride Month, in dem der Informationsstand mit Regenbogenflaggen geschmückt wird.

Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Bahnchef Richard Lutz etwas mitzuteilen? Was wäre das, Herr Müller?

Ich würde mir einfach von ihm wünschen, diese Digitalisierung um der Digitalisierung willen zu beenden und endlich wieder zu einer soliden Technik zurückzukehren.


Sie möchten auch über Ihren Arbeitsalltag sprechen, Ihre Arbeitserfahrungen mit uns teilen? Melden Sie sich bitte bei uns unter: roberto.delapuente@manova.news.

*Name verändert


ARBEITER? KLASSE! #4 | Im Gespräch mit Dieter Müller (Name geändert)

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