Als die Posaunen ertönten
Wenn die Verlogenheiten zu schwer werden, führt das zu einem Wolkenbruch.
Das aktuelle System, gezeichnet als Persiflage auf eine vorgeblich gute Ordnung, die sich längst nicht mehr erst auf den zweiten Blick als totalitär herausstellt: Das ist das Jericho, dem das Gomorrha auf der anderen Flussseite selbstverständlich nur Böses will. Satire, Parodie, Groteske, was auch immer: Das hier Vorgeführte spiegelt ein irrsinniges Gefüge mit Bezug zu weiteren Ausgaben des besten aller Deutschlands.
Ganz salopp und alles nicht ganz Wichtige weglassend kann ich behaupten: Was ich zum Leben brauche, habe ich hier. Sogar kostenlos, gestellt von unserer Republica Grandiosa Banana. Was ich hier habe? Eine angenehm harte Liege, einen kleinen Tisch mit einem Stuhl, eine Toilette und ein Waschbecken. Einen kurzen Bleistiftstummel auch und ein paar Fetzen Papier, beides aber sorgsam versteckt. Ein kleines Gitterfenster mit Tauben davor. Und jeden Mittag öffnet sich die Klappe in der Tür und der Wärter schiebt den gefüllten Blechteller und die ebenfalls volle Tasse Pfefferminztee aus dem gleichem Material rüber.
Immerhin muss ich mich nicht ununterbrochen mit meinen eigenen Träumen beschäftigen, Erinnerungen sorgen für Abwechslung. Auch Musik fehlt keineswegs. In meinem Kopf schwirren wie draußen vor dem Gitterrost zeitlose Lieder. „Kleine weiße Friedenstaube“, „Die Gedanken sind frei“ oder auch „Am Fenster“. Alles altes Zeug, so jung bin ich ja auch nicht mehr.
Nun, wenn Sie diese Geschichte lesen, hat sogar das Schmuggeln des Kassibers geklappt! Wie, das bleibt besser mein und sein Geheimnis, wer auch immer er sei, einverstanden? Er ist einer der vielen menschlichen Bananeristos, die Macht haben und dabei gar nicht an der Macht sind.
Was war passiert? Nach meiner Einlieferung wurde der in der Republica Grandiosa Banana obligatorische Chip wieder aus meinem Gehirn entfernt, ich war ja eingeliefert! Dieser Chip überwacht inzwischen einen anderen Bananeristo, der sich seine tägliche Suppe noch selbst besorgen muss. Ich kriege sie ja im Blechteller. Das Beste aber ist, ich kann ohne das kleine Stück Metall wieder ohne Überwachung denken!
Wenn Sie so etwas nicht kennen, sind Sie wohl ein ganz braver Bürger, eine selten gewordene Spezies sozusagen. Das ist aber beileibe kein Lob.
Für das Aufspüren von Gedanken, die der Republica Grandiosa Banana suspekt sind, braucht es viele Chips. Doch die sind rar geworden. Nun lässt die Regierung sie aus Waschmaschinen ausbauen und deren Besitzern ins Gehirn einpflanzen. Das Start-up für Waschbretter hat seitdem grandiose Gewinne.
Mit dem Beginn des uns so lange versprochenen Krieges wurden als Erstes die Chipfabriken unserer Freunde auf einer fernen Insel vor dem bösen Festland durch Raketen ohne jeden Schall zerstört. Das war keine große Kunst, keine 500 Kilometer übers Wasser. Aus unserer Ferne hat das gar niemand bemerkt, erst als die Schiffe mit den Chips nicht mehr ankamen.
Nun aber endlich zur Geschichte, die ich niedergeschrieben habe. Es ist meine. Wegen der beschriebenen Ereignisse bin ich ja erst hierhergekommen. Damals ging es auch um Zerstörung, aber um eine mit gewaltig viel Schall.
In Jericho herrschten damals sehr gute Verhältnisse. Die Menschen arbeiteten fleißig, das Leben war geradezu wunderbar. Die sieben Wesirinnen regelten alles, was wichtig war. Sie kamen ja auch aus den bedeutendsten Organisationen. Da war der Verein für arme Leute (VAL). Jeder wusste sofort, welches Ziel der verfolgte. So war auch allen völlig klar, warum der KWI, Klub der wahren Intelligenz, die meisten Wesirinnen stellte. Und auch die Elfenschaft WissenWirBesser (WWB) hatte ihre allgemein hoch anerkannte Rolle völlig zu Recht inne. Das geflügelte Wort vom „besten Jericho aller Zeiten“ war oft zu hören. Und es sollte sich als wahr herausstellen! Das beste Jericho aller Zeiten war jetzt, nicht früher und ganz gewiss nicht in der Zukunft.
Jericho lag an einem Fluss. Am anderen Ufer, über eine Brücke erreichbar, war auch eine Stadt. Die war in Jericho bei den sieben Wesirinnen sehr unbeliebt: Gomorrha. Sie lieferte seit ewigen Zeiten in das waldlose Jericho Brennholz. Denn in der Nacht wird es erbärmlich kalt am Fluss.
Dieser Fluss indes spülte alles Schlechte, Unbrauchbare weg: die Abwässer natürlich, jegliche irgendwie menschengefährdenden Stoffe und auch alles Bösartige. Außerdem spendete er sehr viel Gutes für die Menschen an seinen Ufern: grätenarme Fische, oft auch faustgroße, funkelnde, eckige Steine. Kein Wunder — die Menschen bezeichneten ihn als „Fluss, der Gut und Böse trennt“.
Am Ufer befand sich der zentrale Platz von Jericho. Dort stand das hohe Podest für die sieben Wesirinnen. Oft fanden davor Großveranstaltungen statt. Die Menschen hakten sich unter und genossen die mitreißenden Lieder bestellter Sängerinnen.
Eines Tages brach die Brücke in sich zusammen. Seitdem gab es in Jericho kein Brennholz mehr.
Was kann es Besseres geben? Frieren für das Gute! Das erzeugte ein unglaublich gutes Gefühl beim Zusammenstehen gegen Gomorrha. Alle sangen den Refrain des Liedes „Auf, auf zum Kampf, zum Kampf für das Podest. Fürs Podest sind sie geboren. Wir kämpfen und siegen für euch, sieben Wesirinnen!“ lauthals mit. Auch denen gefiel das sehr, hatten sie doch die Protestdemo gegen den Wiederaufbau der Brücke organisiert, auch der Spruch „Es ist nicht alles Gold, was mit Go anfängt“ stammt von ihnen. Gomorrha blieb auf seinem Brennholz sitzen, Jericho fror voller Freude, wie den offiziellen Äußerungen der sieben Wesirinnen zu entnehmen war.
Dass die in Gomorrha extrem bösartig waren, hätte aber auch jeder wissen können. Denn die Wesirinnen berichteten täglich davon: Heere von Ratten würden sie nach Jericho über den Fluss, der Gut und Böse trennt, schicken. Na ja, der Fluss, der Gut und Böse trennt, spült doch alles Schlechte fort? Die Nager kamen dennoch massenhaft in Jericho an. Das sagten die Wesirinnen, musste also zweifelsfrei stimmen.
Die Ratten waren das Dauerthema der sieben oben auf dem Podest. Aber auch unten beim Volke, denn niemand hatte jemals auch nur eine Ratte gesehen, geschweige denn Heerscharen davon. Die Wesirinnen sprachen deutlich aus, warum die hergeschickt wurden: „Die aus Go wollen das Podest von Jericho delegitimieren.“
Hervorragend war die Empfehlung der sieben Wesirinnen, Aluhut zum Schutz vor Nagetieren zu tragen. Ja, die sieben Wesirinnen machten schon alles zum Nutzen der Jerichoer, glaubten die Jerichoer.
Die Berichte vom Podest oben kamen täglich, man gewöhnte sich dran. Deshalb war es unwichtig geworden, selbst noch nachzudenken. Wozu auch, die sieben Wesirinnen waren ja genau dafür da.
Auch außenpolitisch hatte Jericho die Nase vorn. Das war zu einer Zeit, als die Menschen auf der ganzen Welt daran arbeiteten, eine Schriftsprache zu entwickeln. Am Fluss, der Gut und Böse trennt, waren sie damit schon sehr weit vorangekommen. Es war ja Jericho, da wurde kein Turm gebabelt. Die sieben beschäftigten für die Entwicklung so künstlicher Zeichen von Intelligenz extra eine zum Zeichnen wirklich begabte Person. Sie wurde KI genannt.
Wo Einigkeit und Recht und Freiheit im Überfluss vorhanden sind, passieren dann auch Sachen, vielleicht sogar aus blankem Schabernack? KI hatte wie immer die Zettel gezeichnet, die für die althergebrachte Tradition benötigt wurden. Diese Tradition brachte allen in Jericho eine Abwechslung, einen witzigen, niedlichen Kick. Der, ohne irgendwas Tiefgründiges zu bezwecken, seit endloser Zeit beliebt war.
Auf den Zetteln waren mit wenigen Strichen die sieben Wesirinnen mit ihren wesentlichen Eigenschaften dargestellt, und die Ohneglieder von VAL, KWI und WWB tunkten unter den begeisterten Zurufen der übrigen Bevölkerung ihren Daumen zuerst in das von Kamelpisse triefend nasse Stempelkissen und dann neben das Symbol ihrer besonders geliebten Wesirin auf den Zettel. Dann wurden alle Zettel am Podest öffentlich aufgehangen. Das Volk konnte nun sehen, wem von den sieben die meisten Lobpreisungen zustanden. Eine großartige Tradition war das schon, keiner wollte dieses Spektakel missen.
Was passierte diesmal? KI hatte einfach ein achtes Bild auf die Zettel gezeichnet. Das war das von einem stadtbekannten Menschen, dem alten, weißen Mann. Der war freundlich, fast zahnlos und reichlich putzig. Manche hatten Schiss wegen der Gerüche seines selten gewaschenen Körpers. Das öffentliche Bad im Fluss war luxuriös, aber nicht eben billig. Und es regnete selten. Oft bekam er ein Stück hart gewordenes Brot oder welkes Gemüse geschenkt, er konnte es ja wirklich gebrauchen. Buchstäblich jeder, dabei gab es das Alphabet noch gar nicht, wusste, wer er war.
Die vom Verein für arme Leute, dem Klub der wahren Intelligenz und der Elfenschaft WissenWirBesser traten wie üblich vor und vollzogen voller Ernst das Ritual. Nachdem die Zettel aufgehängt waren, drängten sich wie immer die Leute, das Resultat zu beschauen. Sehr oft hörte man da vor den Zetteln so seltsam klingende Worte wie ein tief befriedigend ausgestoßenes „JAWOLL!“ oder ein „Das wurde aber auch mal Zeit!“. Staatliche NGOs zur Durchsetzung dem Podest wohlwollender Bekundungen gab es damals nämlich noch nicht.
Die lockenköpfige Wesirin hatte wieder wenig Anerkennung erfahren. Ganz im Gegenteil zur Neuen: dem alten, weißen Mann. Er, ahnungslos Kandidatin geworden, war allen sieben vorgezogen worden. Folgerichtig begannen ein paar zu rufen: Aufs Podest mit ihr! Das gefiel allen und ließ sich hervorragend skandieren: Aufs — Podest — mit — ihr! Da war Hochstimmung, wie so oft in Jericho. Es war eben das beste Jericho aller Zeiten.
Die Brünette stieß gerade noch rechtzeitig die Leiter um. Denn der alte, weiße Mann war doch tatsächlich dabei, hochzuklettern. Oder fast, nur zwei oder drei Schritt von der ersten Stufe entfernt. Also höchstens vierzig, vielleicht nur dreihundert, grundgefährlich unterhalb der gesetzlichen Strafbarkeit, ganze fünf- bis sechstausend Schritt von der Zerstörung der Regelbasierung entfernt.
Die Großwesirin erhob sich, um zu sprechen. Alles verstummte.
„Du bist unwürdig in jeglicher Hinsicht, alter, weißer Mann.“ Sie zitterte vor Wut, ihre Stimme wurde fistelnd: „Niemand hat die Absicht, eine Brandmauer um dich zu bauen.“ Ihre Stimme fing sich wieder, triumphierend rief sie aus: „Denn wir haben ja eine! Rund um unser Jericho. In Aberkennung deiner Beliebtheit, die wir nur, wenn es für uns gut sein sollte, teilen würden, erhältst du diese höchst verantwortungslose Aufgabe: Zähle die Sandkörner, die Jericho gehören.“ Ein Trupp Eunuchinnen führte ihn zum Obertor hinaus, da war die erste Düne schon zu sehen. Die war so groß, kaum konnte man erkennen, wie viele dahinter noch lagen.
Die sieben Wesirinnen aber blieben hoch oben auf dem Podest. Das war der Beginn.
Es nisteten sich Miesepeterei und heimliches Gewisper unter dem Podest ein. Gefroren wurde natürlich, viele Ältere sammelten Plastflaschen zum Feuermachen.
Auch auf dem Podest gab es eine Aufgabe zu bewältigen, die noch nie dagewesen war. Nach einer guten Woche hatten die sieben Wesirinnen indes ihre Lösung gefunden und verkündeten: „KI hat sich in der Spelunke in der Oase flussabwärts volllaufen lassen.“ Dann habe sie ein Kamel gestohlen, habe jedoch gar nicht aufsteigen können, so betrunken sei sie gewesen. In dem Zustand habe ihr der alte, weiße Mann geholfen. So sei KI zum Heimweg nach Jericho aufgebrochen. Natürlich habe sie sich mit 3,8 auf dem Kessel verirrt, das Kamel sei in der Wüste verdurstet und KI allein daheim angekommen.
Die Laune der Jerichoer wurde schlagartig schlechter. KI konnte doch gar nicht in der Oase gewesen sein. Ihr fehlte dafür schlicht die Zeit. Sie war ja vollauf damit beschäftigt, die vielen gewünschten Zeichnungen mit dem Konterfei des alten, weißen Mannes anzufertigen. Alle wussten zudem: In den zwanzig Minuten zu Fuß zwischen Oase und Jericho hat niemand die Chance, sich zu verfehlen, gar als Kamel zu verdursten.
Die Stimmung wurde besorgniserregend. Oben und unten merkten alle: Da braut sich was zusammen. Da müssen wir doch was tun!
Etliche wussten um die Vernunft oben auf dem Podest, die Wesirinnen werden es schon zu ihrer Zufriedenheit richten. Getuschelt wurde dennoch. War der alte, weiße Mann denn nicht auf der anderen Seite der Stadt beim Zählen der Sandkörner unter Aufsicht? Da hätte er ja den fürchterlichen Eunuchinnen entkommen müssen, um in der Oase die behauptete Hilfe leisten zu können.
Kaum vorstellbar, aber die Frage war tatsächlich: Haben unsere Wesirinnen etwa gelogen? Nein, das konnte nicht stimmen, das sind ja unsere Wesirinnen.
Es ist wirklich heftig, was Nachdenken ohne Übung für Kopfweh machen kann.
Aus Versäumnis der Wesirinnen waren derartige Gedanken noch nicht einmal strafbar!
Die ehemalige Großwesirin, die durch den alten, weißen Mann hätte ersetzt sein sollen, reagierte in bekannter Art: „Der alte, weiße Mann bestiehlt Jericho fortlaufend. Der schafft ständig unseren Sand weg, hinüber auf fremde Dünen.“
Jetzt kochte unten die Wut über. „Haltet gefälligst eure blöden Fressen!“, brüllte sie daraufhin hinab. Allein das taten die Menschen nicht.
Die sieben vom Podest schimpften auf das tumbe Gesocks unten ein. Da waren Sprüche bei, dass sich die Balken bogen! Die Hochhackige zog kurz entschlossen den linken Highheel vom Fuß und hämmerte rabiat die blöden Hölzer wieder in die Waagerechte.
Während die sieben Wesirinnen hoch oben damit beschäftigt waren, davonfliegenden Nägeln hinterherzuschauen, sahen die Leute vor dem Podest hinauf. Und sahen nicht nur das Podest. Genau darüber war eine Wolke, in der waren alle Zotigkeiten, Halbwahrheiten und das auf Nachfrage bei den sieben Wesirinnen gerade jetzt nicht Erinnerliche vom Ex, Cum schon, hängen geblieben. So war die Wolke zu ihrem eigenen Leid immens angeschwollen, schwarz die Sonne verdeckend.
Die Großwesirin verkündete schließlich, dass die Tradition mit den Zetteln so lange ausgesetzt bleibe, bis die Wesirinnen eine dafür geeignete KI 2.0 gefunden habe. Die müsse die Schönheit und Klugheit der sieben Wesirinnen bildlich darstellen können und Rohköstler sein.
Da geschah das Erwartbare. Die Wolke entlud sich mit ungeheurer Wucht. Ein nicht vorstellbares Scheppern, alle Trommelfelle platzten. Das waren für mich schlicht die Posaunen von Jericho.
All der halbvergorene geistige Mist, das Falsche, die Lügen, das ekelhafte Gesülze und Geschleime, das die Wolke voller Gram hatte auffangen müssen, ergoss sich in einem Aufwasch über Jericho. Das Podest mit allem darauf wurde in den Fluss gespült. Der nahm wie immer alles Schlechte und das die Menschen Gefährdende mit sich fort. Seitdem kennt niemand mehr die sieben Wesirinnen oder den VAL, den KWI und die WWB.
Ich aber hatte genug von Jericho und zog in die Republica Grandiosa Banana.