Alternative Einäugigkeit
Wer krampfhaft das Gegenteil dessen behauptet, was die Grünen sagen, wird keine menschlichere Welt schaffen — eher eine komplementäre Form der Unmenschlichkeit.
Kein Zweifel: „Linksgrün“ nervt. Und die mit diesem Kürzel bezeichnete politische Richtung ist mittlerweile sogar gefährlich für das Gemeinwesen, für die Wirtschaft, für unsere bürgerlichen Freiheiten. Grüne haben alles mitgetragen: Corona, die neudeutsche Kriegshysterie, die sich anbahnende Ökodiktatur, die Verwandlung Deutschlands in einen Failed State und die in vielem problematische Trans-Mode — zu schweigen von der Behinderung und Diffamierung der Meinungsgegner. Ausgehend von diesen traumatischen Erfahrungen, die Ampelregierung, teilweise aber auch Union und Linkspartei mitverursacht haben, hat sich im „alternativen Spektrum“ ein gewohnheitsmäßiges Grünen-Bashing etabliert. Denn in dieser Partei sehen viele nicht zu Unrecht das Zentrum des Bebens, das derzeit solche Verwüstungen in unserem Land anrichtet. Die Frage ist nur, ob es zielführend ist, mit den Fehlleistungen von Baerbock, Habeck & Co. auch die weltanschaulichen Wurzeln der Partei — ökologisch, sozial, multikulturell — über Bord zu werfen beziehungsweise in genau entgegengesetzten Narrativen das Heil zu suchen. Eine Redensart heißt: „Das Kind mit dem Bade ausschütten“. Übertragen auf die Auseinandersetzung mit dem „linksgrünen“ Ungeist heißt das: Entsorgen wir nicht all das Gute, das diese Denkrichtung gebracht hat, zusammen mit dem Schlechten.
Der Spiegel machte unlängst deutlich, wie man es nicht machen sollte. Was also die falsche Art ist, sich „alternativ“ zu derzeit dominierenden Narrativen zu positionieren. Auf der Suche nach Gründen für die aktuell sensationell guten Umfrageergebnisse der AfD befragte das Magazin potenzielle Wähler und auch Mitglieder der Partei.
„‚Fragt man in der Partei Menschen, die sich laut Jobbeschreibung um Agenda-Setting kümmern sollten, schütteln sie den Kopf. ‚Das lohnt nicht. Wir warten, was so aufploppt an Themen, und sagen dann das Gegenteil von dem, was die Grünen sagen, fertig ist die Kampagne‘, so beschreibt es einer.“
Mag sein, dass beim Spiegel hier der Wunsch, die AfD in einem möglichst unseriösen Licht erscheinen zu lassen, der Vater des Gedankens war. Aber nehmen wir an, der AfD-Mann hätte sich tatsächlich so geäußert: Das Gegenteil dessen zu sagen, was die Grünen sagen, ergebe schon eine fertige Kampagne — macht das Sinn? Und können wir Spuren dieser Denkweise auch anderswo erkennen — zum Beispiel bei uns selbst?
Als „Grün-Alternative“ oder auch nur als „Alternative“ traten die heute staatstragenden Grünen in ihren Anfangstagen gern auf. So die „GAL“, die Grün-Alternative Liste in Hamburg. Interessanterweise heißt die Regionalpartei seit 2012 nicht mehr so. Als ob darin ein Eingeständnis läge: Wir sind jetzt keine Alternativen mehr, sondern selbst eine Kraft, gegen die eine Alternative gefunden werden muss.
Der Spruch „There is no alternative“ wird Margret Thatcher zugesprochen, abgekürzt wurde dieser Slogan aus der Hochblüte der neoliberalen Ära „TINA“ genannt. Auch Angela Merkel, in vielem Thatchers Nachfolgerin, machte durch den umstrittenen Begriff „alternativlos“ von sich reden. Nicht zu vergessen, dass die AfD das „Alternativ-sein“ als praktisch einziges inhaltliches Merkmal im Namen verankert hat — auch als Reaktion auf das demokratiefremde Selbstverständnis der Kanzlerin.
Interessant, dass für Presseorgane unserer Richtung nun ebenfalls der Begriff „Alternativmedien“ üblich ist. Neben „freie Medien“ und anderen Begriffen. Ähneln wir nun der früheren GAL oder gar der AfD? Nein, „alternativ“ ist ein inhaltlich nicht spezifiziertes Bekenntnis dazu, etwas ganz anders machen zu wollen, als die „normalen“ und dominierenden Konkurrenten. Der „Alternative“ definiert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern in Abgrenzung zu den als nichtswürdig erkannten Gegenkräften.
Ich unterscheide mich, also bin ich
Eines der berühmtesten Alternativmedien war der mittlerweile verbotene Kanal „RT Deutsch“. Sein Slogan lautete: „Der fehlender Part“. Dort also sollten jene Informationen und Positionen zu Wort kommen, die im „Mainstream“, insbesondere in den westlich orientierten, NATO-freundlichen Medien, unterdrückt wurden. Stattdessen vernahm man auf RT oft die Stimme Russlands, ein Perspektivwechsel, der sich vielfach als anregend und bereichernd erwies.
Aber warum nicht statt des „fehlenden Parts“ auch einmal etwas veröffentlichen, was auch die „Normalen“ veröffentlicht hätten — vorausgesetzt, dass es stimmt? Veröffentlichte Meinung aus diesem Lager verstand sich vornehmlich als „Gegenöffentlichkeit“. Man brachte nicht nur zum Ausdruck, was fehlte, sondern definierte sich großenteils über das „Gegenteil-Sein“. Die Gefahr dabei ist, dass man nach dem Motto „Ich unterscheide mich, also bin ich“ agiert, dass man also eventuelle Stärken der einmal als gegnerisch markierten Denkrichtung in keiner Weise mehr erkennen kann oder will.
Dass eine These falsch ist, macht deren Gegenteil nicht automatisch richtig. Die der AfD zugeschriebene Vorgehensweise, sich hauptsächlich über die Verneinung des grünen Zeitgeists zu definieren, ist keine sinnvolle in der weltanschaulichen Auseinandersetzung. Sie macht sich so zum Getriebenen des politischen Gegners, der einen durch die Thesen, die er wählt, in deren Verneinung zwingt und somit indirekt festlegt, was man zu denken hat.
So wie linksliberale und linksgrüne Strömungen in der Vermeidung jeder Ähnlichkeit mit der AfD ihren stärksten, ja teilweise einzigen politischen Antrieb zu finden scheinen, zeigt sich das Phänomen umgekehrt in einer automatisierten Abwehr konservativer, wirtschaftsliberaler sowie „querdenkernaher“ Kräfte gegen alles, was mit dem Etikett „Linksgrün“ versehen werden kann. Wenn die AfD für die Freiheit votiert, fühlen sich viele zur Parteinahme für brutale Freiheitsberaubung gedrängt; wenn Grüne für die freundliche Aufnahme von Zugewanderten votieren, gehört es für deren Gegner zum guten Ton, von Ausländern eigentlich nur noch im Kontext von Kriminalität zu sprechen — das Julian-Reichelt-Syndrom.
Liebeserklärungen für den Fleischkonsum
Unter anderem nutzt Julian Reichelt auch gern die verbreitete Anti-Grünen-Stimmung, um eine Liebeserklärung für den Fleischkonsum beziehungsweise Seitenhiebe gegen Veganer und Vegetarier zu platzieren. Anfang Juni beklagte der ehemalige BILD-Chefredakteur einen „Verbotsschock zur Grillsaison“ und titelte:
„Es ist der größte Fleisch-Verbots-Plan aller Zeiten: Der ‚Sachverständigenrat für Umweltfragen‘ des grünen Umweltministeriums hat ein Papier vorgelegt, dass uns den Steak- und Leberwurst-Konsum austreiben soll.“
Jasmin Kosubek setzte in ihrer Interview-Reihe noch eins drauf und lud eine bekennende Carnivorin in ihre Sendung ein. Andrea Siemoneit gibt darin an, seit 2019 ausschließlich Fleisch und Fleischprodukte zu essen. Das hieße: kein Gemüse, kein Salat, keine Kartoffeln, kein Reis.
Kosubek: Was hast du heute zum Frühstück gegessen?
Siemoneit: Ein bisschen Knochenmark, roh, und dazu ein bisschen rohes Hackfleisch.
Kosubek: Als wir uns das letzte Mal gesprochen haben, hast du, glaube ich, eine Niere gegessen zum Frühstück.
Siemoneit: Mhm, das war auch roh.
Vermutlich will die eingefleischte Carnivorin durch diese Art der Rohkost vermeiden, ihre Ernährung durch pflanzliche Zusätze wie Knoblauch oder Oregano verunreinigen zu müssen. Andrea Siemoneit erklärt im Interview auch, warum der komplette Verzicht auf pflanzliche Ernährung gut für den Körper sei und der Umwelt nicht schade. Inhaltlich will ich an dieser Stelle auf die Debatte nicht einsteigen. Es geht mir eher darum, zu zeigen, dass hier ein drastisches Beispiel für bewusste „Gegenöffentlichkeit“ vorliegt — gegen den Trend vor allem des momentan dominierenden grünen Zeitgeists.
Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Selbst wenn radikale Veganer manchmal nerven — ist es eine Lösung, das Pendel ins extreme Gegenteil ausschlagen zu lassen? Wenn es schlecht ist, bei 0 Grad Celsius zu baden, ist es dann deshalb gesund, dies bei 60 Grad zu tun? Es ist zu befürchten, dass mit dem verbreiteten Grünenhass eine Tür aufgemacht wurde, durch die so manche nicht ausgegorene Ideologie hineindurchschlüpfen kann.
Man merkt dies unter anderem an der häufigen Animosität von „Normalessern“ gegen Tofu, ein zugegebenermaßen etwas geschmacksarmes Nahrungsmittel. Zusammen mit der krank machenden Genspritze und der geschlechtsangleichenden Operation an Minderjährigen im Zuge einer übersteigerten „Trans-Ideologie“ wird der Tofu als für viele praktikable Fleisch-Alternative abgeräumt. Das Sojaprodukt erscheint in diesem Kontext als Leitsymptom derselben überheblichen, von den Bedürfnissen „des Volkes“ abgehobenen urbanen Elite, der wir auch Wärmepumpe und Panzerlieferungen an die Ukraine verdanken.
Hier gilt es aber zu differenzieren. Der Tofu schont Leben — das der in der Fleischherstellung sonst getöteten Tiere —; die Waffenlieferungen vernichten Leben: menschliches. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat vermutlich nicht Unrecht, wenn er den Fleischkonsum als eine der wichtigsten menschengemachten Ursachen für den Klimawandel ansieht. Zumindest sollte man die hierfür sprechenden Argumente sorgfältig abwägen und sie nicht vorschnell aufgrund der Zugehörigkeit zu einer anti-linksgrünen Bubble verwerfen. Selbst wenn Fleischernährung dem Klima nicht schaden sollte — den Schlachttieren schadet sie garantiert.
Legalistischer Furor gegen Klimaaktivisten
„Linksgrün“ hat nicht immer Recht, wie es auch nicht immer Unrecht hat. Mag der Klimahype auch viele nerven und die Klimafrage nur als „Hebel“ für weiteren Freiheitsabbau dienen — offensichtlich scheint, dass es an vielen Orten der Erde Umweltzerstörung, Ernteausfälle und für Mensch und Tier lebensbedrohliche Folgen von Trockenheit gibt. Ein Zusammenhang mit der erhöhten Durchschnittstemperatur scheint offensichtlich.
Auch der Manova-Artikel „Die Klimarealität “ von Nicole Maron machte unlängst darauf aufmerksam, dass Klimaveränderungen in Peru dramatische Auswirkungen haben, die das Leben der Menschen dort gefährden. Die Kausalität („menschengemacht“) ist umstritten, kaum zu bestreiten ist jedoch, dass der Spielraum des Menschen, so er überhaupt einen hat, genutzt werden sollte — um eine weitere Verschlechterung vielleicht doch aufzuhalten.
Aktivisten wie die „Klimakleber“ nerven — speziell wenn man in einem Auto sitzt, dessen Weg diese blockieren. Manche sehen in den jungen Leuten auch missbrauchte Fußsoldaten einer perfiden Great Reset-Agenda, eventuell sogar bewusst agierende Schergen Klaus Schwabs. Mögen sie auch politisch irren — radikale Klimaaktivisten verkörpern eine Tugend, die in unserer Zeit mehr als notwendig wäre: Tapferkeit gegenüber einem überlegenen Staat.
Auch wir bei Manova haben oft genug mehr Mut in der Auseinandersetzung mit einem übergriffigen Staat, haben gewaltfreien Widerstand und Rückgrat gefordert. Nun gibt es eine Aufsehen erregende Form des zivilen Ungehorsams, und sogleich werden die Beteiligten als Knechte „des Establishments“ demontiert, während die Etablierten selbst diese Aktivisten wie Schwerverbrecher verfolgen. Eines scheint klar:
Man kann die Welt nicht verändern, solange man sich immer nur an Regeln hält. Verhält sich das Volk gleich einer gewaltigen, steuerbaren Maschine in allen Fällen regelkonform, müssen die Mächtigen diese Regeln nur so gestalten, dass garantiert alles beim Alten bleibt. Und genau dies geschieht derzeit.
Der Ton gegenüber den Umwelt-Rebellen wird überall rauer. Für „Nötigung“, also die vorübergehende Blockade des Straßenverkehrs, können Aktivisten heutzutage schon Monate lang ins Gefängnis kommen, wie ein hartes Gerichtsurteil beweist. Selbst vor Folter — und nichts anderes ist der berüchtigte „Schmerzgriff“ der Polizei — wird auf Deutschlands Straßen nicht mehr zurückgeschreckt.
Spätestens hier sollten diejenigen hellhörig werden, die als Demonstranten gegen Corona-Maßnahmen die oft unfassbare Härte der Polizei zu spüren bekamen. Auch wer „die Klimakleber“ nicht mag und sie als Symptom eines beklagenswerten „linksgrünen Zeitgeists“ verachtet, sollte wachsam bleiben und Sorge tragen, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Bürgern nicht noch weiter zu Ungunsten der letzteren verschiebt. Was heute „denen“ passiert — vielleicht sogar mit unserem Beifall —, kann schon morgen in einem anderen Zusammenhang uns treffen.
So sehr es auch stimmen mag, dass manche Grüne mit den Zielen der Ökorebellen sympathisieren — am Ende ist Staatsorganen der Gesetzes- und Behördengehorsam allemal wichtiger als die inhaltliche Nähe zu manchen Gesetzesbrechern. „Was immer man von dem Gesetz halten mag, man muss ihm gehorchen“, hatte Winfried Kretschmann mitten in der Coronakrise noch programmatisch verkündet und damit das zentrale Narrativ jeder Macht auf denkbar plumpe Weise zum Ausdruck gebracht.
Die Rückkehr des garstigen Ausländers
Auch was die Migrationspolitik betrifft gilt: Kritik an den Hauptnarrativen des „linksgrünen“ Zeitgeists ist gut und notwendig; um aber zu einer differenzierteren Haltung zu gelangen, sollte man sich vor Augen führen, was geschähe, wenn die gegenteiligen Politikentwürfe umgesetzt würden.
Es mag im Lager der Ampel und bei der Linken Einseitigkeiten geben: verkrampfte Xenophilie, Wegschauen bei Ausländerkriminalität, Gleichgültigkeit gegenüber der Überlastung der Kommunen, denen Flüchtlinge „zugeteilt“ werden, die Dämonisierung aller vernünftigen Bedenken als „Rassismus“ — das Gegenteil davon läuft jedoch nicht selten auf Brutalität gegenüber Flüchtlingen hinaus und entlarvt somit jene Werte als Lügen, die zu schützen sich Abendlandverteidiger oft auf die Fahnen schreiben. Wirklicher Rassismus ist zwar weitaus seltener, als woke Gedankenpolizisten dies meinen, häufig zu finden ist jedoch eine generalisierte Skepsis gegenüber dem „Ausländer-Sein“, was auf eine Selbstfeier der Inländer als der anständigeren von beiden Gruppierungen hinausläuft.
„Weniger Migration“, „Abschiebung“ und derartige Forderungen erscheinen bei entsprechend geschicktem Framing plausibel, solange man sich die Realität nicht — herangezoomt — aus der Perspektive der Zurückgewiesenen und Abgeschobenen anschauen will. Noch immer sterben Flüchtende im Mittelmeer. So ertranken im Juni 2023 etwa 600 Menschen, die in Europa eine neue Heimat gesucht hatten. Eine Dokumentation legt nahe, dass die griechischen Behörden diese Tode zumindest fahrlässig in Kauf genommen, wenn nicht mit herbeigeführt haben. Systematische „Zurückschiebung“, so die Vorwürfe, seien auf griechischen Gewässern durchaus üblich.
Die Probleme, die die Menschen im Jahr 2019 noch lebhaft beschäftigt hatten, als halb Deutschland von der Kapitänin Carola Rackete schwärmte, sind nicht deshalb verschwunden, weil sich der Aufmerksamkeitsfokus weit davon wegbewegt hat.
Viele Anliegen der Seenotretter haben bis heute ihre Berechtigung. Auch ist die Lage der Flüchtlinge in den Lagern auf Lesbos und anderswo nach wie vor katastrophal. Für diesen Problemkreis haben noch eher Menschen mit „linksgrüner“ Grundeinstellung Verständnis. Randalierende in Deutschlands Freibädern sind zwar beklagenswert, jedoch beileibe nicht der einzige in diesem Zusammenhang relevante Aspekt. Im Mittelmeer Ertrunkene kommen ja gar nicht so weit, dass sie in einem Schwimmbad auffällig werden könnten.
Die Unbeflecktheit Putins
Genauer hinzuschauen und zu differenzieren lohnt sich auch beim Thema Russland-Ukraine-Krieg, bei dem in der „alternativen“ Presse typischerweise komplementäre Einseitigkeit floriert. Es geht mir dabei nicht darum, dass die NATO-Allianz in unabhängigen Medien positiver dargestellt werden sollte, als dies jetzt der Fall ist — eher sollte das Bild, das von Russland und Wladimir Putin gezeichnet wird, der höchst komplexen Realität angepasst werden und endlich auch Schattenaspekte miteinbeziehen.
Sicherlich wollen Putin-Apologeten dem Russland-Bashing westlicher Medien ein starkes und eindeutiges Gegengewicht entgegensetzen. Dies sollte aber nicht so weit gehen, dass alternative Medien vom russischen Präsidenten sprechen wie Katholiken von der Jungfrau Maria — so als wäre er unbefleckt und frei von jeder Sünde.
Es mag ja sein, dass westliche Berichterstatter dem Kreml-Chef oft Unrecht tun — klar sollte aber sein: Wir sprechen von einem autoritären Machthaber, der die Menschenrechte im Inneren Russlands nicht immer achtet und der derzeit mit Soldaten auf dem Gebiet eines anderen Landes operiert, das vor Kriegsbeginn von den meisten Staaten der Welt als souverän anerkannt worden war. „Operieren“ heißt in diesem Fall konkret: Es werden Menschen getötet — Ukrainer wie Russen.
Ein Beispiel, wie differenziertes Denken funktionieren kann, das auf der Integration von Gegensätzen basiert, lieferte Raymond Unger in seinem neuen Buch „Die Heldenreise des Bürgers“. Unger erklärt darin, dass eine durch das Schuldtrauma aus der Nazizeit verunsicherte deutsche Bevölkerung dazu neige, andere, stärkere Länder zu idealisieren und sich ihnen Schutz suchend anzuvertrauen. Für etwa 80 Prozent der Deutschen seien dies die USA, etwa 20 Prozent orientierten sich eher nach Russland. Anzuerkennen, dass es beide Länder nicht gut meinen könnten und dass bei beiden erhebliche Menschenrechtsdefizite festzustellen seien, wäre für viele Deutsche mit Gefühlen des Schmerzes und des Nicht-Wahrhaben-Wollens verbunden, weshalb sich die meisten lieber eindeutig auf die eine oder andere Seite schlügen.
So versucht Raymund Unger in seinem Buch sowohl Russland als auch dem Lager „NATO/Ukraine“ im wahrsten Sinne des Wortes gerecht zu werden, indem er darlegt, wo Verständnis angebracht ist, wo jedoch auch Unrecht und Gewalt klar benannt werden müssen. Für Leserinnen und Leser „alternativer“ Medien ist es ungewohnt, Passagen wie diese zu lesen:
„Wahr ist: Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg hat unermessliches Leid über die ukrainische Bevölkerung gebracht, das Land viele Jahre zurückgeworfen und ganz Europa einer konkreten Kriegsgefahr ausgesetzt. Laut dem UN-Hochkommissariat für Menschenrecht (OHCHR) sind bis zum 21. November 2022 mindestens 6.595 Todesopfer in der ukrainischen Zivilbevölkerung zu beklagen, darunter mindestens 415 Kinder.
Seit dem 24. Februar 2022 leben auch westukrainische Familien in Angst und Schrecken, haben oftmals keinen Strom und keine Heizung. Millionen Menschen sind in Europa wieder auf der Flucht, und das Schlimmste ist: Wie in jedem Krieg werden Millionen Menschen nicht nur physisch, sondern auch psychisch verstümmelt. Erneut werden die Kriegserlebnisse eine emotional verschlossene Generation erzeugen, die im Erwachsenenalter kaum in der Lage sein wird, ihren Kindern einen angemessenen und liebevollen Start ins Leben zu ermöglichen.“
Keine Sorge, auch die NATO-Staaten bekommen in Raymund Ungers Buch ihr Fett weg. Solche Beobachtungen über die (Mit-)Schuld Putins sind jedoch legitim und mehr als naheliegend. Und sie sind nicht gleichbedeutend mit einem Eintreten für Aufrüstung und Krieg. Warum liest man solche Gedanken in den „freien“ Medien nur selten?
Ich will nicht „zurück in die Mainstream-Matrix“ und nicht die Verbrechen der West-Allianz leugnen. Ich will ein Spannungsfeld aufzeigen, innerhalb dessen wir unsere Position jederzeit neu finden müssen — ohne szenebedingt schon vorher feststehende Denkergebisse. Ohne Furcht, das bisher Gedachte immer wieder in Frage zu stellen und es zu ergänzen zu einem vollständigeren Bild von Wahrheit.
Wokeness-Kritik zur Jahrtausendwende
Ein bewegendes Beispiel für differenziertes, verschiedene Seiten der Wahrheit integrierendes Denken lieferte der US-Schriftsteller Philip Roth schon im Jahr 2000 in seinem Roman „Der menschliche Makel“. Darin verliert der Universitätsprofessor Coleman Silk seine Anstellung wegen einer angeblichen Verfehlung, die man heute wohl als typisches Wokeness-Problem bezeichnen würde.
Silk nennt eine Gruppe von Studenten, die ein Seminar geschwänzt haben, „dunkle Gestalten“. Er wusste nicht, dass es sich dabei um Menschen mit schwarzer Hautfarbe handelte. Die Studenten beschweren sich, dem Professor wird Rassismus vorgeworfen. Keiner seiner Kollegen, die genau wissen, dass Coleman Silk nichts gegen Schwarze hat, tritt für ihn ein.
Als Folge der Nerven aufreibenden Auseinandersetzungen mit der Universitätsleitung und der sich anschließenden öffentlichen Hexenjagd, kommt Silks Ehefrau Iris später zu Tode. Philipp Roth zeigte hier großes Gespür für eine Zeitströmung, die sich erst mehr als zwanzig Jahre später zu voller „Blüte“ entwickelte. Das Buch liest sich in den Passagen um „Wokeness“, als wäre es in der Gegenwart geschrieben.
„Der menschliche Makel“ beleuchtet jedoch auch die andere Seite der Wahrheit: den extremen und verletzenden Rassismus, der die USA noch wenige Jahrzehnte vor den geschilderten Ereignissen geprägt hatte. Coleman Silk nämlich ist ein Farbiger, der sich wegen seiner ungewöhnlich hellen Hautfarbe als Weißer ausgibt und seine Herkunft verleugnet. Sein Trauma erlebte er als Jugendlicher, als er sich in ein weißes Mädchen verliebte. Als diese bei einem Besuch zum ersten Mal seine dunkelhäutige Mutter sah, beendete sie die Beziehung schockiert.
Silk lebte seitdem als „Schein-Weißer“ und sagte sich von seiner Stammfamilie los. Dass ausgerechnet er später wegen des Vorwurfs des „Rassismus‘“ von seiner Universität fliegen sollte, ist eine absurde Wendung des Schicksals. Für Leser und Zuschauer der Buchverfilmung mit Anthony Hopkins ist dieser Stoff durchaus anspruchsvoll, erlaubt er es ihnen doch nicht, sich auf einer Teilwahrheit auszuruhen.
Es genügt eben nicht, solidarisch zu sein mit den Opfern von Wokeness und Cancel Culture; es ist auch wichtig, sich jene Missstände vor Augen zu führen, die zu der kampagnenartig inszenierten Minderheiten-Empfindlichkeit geführt haben, deren Zeugen wir gerade werden.
Es ist schlimm, seinen Job zu verlieren, weil man sich gegenüber einem Menschen mit schwarzer Hautfarbe ungeschickt ausgedrückt hat. Als Schwarzer fortwährend bespuckt und ausgegrenzt zu werden, ist aber mitunter noch verletzender.
Jenseits der Halbwahrheiten
Wenn Artikel des „alternativen“ Meinungsspektrums häufiger so wären wie Roths Roman „Der menschliche Makel“, würde das der gesamten Szene nach meiner Meinung guttun. Eine differenzierende Form des Journalismus wäre verwandt mit der psychologischen Vorgehensweise der Schatten-Integration, wie sie beispielsweise C.G. Jung vertreten hat. Vereinfachend wird darunter die illusionslose Anerkennung unserer „bösen“ Charakteranteile verstanden, also jener Eigenschaften, die nicht mit unserem idealen und nach außen hin gezeigten Selbst übereinstimmen. Manche denken dabei an plötzlich hervorbrechende destruktive Handlungsweisen, wie wir sie aus der berühmten Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde kennen.
Es gibt aber auch einen Schatten im Denken, Gedanken also, die wir normalerweise unterdrücken, weil sie nicht zu jenem Set von Weltanschauungen passen, mit denen wir uns identifizieren. Wenn „Ich bin links“ dem Lichtanteil im Bewusstsein eines Menschen entspricht, dann würden „rechte“ Neigungen in den Schatten verbannt: etwa Heimatverbundenheit oder Besorgnis über Ausländerkriminalität. Diese Anteile würde niemand bei sich selbst wahrnehmen wollen und daher ersatzweise im Außen bekämpfen, bei Menschen, die diese Denkweisen offen vertreten.
In seinem Kapitel über den „Schatten“ im Buch „Die Heldenreise des Bürgers“ rät Raymond Unger zum „Einüben einer Metaposition jenseits der Pole“. Er spricht auch von einer wünschenswerten „Vogelperspektive“.
„Der erste unabdingbare Schritt, diese Vogelperspektive zu erreichen, ist, mit dem Leugnen des jeweils anderen Pols aufzuhören. Der erste Schritt ist das Zugeständnis, dass ich prinzipiell zwei Seiten in mir habe, die sich widersprechen. (...) Von jeder guten Eigenschaft, von der ich überzeugt bin, sie zu haben, ist auch das negative Gegenteil in meinem Schatten wahr.“
Wie es eine Bipolarität der Charaktereigenschaften in uns gibt, existiert auch eine solche der Weltanschauungen und politischen Haltungen. Haben wir uns erst einmal — aus welchem Grund auch immer — auf eine bestimmte Seite geschlagen, sammeln wir fleißig Argumente dafür, warum das bisher als richtig Erkannte richtig bleibt.
Gleichzeitig wehren wir Erkenntnisse ab, die das Gegenteil nahelegen und werten Personen ab, die solche Meinungen vertreten, welche wir als nicht zu uns gehörig empfinden. So wird ein Deutscher, der noch immer im Narrativ der wohlwollenden Führungsmacht USA verhaftet ist, alle Informationen verdrängen, die nicht in dieses Bild passen. Andererseits wird jemand, der häufig „Alternativmedien“ rezipiert, Wladimir Putin irgendwann als einen weißen Ritter ohne Fehl und Tadel sehen und jede anderslautende Meinung als „westliche Propaganda“ abtun.
Die verweigerte Synthese
In der Tradition von Hegel und Marx nennt man das Denken in Widersprüchen und Gegensätzen auch „Dialektisches Denken“. Dieses beruht auf dem Dreischritt „These — Antithese — Synthese“, wobei letztere nicht einfach einen Kompromiss zwischen zwei Positionen repräsentiert, sondern das Erreichen einer höheren Ebene der Betrachtung — nicht zwischen, sondern über den Polen.
Auch der ehemalige Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm legt Wert auf eine dialektische Herangehensweise an aktuelle politische Fragen. In einer fairen, kontroversen Debatte mit Boris Reitschuster zum Thema „Muss man Putin verstehen?“ gibt Dehm ein Beispiel, wie man durch Integration von Gegensätzen ein vollständigeres Bild von „Wahrheit“ erarbeiten kann. Solche Debatten könnten idealerweise auch im Inneren politisch interessierter Zirkel und Medien geführt werden.
Ja, auch im Geist jedes einzelnen Menschen könnte das Denken in den Kategorien von „einerseits — andererseits“ Raum greifen. Das ist anstrengend, führt aber sicherlich zu ausgewogeneren Denkergebnissen.
Die Alternative Medienszene versteht sich häufig als Antithese zum „Herrschenden“. Sie bleibt aber vielfach desinteressiert an der Synthese, denn diese würde das bisher für richtig Gehaltene in unbequemer Weise wieder relativieren.
Analog zum „Ende der Geschichte“, das der Philosoph Francis Fukuyama im Jahr 1989 ausgerufen hat, neigen viele Menschen und auch Medienvertreter dazu, sich selbst als das Ende der Geistesgeschichte zu betrachten. Nach „uns“ kommt nichts mehr — jedenfalls nichts Sinnvolles. Das Wesentliche haben wir erkannt. Jede Relativierung wäre gleichzusetzen mit einem Rückfall in die Denkmuster des zu überwindenden Alten.
Dabei meint „Dialektik“ nicht das Herausarbeiten der mathematischen Mitte zwischen These und Antithese, meint zum Beispiel nicht den Kompromiss einer zwar über den Mund, jedoch nicht über die Nase gezogenen Coronamaske. Gemeint ist vielmehr das Erscheinen neuer Denkformen am kollektiven Bewusstseinshorizonts, wobei die Stärken und Schwächen von Behauptung und Gegenbehauptung analysiert, das Beste aus beiden Betrachtungsweisen übernommen, das Schlechte verworfen und der Gegensatz auf einer höheren Ebene aufgehoben wird. Man betrachtet die Dinge gleichsam aus einer Perspektive außerhalb des Boxrings oder oberhalb von ihm, anstatt mal diesem, mal jenem Kombattanten die Daumen zu drücken.
In guten Momenten wird der „dialektisch“ Denkende einen Sog aus der Zukunft spüren, das Einströmen des Neuen in seinen Geist, der sich aus den Fesseln der Einseitigkeit und milieubedingter Vorurteile befreit hat. Statt Anfeuerungsrufe in Richtung Putins oder Selenskyjs auszustoßen, könnte man zum Beispiel zu der Erkenntnis kommen, dass der Boxkampf als solcher als grausamer Unsinn abzulehnen ist.
Man könnte sich radikal auf die Seite der Opfer in beiden Ländern stellen oder die politischen Führungskader aller Lager als Figuren in einem großen globalen Spiel verstehen, bei dem überall auf der Welt stets „wir“ draufzahlen — also die unwissenden, missbrauchten, beraubten oder hingemordeten Bürger.
Ich will an dieser Stelle nicht zu tief in Lösungsvorschläge für Einzelthemen eintauchen. Wir können die Debatte heute nicht zu einem endgültigen Ergebnis führen – weil es ein solches abschließendes Ergebnis des kollektiven Denkprozesses niemals geben wird und kann. Die Lösung für „alles“ ist prinzipiell nicht zu finden — beginnen wir mit der Suche!