Alltag

Eine kurze wirre Geschichte über eine wirre Welt, die sich auch im Jenseits widerspiegelt.

Dass der Irrsinn mit dem Tod nicht endet, ist als Gedankenspiel schon verschiedentlich durchdekliniert worden. Lutz Tröbitz fügt, inspiriert von der klaren Luft des patagonischen Südens, noch eine Variante an. Seine Geschichte geht nach jeder Wendung etwas anders weiter, als man vorher gedacht hätte. Logisch ist das längst nicht immer, aber kann ein Abbild der Welt logisch sein?

Lange hatte Wolfgang nicht gelitten, es ging ziemlich schnell. Er war mit dem Fahrrad gestürzt, der nachfolgende Wagen zwar gedankenschnell ausgewichen, allein das hatte nicht gereicht. Der entgegenkommende Wagen hatte diesen erwischt und zurückgeschoben. Zu stehen gekommen war das zwei Tonnen schwere Gerät schließlich nach dem langsamen Überrollen des linken Beines. Im Krankenhaus wurde der Rest davon amputiert, die Wunde wurde septisch, und er hatte nur noch zwei elende Tage.

„Ein herzensguter Mensch war euer Papa. Immer ehrlich und gewissenhaft.“ Die Witwe stand am Bett des Toten und sprach zu den Kindern.

„Er war auch sehr schlicht, ich wusste immer schon vorher, was er vorhatte.“

Die ältere Tochter seufzte in der Erinnerung. „Deshalb wurde er ja auch so oft ausgenutzt. Ich jedenfalls möchte mal eher in Rente gehen und nicht so viel schuften müssen in meinem Leben. Keine drei Monate hat er den Ruhestand genießen dürfen.“
Die jüngere Tochter ergänzte die Worte noch schnell mit: „Ich habe dich aber immer lieb gehabt, Vati!“

So nahmen sie Abschied vom toten Leib, die Seele indes war schon angekommen.

Nackt und bloß stand Wolfgang vor einer hässlichen, leicht vergilbten Kunststofftür mit deutlich erkennbaren Querversteifungen und einbruchsicheren Verriegelungen. Eine Überwachungskamera musterte ihn, die Tür ließ sich aber schnell öffnen. Nur eine Frage war auf einem LED-Tableau, und die war einfach zu beantworten gewesen.

Auf dem Boden des vor ihm liegenden Raumes wurde ihm der Weg nach halblinks mit Lichtzeichen signalisiert, und schon wenige Schritte später stand er vor einer Wolke. Die war wie ein Vorhang, es gab eine lange Kordel zum Ziehen an einer Glocke. Zufrieden sah er das Gebilde. Also war ich doch ein braver, tugendsamer Mensch, dachte er und zog. Es musste die Himmelspforte sein. Petrus erschien, umarmte Wolfgang herzlich und bat ihn herein.

So kam Wolfgang in den Himmel, völlig zu Recht, oder?

Nach einiger Zeit lief er Petrus wieder über den Weg. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach ihn an. Nach dem ausführlichen Dankeschön, der Herr lächelte darüber leicht schelmisch, stellte er ihm die Frage: „Was war denn das für eine erbärmliche Tür, die ich vor der Himmelspforte passieren musste?“

„Wolfgang, ich freue mich, dass du daran Interesse zeigst. Ich zeige dir gern, was es mit der Tür auf sich hat.“ Er nahm seinen neuesten Engel mit in sein Büro.

Das Leben auf der Erde ging unterdessen weiter, wenn auch nicht für alle. Untröstlich wurde in den demokratischen Ländern das jähe Ende eines der begabtesten Köpfe der Politik vernommen.

Beim gut besuchten Gottesdienst sagte der Bischof: „Gottes Wege sind unerforschlich, aber der Weg zu ihm ist sicher. Danken wir der Verblichenen für ihre vielen guten Taten als Politikerin und danken wir Gott in der Höhe für seine Gnade.“ So geschah es. Die Seele der Verstorbenen stand vor der ekelhaft schmutzigen Tür, die Überwachungskamera musterte sie. Petrus und Wolfgang sahen durch den durchsichtigen Fußboden des geräumigen Bürozimmers zu. Der Lautsprecher an der Tür schnarrte: „Wer da?“

„Ich, Viola. Ich war verantwortlich in mehreren Ministerämtern meines hoch zivilisierten Landes und habe anderen Ländern beigebracht, was Zivilisation ist. Meine Bevölkerung hat mich für meine Tatkraft geliebt.“

„Geliebt?“

„Alle Medien haben es mir bestätigt, und bei den Wahlen hat meine Partei mit 8,93 Prozent das zweitbeste Ergebnis aller geholt, es stimmt also, verdammt noch mal! Nur die Rechtsaggressiven und die Faschos waren nicht meiner Meinung. Sonst hat niemand und niemandin irgendwann etwas Schlechtes über meine Politik zu sagen gewagt!“

Das Bedientableau der Tür zeigte einen Text: Trrrrten Sie ein!
Irritiert las sie, der Text fing an zu blinken. Schnell, solange es noch ging, versuchte sie hineinzuschlüpfen. Es gab keine Klinke, sie musste ihren schmächtigen Körper mit Kraft gegen den Türflügel pressen.

„Igitt, ob ich mich dann waschen kann, das Ding ist ja so unhygienisch dreckig.“

Drinnen war ein Flur, auch lange nicht mehr geputzt. Einige Türen standen zur Auswahl. In mehreren Sprachen waren da jeweils Schilder angebracht: „Schwurbler, Covidioten, Querdenker“. Da würde sie gewiss nicht eintreten. Wieso die überhaupt bis hierher kommen konnten? Auch die Aufschriften „Arbeiter, Angestellte, Unternehmer“ passierte sie mit Gedanken, die dem vorherigen ähnelten, und noch einige andere. Der Gang war doch ziemlich lang. Petrus und Wolfgang schauten zu.

„Demokratische Politiker“ — na also. Sie war angekommen und stieß die Tür flott auf. Die Tür knallte einem dicht dahintersitzenden Mann an die Schulter. „Weiber“, entfuhr es ihm. Dann steckte er seine Hand wieder zwischen die Knöpfe seines Jacketts. Den alten Franzosen kannte sie. Der ganze Raum war dicht mit Stühlen vollgestellt, fast alle besetzt. Einer mit schwarzem, schmalem Schnauzer stieß sie in die Rippen und deutete auf einen Automaten an der Wand. Dort konnte sie sich eine Wartenummer ziehen. Auch diesen Typen kannte sie. Dass der hier war?

Sie murmelte: „Bin ich hier richtig, bei die demokratische Politiker?“

„Glar doch!“ Ulbricht bot ihr den freien Stuhl neben seinem an. Sie brauchte etwas, sich zu sammeln. Ringsum nur Verbrecher, dachte sie. Aus der gegenüberliegenden Reihe stand ein kleiner Untersetzter auf und haute ihr seine Faust ins Gesicht.

„Das ist Pol Pot, der verdrähscht geene Gridigg“, soufflierte Uli. „S ja och bleede, was de sachen duhst, un Grammadigg ganns de och nisch.“

*Für die, die kein Sächsisch verstehen, Variante mit Honi:

Sie murmelte: „Bin ich hier richtig, bei die demokratische Politiker?“

„Klar doch!“ Erich H. bot ihr den freien Stuhl neben seinem an. Sie brauchte etwas, sich zu sammeln. Ringsum nur Verbrecher, dachte sie. Aus der gegenüberliegenden Reihe stand ein kleiner Untersetzter auf und haute ihr seine Faust ins Gesicht.

„Das ist Pol Pot, der verträgt keine Kritik“, soufflierte Honi. „Es ist ja auch sehr dürftig, was Sie so sagen, und ein paar einfache Regeln für Grammatik kann Ihnen meine Frau beibringen, die war Bildungsministerin.“*

Fast unmittelbar danach sah sie etliche blutig geschlagene Gesichter, aber auch einige Generäle der frühen US-Zeit. Die hatten damals die letzten Eingeborenen zusammengeschossen, sodass Amerika groß und mächtig werden konnte.

Doch, es gab sie also, die aufrechten Demokraten hier, dachte sie erleichtert. Die Generäle hoben grüßend ihre Kopfbedeckungen. Fehlt ja bloß noch der klein gewachsene Franzose 

Prompt stieg einer ein paar Reihen hinter ihr auf seinen Stuhl und winkte ihr zu. Erschöpft sank sie zurück und weinte ein bisschen.

„Weiber“, der berühmte Franzose meldete sich wieder. Der Automat zeigte die Nummer an, die vorsprechen durfte. Sie bekam aber nicht mit, wer da Glück hatte. Der mit dem schmalen Schnauzer, der doch hier so absolut wirklich gar nichts verloren haben dürfte, sagte ihr: „Ich muss ja meine tausend Jahre warten!“

Wolfgang hatte von allem nichts verstanden.

„Aber ein paar von denen kennst du?“, fragte Petrus.

Er antwortete mit Ja.

„Wenn du möchtest, kannst du dich hier einbringen. Wenn diese Personen aufgerufen werden, kommt die Abwägung, ob das Schlechte ihres Charakters nicht vielleicht durch ein paar Erfahrungen übertönt worden ist und sie also moralisch doch besser sind als zunächst gedacht. Nur dass die Mehrheit der Menschen es nicht richtig mitbekommen hat und am einmal gefällten Urteil kleben geblieben ist ...“

„Klimakleber sind auch hier?“ Wolfgang erschrak.

„Vielleicht“, entgegnete Petrus. „Wir prüfen jedenfalls, ob diese Menschen es nicht vielleicht doch verdient hätten, irgendwann in den Himmel zu kommen. Das zu erkennen ist keine himmlische Aufgabe. Es ist eine, die irdische Fähigkeiten guter Menschen voraussetzt. Du kannst daran teilhaben. Überlege es dir; wenn du dich entschieden hast, gib mir Bescheid.“ Und Petrus zog davon.

Lange brauchte Wolfgang nicht, sich zu entschließen. Petrus kam bald schon zu seinem Wolkenhügel und sagte: „Ich akzeptiere deine Meinung. Wir haben auch noch andere Möglichkeiten, sich zu betätigen.“

Petrus war ein weltoffener, freundlich und nahbarer Typ. „Wir haben verschiedene Kunstwolken. Die Wolken sind echt, aber sie werden von Künstlern und Kunstinteressenten genutzt. Auch Sportwolken haben wir.“ So führte Petrus dem Wolfgang die vielen Facetten des Himmels vor.

Wolfgang hatte aber noch eine Frage zu dem Erlebten vom Vortage: „Diese Frau habe ich genau erkannt. Sie war mir nicht nur wegen ihrer Unbarmherzigkeit und ihres Kriegsgeschreis verhasst. Sie hat auch penetrant dafür gesorgt, dass meine Tochter auf dem Amt gendern musste. Nur hast du das wohl hier oben verpasst?“

Die Antwort von Petrus war ruhig und geduldig: „Ich kann dir zeigen, wie wir mit dem Thema umgehen. Aber da habe ich die Verantwortung und das Vergnügen in die Hände von kompetenten Engeln gegeben. Habe ich dir nicht angeboten, in diesem Bereich zu wirken?“

Sie waren wieder im Büro und sahen durch den Fußboden zu der hässlichen Tür. Davor stand ein Hüne, stolz und markig. Das Tableau leuchtete auf: „Geschleeecht?“ Der Hüne tippte ein: weiblich. Die nächste Frage lautete: „Kooonflikte mit dem Gesetz?“ Auch hier erfolgte die Antwort schnell: keine. Nachfrage: „Keine? Keine Prozesse oddder so?“

Jetzt brauchte der Hüne länger, um dann zuzugeben: „Vergewaltigung in der Frauensauna. Da behielten meine übrig gebliebenen Männerhormone die Oberhand. Das war kurz nachdem ich mich zum weiblichen Geschlecht bekannt hatte. Ich wurde aber freigesprochen. Ich war ja kein Mann mehr durch mein Bekenntnis und damit nicht verantwortlich für männliche Gewalt. Und Vergewaltigung von Frauen ist und bleibt eine männliche Angelegenheit.“

Das Tableau schrieb: „Den Mann sehe ich ja deutlich, die Frau überhaupt nicht. Was hast du Gutes getan?“

Der Hüne schrieb: „Ich bin Olympiasiegerin im Boxen!“

Wolfgang hatte genug gesehen und wollte den Ausgang der Geschichte nicht mehr erfahren. Zur definitiven Prüfung würde ein Kollektiv geeigneter Engel herangezogen werden, so ergänzte Petrus, der Wolfgang für diesen Job gewinnen wollte. Wolfgang vernahm es. Da er aber sein schlichtes Gemüt bewahrt hatte, ging er lieber zur Wolke, wo Gesellschaftsspiele gespielt wurden.

Und weil im Himmel nun alle längst gestorben sind, sitzt Wolfgang wieder auf einem einsamen Wolkenhügel und hört mal ein Operettenkonzert, spielt mal Rommé.