Almosen von Räubern
Die Koalitionsparteien haben die Alterssicherung zugrunde gerichtet — jetzt plustern sie sich mit der „Grundrente“ als Wohltäter auf.
Von einem „sozialpolitischen Meilenstein“ sprach Arbeitsminister Hubertus Heil. 1,3 Millionen Menschen sollen mit dem Grundrentenkompromiss — mit Einkommensprüfung, ohne Bedürftigkeitsprüfung — ab 2021 besser gestellt werden. Allgemeines Schulterklopfen scheint nun angesagt. Die Koalitionäre sind einen Schritt vorwärts gegangen und wollen vergessen machen, dass Union und SPD in ihren Regierungsjahrzehnten zuvor zehn Schritte rückwärts gegangen waren. Das Rentenniveau ist seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gesunken, — von 60 Prozent im Jahr 1977 auf circa 48 Prozent heute, während das Bruttoinlandsprodukt im selben Zeitraum ebenso kontinuierlich stieg. Ein Land, das sich viel auf seine „christliche Leitkultur“ zugutehält, verfährt nach dem Motto „Du sollst deinen Vater und deine Mutter missachten“. Der beleidigende Wahnsinn hat System, denn er liegt in der Logik der kapitalistischen Menschenverwertungsmentalität. Rentner brauchen keine Gnadengeschenke, sie brauchen zunächst Respekt und Schutz davor, dass man ihnen die Früchte ihrer Arbeit stiehlt.
Vielleicht ist es mein Alter. Immer häufiger ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass es „früher“ besser war. Als ich klein war, ja selbst in meinen mittleren Jahren, ging es den älteren Menschen in meinem Umfeld — meinen Eltern, älteren Verwandten und Freunden meiner Erzeuger — materiell gut. Selbst im Arbeitermilieu genügte das Gehalt eines Ehepartners, meist das des Mannes, für den Lebensunterhalt einer ganzen Familie. Viele Bergarbeiter konnten ihren Familien in der Gegend, in der ich lebe, ein „Haus hinstellen“, wenn sie sparsam und fleißig waren.
Nie war die Rede davon, dass jemand zur Tafel gehen musste oder zum Flaschensammeln, nie von der auszufüllenden Steuererklärung oder davon, dass es ohne private Zusatzrente nicht reichen könnte. Völlig undenkbar war der demütigende Gang zu einer Sozialbehörde, um die Rente „aufzustocken“. War jemand in Rente, hatte er Ruhe, genoss seinen Lebensabend, war gesellschaftlich anerkannt und wurde allenfalls aufgrund nachlassender körperlicher Gesundheit bedauert. Die Senioren kokettierten damit, dass sie jetzt, im Ruhestand, kaum mehr Zeit hätten und nahmen Anteil am Schicksal ihrer Kinder und Enkel.
Niemand sprach von „Respektrente“. Man muss so einen Begriff wohl erst betonen, wenn das, was damit gemeint ist, in der Realität fehlt — so wie man Menschen, die früher „Gastarbeiter“ hießen, heute „Mitbürger“ nennt, grade weil es in unserer Gesellschaft kaum ein Miteinander mit Zuwanderern gibt.
Vielleicht erinnere ich mich aber auch nur nicht mehr so genau daran, wie es früher war, oder sehe alles mit einem verklärten Blick, weil ich eben damals jung war und mich um die Details im sozialen Leben meiner Mitmenschen nicht so gekümmert habe. Jede und jeder hat diesbezüglich wohl eigene Erinnerungen.
Die Respektlosigkeitsrente
Jetzt jedenfalls hat unsere mittelgroße Koalition eine Grundrente beschlossen, die am 1. Januar 2021 in Kraft treten soll. Als „Respektrente“ wurde dieses Konstrukt früher vor allem in SPD-Kreisen bezeichnet.
In Wahrheit kann man nur von einer halbherzigen Abmilderung der schreienden Respektlosigkeit sprechen, mit der unsere Gesellschaft alte Menschen seit langem behandelt.
1,3 Millionen Deutschen könnte es in naher Zukunft ein bisschen besser gehen, sehr viele bleiben arme Schlucker.
Vielen ist jedoch sogar dieses Reförmchen zu viel des Guten. Der Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer benahm sich beim Thema Grundrente wie seine eigene Karikatur, so als wolle er jedem Klischee über hartherzige, sozial blinde Unternehmer gerecht werden. Er warnte, jedoch nicht vor weiterhin fast unbegrenzter Altersarmut, sondern davor, dass sich die Union von der SPD erpressen lassen könnte:
„Die Union muss irgendwann auch den Konflikt mit der SPD aushalten und darf sich nicht nur deshalb immer mehr auf sozialdemokratische Politik einlassen, weil sonst der Koalitionsbruch droht.“
Der Arbeitgeberpräsident forderte — niemanden dürfte es überraschen — weitere Entlastungen der Wirtschaft. Als sei diese nicht schon dadurch ausreichend entlastet, dass niemand sie nötigt, Mitarbeiter anständig und oberhalb des Mindestlohns zu bezahlen.
Armutsrentner werden in diesem „reichen Land“ wie der Schwarze Peter weitergereicht, wie eine unzumutbare Belastung, mit der sich niemand gern beschäftigt. Arbeitgeber wälzen die sozialen Folgen von Minderbezahlung auf die Rentenkassen ab.
Der Staat soll die nach ihrer Berentung ins Bodenlose abstürzenden Geringverdiener mit Almosen auffangen — wie es der Grundrentenkompromiss wenigstens teilweise versucht.
Auch die Politik nimmt sich nur widerstrebend der Aufgabe an, für menschenwürdige Renten zu sorgen. Sie gibt den Schwarzen Peter an die Betroffenen selbst weiter. Diese sollen gefälligst eigenverantwortlich selbst für eine Aufstockung ihrer Renten sorgen: indem sie sich den Profithaien der privaten Rentenversicherungen ausliefern. Heerscharen von Investment-Schnöseln schwärmten seit Einführung der Riesterrente 2002 aus und machten den Menschen Angst vor der Altersarmut, die nur abzuwenden sei, wenn man ihnen sein Geld anvertraute. Das Schlimme ist: Die Schnösel hatten mit ihren Horrorszenarios recht.
Oder die Verantwortung wird an Verwandte der Betroffenen weiterverschoben. Dies war ja einer der Kerngedanken des Prinzips „Bedürftigkeitsprüfung“, das von Unionspolitikern lange favorisiert worden war. Wenn jemand über einen wohlhabenden Ehegatten verfügte, sollte der halt die Rente seines Partners/seiner Partnerin aufstocken. Liebende stützen einander bekanntlich in guten wie in schlechten Zeiten, und die Politik tut alles, damit möglichst viele Paare gemeinsam schlechte Zeiten durchleben.
Dies immerhin ist — der SPD sei Dank — vom Tisch. Es gibt nur noch eine Einkommensprüfung, die durch Abgleich mit Daten aus dem Finanzamt bestimmt wird. Wer „zu reich“ ist, geht leer aus. Dies wirkt gerade aus „linker“ Sicht akzeptabel. Dennoch bleibt der Eindruck eines geizigen Staates, der den Kreis der Empfänger von vermeintlichen Gnadengeschenken möglichst kleinzuhalten sucht.
Pursuit of Poverty
Noch immer wird darauf Wert gelegt, dass nur „wirklich Bedürftige“ Geld bekommen. Wie bedürftig muss denn jemand sein? Ist es nötig, dass sich Hungerödeme zeigen? Oder genügt es auch, dass zahllose Menschen in Deutschland längst nicht die finanzielle Bewegungsfreiheit und Lebensqualität haben, die sie verdienen würden? Der Sozialstaat funktioniert nur noch als Mechanismus zur Vermeidung des „Schlimmsten“, als ein Auffangnetz gegen den Sturz in den Tod, ähnlich wie bei einer Trapezkünstlerin. Es gibt kein Konzept, Wohlstand für (fast) alle zu ermöglichen. Zu groß ist die Angst, dass irgendwo ein Cent „unverdient“ abgegriffen würde oder in den Taschen eines Unwürdigen landete, eines Faulenzers.
Ein gutes Leben für hart arbeitende Menschen — aber in einem gewissen Rahmen auch für „weich arbeitende“ und für unverschuldet Erwerbsunfähige — das ist kein politisches Ziel mehr. Zu verliebt scheinen Parteien, die sich christlich, sozial oder freiheitlich nennen, in ihre schwarzpädagogischen Fantasien über Menschenzurichtung. In ihr hierarchisches Gesellschaftsmodell, das Menschen eben nur ein sorgsam abgestuftes Recht auf Glück und relativen Wohlstand zugesteht.
Kulturideal ist noch immer der kerngesunde, vor Leistungswillen schier vibrierende Mensch mittleren Alters, der über drei, vier oder fünf Jahrzehnte mit maschinenhafter Präzision seine Stunden ableistet.
Dabei zählen nur marktfähige Arbeitsleistungen, während Arbeit als Teil alternativer Lebensentwürfe oder auch Familienarbeit durch Verweigerung pekuniärer Anerkennung massiv entwertet wird. Menschen an den Rändern des Verwertbarkeitsspektrums — das gilt für Junge wie Alte — behandelt man betont ungnädig. Man lässt sie spüren, dass sie den Anforderungen des Marktes noch nicht oder nicht mehr zu entsprechen vermögen.
Die Todsünde: Ineffizienz
Letztlich ist die Verweigerung von Respekt gegenüber den Rentnern nur im Kontext eines generellen Trends zu verstehen. Wie Arbeitslose, Kranke und Behinderte haben sich alte Menschen des größten Verbrechens im Kapitalismus schuldig gemacht: Sie sind ökonomisch nicht verwertbar. Dass sie daran keine persönliche Schuld tragen, ist für die Punktrichter in den oberen Etagen von Politik und Wirtschaft zweitrangig. Rentner leisten nichts, sie kosten nur. Deshalb versucht man, sie klein zu halten und sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung für jene, die das Gemeinwesen über Jahrzehnte getragen haben, billig fortzustehlen. Die Schandrenten von heute sind in Wahrheit Strafen für Ineffizienz.
Dabei gibt es sie selbstverständlich: die wohlhabenden, noch leidlich fitten Senioren, die sich auf einer Mittelmeerinsel die Sonne auf ihren mit grauem Haarflaum bedeckten Bauch scheinen lassen. Die Zweiklassengesellschaft schlägt im Alter noch drastischer und erbarmungsloser zu. Das Alter ist kein Schonraum, in dem die Sünde, in jungen Jahren Geringverdiener gewesen zu sein, verziehen wird. Die Versäumnisse der aktiven Zeit holen einen in der inaktiven ein. Von zwei Ruheständlern — beide für die Gesellschaft in der Gegenwart genau genommen „nutzlos“ — lebt einer im Elend, der andere in Saus und Braus — wegen in der Vergangenheit erbrachter beziehungsweise nicht erbrachter „Leistung“.
Dabei zählen allein die Leistungskriterien der Privatwirtschaft. Der Top-Manager in der Rüstungsindustrie, der überdies in Aktien investiert hat, darf sich auch im Alter am „wohlverdienten“ Luxus erfreuen. Der Freiberufler, der sich in idealistischen Magazinen verdingt hat, muss weitaus kleinere Brötchen backen. Ebenso wie die ewige Ehrenamtliche, die sich um der guten Sache willen stets viel zu billig verkauft hat — weil sie sich eigentlich überhaupt nicht verkaufen, sondern lieber in Freiheit verschenken wollte. Ebenso wie die Mutter von fünf Kindern, der die „ganz große Karriere“ aus nahe liegenden Gründen nicht gegeben war und der die Gemeinschaft, für die sie sich aufgerieben hat, am Lebensabend den Stinkefinger zeigt.
Der Staat folgt den höchst einseitigen Bewertungskriterien von Unternehmern, was marktfähige Arbeitsleistungen sind und was nicht. Er trägt den Menschen ihre „Minderleistungen“ nach, bis sie alt und zu hilflos sind, um möglicherweise falsche Lebensentscheidungen noch zu korrigieren. Ja, die Ausbeutermentalität mancher Chefs verfolgt Angestellte noch lange nach dem Ende eines Anstellungsverhältnisses.
Dabei soll die Grundrente diese Missstände natürlich abmildern, indem sie „ganz unten“ für bescheidenen Ausgleich sorgt, sofern der Betroffene lebenslanges braves „Hartarbeiten“ nachweisen kann.
Kein Fehler im System, sondern Absicht
Altersarmut ist kein Fehler im System, sondern liegt in dessen ureigener Logik. Sie hat für die Systemgewinner eine Reihe von Vorteilen:
- Es wird Druck auf Jüngere ausgeübt, sich möglichst ihr ganzes Leben lang den Unternehmen zu deren Bedingungen als Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.
- Es wird an Rentnern Geld eingespart, das dann für „Wichtigeres“ zur Verfügung steht, etwa für die Militarisierungspläne von Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und für die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels von US-Präsident Donald Trump.
- Die Verweigerung einer wirklich respektierenden staatlichen Rente spült Geld in die Kassen der privaten Rentenversicherungen, denen sich Union und SPD seit den Zeiten von Walter Riester besonders verpflichtet fühlen. Gleichzeitig wird die Verantwortung für spätere Altersarmut gleichsam crowdgesourced. Das bedeutet: Geringverdiener sollen nicht nur materiell darben, sie sollen sich auch noch schlecht dabei fühlen, dass sie von ihren 10 Euro Stundenlohn nicht auch noch einen Euro für die Riesterrente abgezwackt haben. Geringverdiener sind nicht in der Lage, der Versicherungsindustrie als Zielgruppe zur Verfügung zu stehen, und auch für diese „Sünde“ droht die Höllenstrafe der Altersarmut.
- Der Staat nimmt durch eine im Durchschnitt beschämend niedrig gehaltene Rente massiv Einfluss auf die Lebensgestaltung seiner Bürger. Für diese wird es zunehmend schwer, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selber wollen. Jeder muss zusehen, dass er eine lückenlose Erwerbsbiografie von mehr als 35 Jahren „hinkriegt“. Das lässt ab dem 30. Lebensjahr keinerlei Spielräume mehr für berufliche Suchbewegungen, für „Trial and Error“, für Lücken in der Erwerbsbiografie, die nicht-materiellen Bedürfnissen gewidmet sei können: dem Träumen, Sich-Finden und Unvernünftigsein, ganz abgesehen von ungewollter Arbeitslosigkeit und von gesellschaftlich ja eigentlich erwünschter unbezahlter Familienarbeit.
Der Mensch muss also nicht nur so leben, dass seine Laufbahn in Bewerbungslebensläufen nach Maßgabe strenger Personalchefs „gut aussieht“; er muss auch auf einen finanziell ausreichend abgesicherten Lebensabend „hinleben“, sich also über Jahrzehnte in eine Tretmühle einspannen lassen, um „Rentenpunkte“ zu sammeln. Weigert er sich, so zu leben, wie die Rentenanstalt es wünscht, oder scheitert er an den Leistungsanforderungen, droht ihm noch mit über 70 eine Existenz als „Working Poor“.
Man sieht heute immer häufiger greise Jammergestalten, die auf Parkplätzen Zigarettenkippen aufspießen und in einem Sack einsammeln, oder die im Vorraum stinkender Toiletten darum betteln, dass die Urinierenden gnadenhalber ein paar Groschen für sie springen lassen. Jeder kann sich ausmalen, dass auch ihm eine solche Zukunft blühen kann.
Das ist kein Zufall und kein „Betriebsunfall“ unseres Sozialsystems. Dieser Staat wünscht sich seine Bürger als von Angst Getriebene unter dem Damoklesschwert der Altersarmut.
Arbeiten bis zum Umfallen, dann Zweibettzimmer im Altenheim, zusammengesperrt mit einer röchelnden, nörgelnden und depressiven Fremden — dies ist die Zukunftsperspektive selbst für relativ intelligente und leistungsfähige Menschen, die lediglich nicht genügend Geschick — oder genügend Gewissenlosigkeit — besessen haben, um ihre Haut in einer der lukrativen Branchen zu Markte zu tragen.
Guter Deal für Union und SPD
Neben dem gesamtgesellschaftlichen „Nutzen“ von Armutsrenten bringt die vorliegende Grundrentenlösung von Union und SPD aber auch noch beträchtliche kurzfristig-strategische Vorteile für die Regierungsparteien mit sich:
- Beide Parteien vermeiden durch diesen Kompromiss das vorzeitige Platzen der Koalition gerade in einem Moment, in dem ihre Umfragewerte im Keller sind. Die derzeitigen Postenbesitzer dürften ihre Plätze also behaupten können. Die Union besinnt sich derzeit auf den Grundsatz, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Sie suggeriert dem Wahlvolk: Es braucht keinen Linksruck in Deutschland. Wir, die CDU/CSU sind selber links genug. So erspart ihnen publikumswirksame Sozialkosmetik wirkliche Veränderungen. Diese gelinde Anpassung an „Links“ ist immerhin ein Fortschritt gegenüber dem andauernden Schielen nach rechts im Jahr 2018. Damals hatte man ja den Eindruck, dass es außer „der Flüchtlingsschwemme“ eigentlich überhaupt keine Probleme in Deutschland gab. Nun kümmert man sich wenigstens um einige wirklich wichtige Probleme — ohne sie jedoch tiefgreifend zu lösen. Die am Abgrund taumelnde SPD kann ihren Wählern signalisieren: Wir tun doch was — wenn wir nicht mehr erreicht haben, dann liegt das nur am Widerstand unseres Koalitionspartners.
- Im internen Richtungsstreit zwischen der „linken“ Parteiführung unter Walter-Borjans und Esken und dem streng neoliberalen Scholz-Flügel kann letzterer punkten, indem er zeigt: Wir haben als SPD schon einiges erreicht. Wir sollten unsere Erfolge nicht kleinreden und dürfen ruhig selbstbewusster auftreten. Es ist gar nicht nötig, „noch“ weiter nach links zu rücken. Leider könnte dieses durchschaubare Manöver von Erfolg gekrönt werden und uns weitere eineinhalb Jahre Stagnation mit Merkel und Scholz bescheren.
„Gnade“ statt Respekt
Die Koalitionsparteien sind maßgeblich schuld am Verfall des Rentensystems und spielen sich jetzt als Wohltäter auf. Sie schenken den alten Menschen nichts, was sie ihnen nicht zuvor genommen hätten. Indirekt jedenfalls, indem sie die politischen Rahmenbedingungen für die Beraubung der Arbeitenden schufen. Sie haben außerdem die Mietenmisere in den Großstädten über Jahrzehnte schleifen lassen beziehungsweise mitverschuldet — wie das Beispiel der schon „ewig“ von der SPD regierten Stadt München zeigt — und so einen bedeutenden weiteren Armutsfaktor für Rentner geschaffen.
Sie haben durch Steuergeschenke an Vermögende und Konzerne sowie durch überhöhte Rüstungsausgaben für enge finanzielle Spielräume gesorgt. Sie sind außerdem für den allgemeinen Verfall der Löhne mitverantwortlich: durch Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten und einen expandierenden Niedriglohn- und Leiharbeitssektor; durch Hartz IV als Drohkulisse, die viele Menschen in miese, ihrer Qualifikation nicht angemessene Arbeitsverhältnisse zwang; durch ihre Nibelungentreue zum neoliberalen Menschenverwertungsprojekt; durch fahrlässige Marktgläubigkeit und zum Teil sicher auch durch eine bewusst gepflegte Mentalität elitärer Menschenverachtung.
Dieselben Parteien wollen sich jetzt wegen einer geringfügigen Rentenerhöhung für etwa 1,3 Millionen Menschen feiern lassen. Sie raubten den Menschen die Möglichkeit, sich eine menschenwürdige Rente selbst zu verdienen und machen jetzt auf „Gnade“. Das ist, als hätte eine Einbrecherbande einem Menschen die Wohnung leer geräumt und würde ihm nun, da er zum Betteln auf offener Straße gezwungen ist, ein paar Münzen in den Hut werfen.
Sicher ist der derzeitige Rentenkompromiss „besser als nichts“. Die Debatte darüber beleuchtet jedoch schlaglichtartig, wie schlimm die Zustände waren, die vorher herrschten — und wie schlimm sie selbst mit ein paar kosmetischen Korrekturen noch immer sind. Wie schon im Fall der jetzt abgemilderten Hartz IV-Sanktionen gilt: Es ist beschämend, wie spät diese Maßnahme kam und wie halbherzig sie umgesetzt wurde.
Zudem wird man den Eindruck nicht los, dass hier nur ein marodes System über die Runden gerettet werden soll, indem man dem befürchteten Widerstand die Spitze abbricht: „Was wollt ihr denn, ihr habt doch jetzt die Grundrente. Die da oben tun schon was, die sind nicht untätig.“ So dürften sich die Armen wieder mal mit einem Platz in der hintersten Reihe zufriedengeben, wenn es um die Prioritäten der Bundesregierung geht. „Höchste Priorität“ genießt ohnehin laut AKK — Sie dürfen raten — die Bundeswehr. Unsere Jungs und Mädels in Uniform setzen bekanntlich für unsere Freiheit am Hindukusch, in Mali und anderswo ihr Leben auf’s Spiel.
Aber Rentnersein in Deutschland, das kann mittlerweile auch lebensgefährlich sein.