Alltag in Palästina
Inmitten von Absperrungen, Durchsuchungen und dem Surren der Drohnen entfaltet sich im Westjordanland ein kleines Stück Leben.
Wenn deutsche Politiker zum „Konflikt“ im Nahen Osten Stellung nehmen, zeigt sich, dass sie oft wenig mit den Verhältnissen vor Ort vertraut sind, sondern stattdessen sehr viel mit vorgefertigten Schablonen und Propagandamustern argumentieren. Nadja Asfur verbrachte den Winter teilweise in Nablus, im Westjordanland. Wie schon für frühere Beiträge auf Manova, hielt sie Geschehnisse aus dem Alltag der Menschen auf Papier fest, um Lesern einen Einblick in die Wirklichkeit vor Ort zu geben. Die Einträge, die eine Mischform aus Tagebuch und Bericht darstellen, verbinden Eindrücke, die sich aus den familiären Kontakten der Autorin in Nablus ergeben, mit persönlichen Gedanken und Reflexionen.
Ein Besuch bei der Familie im israelisch besetzten, von ständigen Krisen zerrüttelten, Westjordanland ist für uns seit vielen Jahren selbstverständlich. So sind wir Checkpoints mit Soldaten und — hier betone ich es einmal ausrücklich — Soldatinnen, die ihre Maschinengewehre schultergestützt schussbereit haben, gewohnt. Sieht man Bilder vom Krieg, so sind darauf meist nur Männer als Soldaten zu sehen, nicht so in Israel. Hier besteht auch für Frauen die Wehrpflicht. Oft führen sie Aufgaben in der Verwaltung und im Gesundheitsbereich aus, aber nicht immer.
Bei unserem letzten Besuch mussten wir Krieg in der Westbank, so auch in Nablus, der zweitgrößten Stadt mit ungefähr 250.000 Einwohnern, erleben.
Keine Abenteuerlust, sondern familiäre Verpflichtung, Bindung mit einem tiefen Zusammengehörigkeitsgefühl, motivierten uns Ende 2024 zu einem dreiwöchigen Aufenthalt in Nablus. Die alte Dame der Familie war schwer erkrankt, eine Operation mit unbekanntem Ausgang unumgänglich.
Freitag, 20. Dezember 2024: Der Grenzübertritt am Flughafen in Tel Aviv für einmal erstaunlich einfach. Passkontrolle und dann konnten wir Israel betreten. Oft waren bei vergangenen Besuchen langdauernde Befragungen, wohin wir wollen und warum, üblich. Fahrt durch Israel ins Westjordanland, nach Nablus. An allen Zugängen in die besetzten Gebiete befinden sich umfangreich gebaute Checkpoints. Die Zufahrt ins besetzte Gebiet wird von den israelischen Soldaten meist nicht beachtet, bei der Ausfahrt wird kontrolliert. Beiseite fahren, Gepäck aus dem Auto, Kontrolle wie im Flughafen. Wenige Autos sind auf den Straßen.
Wir genießen die Fahrt entlang der steinig, kargen Berghänge, die nur stellenweise bewachsen sind mit Oliven- und Mandelbäumen. Eingangs Nablus dann ein mobiler, auch „fliegender“ Checkpoint genannt. Die Straße ist durch eine Schranke gesperrt mit einem Häuschen, aus dem uns schon von Weitem die Mündung eines Maschinengewehrs ins Visier nimmt. Soldaten kommen mit dem Gewehr im Anschlag auf uns zu. Wir fahren ein israelisches Auto, erkennbar am gelben Nummernschild, sehen aus wie Ausländer. Sie fragen uns, ob wir ein Visum haben, die Schranke wird gehoben und weiter geht's. Was für ein Wunder! Wir wissen nicht, was die Soldaten gedacht haben. An diesem Tag war Nablus komplett gesperrt.
Der erste Eindruck ist derselbe, wie auch schon bei unseren vorhergehenden Besuchen. Die Straßen im Stadtzentrum vollgepfropft mit Autos, die sich nur schrittweise bewegen können. Viele Menschen im quirlig geschäftigen Teil von Nablus, Rafidia, in den Gaststätten und Cafés sitzend, die Geschäfte durchstöbernd, in der abgasgeschwängerten Luft gehend. Trügerisch, dieser fast idyllische Eindruck.
Krieg in der Westbank
Samstag, 21. Dezember 2024: Schauen wir aus dem Fenster im Haus der Familie, sehen wir am gegenüber liegenden Berg Ebal kaum Autos die Straßen entlangfahren. Sieht man vom Zentrum Rafidia ab, begleitet uns rund um die Uhr eine ungewöhnliche Stille in der sonst auch am Rande, zu allen Tages- und Nachtzeiten so rummeligen Großstadt. Die Wirtschaft ist am Boden. Es kann kaum noch gebaut werden, keine Rohstoffe werden in die Westbank gelassen. Das unberechenbare Schließen und Öffnen der Checkpoints mit oft stundenlangem Warten wirkt zerstörerisch, keine Verlässlichkeit, Beständigkeit ist möglich. Mal haben die Geschäfte Waren, mal nicht. Brauchte man normalerweise für die Strecke von Nablus nach Ramallah eine dreiviertel Stunde, kann es jetzt Stunden dauern. Dadurch sterben auch Menschen an den Checkpoints, wenn Kranke aus den Dörfern ins Krankenhaus in Nablus transportiert werden sollen.
Ein junger Mann erzählt, dass er mit zwei Freunden nach Ramallah, dem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum von Palästina, fahren wollte. Am Checkpoint holten die Israelis seine zwei Freunde aus dem Wagen. Einen verprügelten sie, der andere musste mit erhobenen Armen stehen und er, als Fahrer hatte Glück, konnte hinter dem Steuer sitzen bleiben. Sein Kommentar: „Solange die Situation so ist, verlasse ich Nablus nicht mehr.” Auch sein Geschäft läuft schlecht. Er ist Taxifahrer und hat früher die Menschen in die umliegenden Dörfer und Städte gefahren.
Bevor er Nablus verließ, hatte er vorsorglich seinen Telegramkanal gelöscht, da die Soldaten an den Checkpoints die Handys der unter vierzigjährigen Palästinenser kontrollieren, weil sie der Annahme sind, dass sich die Palästinenser über diesen Kanal verabreden, um Aktionen gegen Israel zu planen. Finden die israelischen Soldaten bei der Handykontrolle den Kanal, verprügeln sie diese jungen Männer nach Strich und Faden oder sie verhaften sie.
Einfach nur Frühstück
Mittwoch, 25. Dezember 2024: Erster Weihnachtsfeiertag. Wir fahren mit dem Auto ins Zentrum, um Frühstück — Hommos, Foul, Falafel — zu kaufen in einem Laden, der „Namruti” heißt und am Flüchtlingslager Camp Nr. 1 liegt. Viele Autos sind unterwegs, sie parken in zweiter und dritter Reihe auf der Straße, vor dem Laden. Auch in der Westbank ist Feiertag. Bei „Namruti“ soll es am besten schmecken. Das scheinen auch andere zu meinen, so voll ist der Laden. Eine Weile später sitzen wir zu Hause und essen mit der Familie. Da erzählt uns Amal sehr unaufgeregt, dass kurz nach unserer Abfahrt von dem Laden das israelische Militär die Straße und das Gebiet um den Laden abgesperrt hat. Wie geht das? Israelische Soldaten fahren in Zivil unauffällig in einem PKW mit palästinensischem Nummernschild — weiß mit schwarzer Schrift — vor, springen am Flüchtlingslager aus dem Auto, schießen in die Luft. Die Menschen flüchten in die Häuser oder Autos und fahren weg, Läden werden geschlossen, mit heruntergelassenen Rollläden sich und die Geschäfte schützend. In kürzester Zeit ist die Gegend menschenleer. Ungestört können nun Militär-LKW's mit weiteren israelischen Soldaten vorfahren. Sie dringen ins Flüchtlingslager ein, um sich der Gesuchten zu bemächtigen. Solche Aktionen kommen häufig an verschiedenen Stellen in Nablus vor. Besonders haben es die Israelis aber auf die Flüchtlingslager, dem Symbol der Vertreibung, abgesehen. Außer dem Camp Nr. 1 gibt es noch Balata und Askar in Nablus. Sie sind nach 1948, dem Jahr der Gründung Israels und der Vertreibung tausender Palästinenser, entstanden. Viele Widerstandskämpfer leben hier.
Nerventöter
Beim Frühstück hören wir ein eindringlich brummendes Geräusch. Das sei eine Drone, die über Nablus kreise. Wir fahren in die Altstadt, Knafi nablusie essen, die beliebte orientalische Süßgkeit, weit über die besetzten Gebiete hinaus bekannt. Wie ein Wiesel flitzt die Bedienung zwischen den Tischen hin und her. Im gegenseitigen Wiedererkennen erzählen wir ihm das Vorkommnis von heute Morgen. Nichts Besonderes, meint er, das komme ständig vor. Die Situation habe sich politisch und dadurch auch wirtschaftlich zugespitzt. Er habe acht Kinder, arbeite jeden Tag zehn bis zwölf Stunden für umgerechnet 1,80 Euro pro Stunde. Er könne sofort gehen, wenn ihm die Arbeit nicht passe, so sein Chef. Tausende Palästinenser, die in Israel gearbeitet hatten, sind seit dem 7. Oktober 2023 arbeitslos. Beim Insbettgehen hören wir wieder das ins Gehirn dringende Dröhnen. Ich nehme Ohrstöpsel, um schlafen zu können. Um drei Uhr werde ich wach, immer noch höre ich die Drone. Am nächsten Morgen erzählt Amal, dass oft Dronen kreisen würden und sie gewohnt sind, dann nicht schlafen zu können.
Freitag, 27. Dezember 2024: Die alte Dame der Familie wird heute, am Tag der Operation, von 12 Kindern, Schwiegertöchtern und -söhnen sowie Enkeln morgens ins Krankenhaus gebracht. Es werden mehr und mehr Angehörige. Als sie in den OP geschoben wird, sind es dreißig. Sie umringen sie, stehen im Flur und Treppenhaus. Emotional sehr aufgewühlt sind alle. Hingebungsvoll verabschiedet sich jeder von ihr mit einem Küsschen, über den Kopf oder die Hand streichelnd, auch die Füße werden ihr geküsst. Viele weinen. Es wird eine schwere Operation werden bei einer Patientin im sehr hohen Alter, das ist gewiss.
Allein unter Muslimen
Im Café des Krankenhauses in Nablus. Einem alten Araber, der im Rollstuhl kauert, das Gesicht zerfurcht wie ein frisch geflügter Acker, der kaum noch den Arm heben kann, wird liebevoll die Zigarette zwischen die Lippen gesteckt, in einer Rauchpause die Papptasse mit Kaffee zum Mund geführt und Essen hinterher geschoben, dann die Reste vom Kaftan gewischt. Imposant hat er das Hatta-Tuch um Kopf und Schultern gelegt. Viele Männer, dichtgedrängt um ihn sitzend, kümmern sich um ihn, lächeln miteinander und reden mit ihm. An anderen Tischen ähnliche Situationen. Die Atmosphäre genießend trinke ich Tee und schreibe. Immer mehr Männer drängen in das Café. Ein Araber am Nebentisch sieht meinen etwas ratlos werdenden Blick, da es für mich immer enger wird. Er steht schmunzelnd auf, stellt den Tisch so, dass ich etwas Abstand zu den anderen bekomme. Was für eine vergnügliche Situation! Hasan kommt. Sein Blick schweift suchend durch die Menge. Als er mich entdeckt, bekommt sein Gesicht einen erstaunt-lächelnden Ausdruck. Auch die Männer schauen überrascht Hasan an. Wundern sie sich, dass ich als Frau allein im Cafe sitze?
Auch hier, wie sonst in Nablus, vorwiegend alte Männer, die würdevoll und elegant das Kennzeichen der Palästinenser, das Hatta-Tuch, als Zeichen des Widerstandes und der eigenen Identität um Kopf und Schultern gelegt haben. Die Jüngeren scheinen sich nicht zu trauen. Ist es Angst, dass das israelische Militär, das sich ungehindert auf den Straßen in den besetzten Gebieten bewegen kann, sie als Widerstandsaktivisten einordnen und eventuell verprügeln oder verhaften würde? Vermutlich denken die Alten: „Was haben wir jetzt, in unserem Alter noch zu verlieren, außer unser Leben.” Bei den Jüngeren ist das naturgegebener Maßen anders. Es erinnert mich an Deutschland. Auch hier wurde beim Coronawiderstand von der „Revolution der Alten“ gesprochen.
Die alte Dame
Die alte Dame hat die mehrstündige Operation, trotz Herzstillstand, gut überstanden. Einen Tag lang liegt sie auf der Intensivstation. Im Viertelstundentakt dürfen drei Angehörige zu ihr. Ein Pfleger überwacht diesen Wechsel. Dann wurde sie auf die Normalstation verlegt. Es wurde gebacken, gekocht, die Familienmitglieder essen und trinken bei der Patientin im Zimmer. Sie leiden und freuen sich mit ihr. Ein Angehöriger fragt die Krankenschwester auf dem Flur: „Werden euch die ständig anwesenden vielen Familienmitglieder nicht zu viel?“ „Wer einen Patienten hier hat, ist auch Patient.“ So ihre Antwort.
Dreißigmal verhaftet
Sonntag, 29. Dezember 2024: Essen mit Freunden in einem wunderschön restaurierten alten Palast in der Altstadt. Ein Freund erzählt, dass gestern Nacht dreißig israelische Militärtransporter die Hauptstraßen durch Nablus entlanggefahren seien als Begleitschutz für mehrere Busse voller Siedler, die das Josefsgrab, am Rande der Stadt gelegen, besucht haben. „Sie gehen und kommen, wann sie wollen.” Ja, klar. Die Hauptstraßen in den besetzten Gebieten sind C-Gebiet. Nach den Oslo ll Verträgen von 1994 haben die Israelis die Kontrolle über die Straßen. Sie können jederzeit die Straßen sperren, mit Millitär dort fahren. Der Freund plaudert von seinen Erlebnissen mit den Israelis. Dreißigmal sei er verhaftet worden. Eine Freundin kommt dazu. Seit Kurzem bezieht sie Rente von der Autonomiebehörde. Sie ist unverheiratet. Auch in Palästina nimmt die Anzahl der alleinstehenden Frauen und Männer zu. Sie hat im Sozialministerium der Autonomiebehörde gearbeitet. „Jeder Palästinenser hat seine Geschichte mit der Besatzung. Wenn es Israel nicht gäbe, was wäre dieses kleine Stückchen Land, wen würde es kümmern?” Sie ist in einer Frauengruppe engagiert, die für die gesetzliche Gleichstellung von Frauen bei der palästinensischen Autonomiebehörde kämpft. Immer noch erhalten in einem Erbfalle die Frauen die Hälfte von dem, was die Männer erben. Sie trifft sich auch mit einer Gruppe Älterer regelmäßig. Sie lesen Bücher, geschichtlich, politisch, philosophisch, und diskutieren darüber, beschäftigen sich mit Musik. Es sind Leute der gehobenen Schicht. Ärzte, Ingenieure, Lehrer.
„Geht es Israel gut, dann geht es uns gut.”
Das sagt ein anderer Freund, aus einem palästinensischen Dorf in Israel, Vater von fünf erwachsenen Kindern. Er sagt es lachend. In jedem Scherz steckt Wahrheit. In diesem Fall eine existentielle. Den Palästinensern in Israel geht es viel besser als denen in der Westbank. Sie sind sozial abgesichert, bekommen Rente, sind krankenversichert. In der Westbank ist das, bis auf Angestellte der Autonomiebehörde, nicht der Fall. Aus diesem Grund arbeiteten vor dem 7. Oktober 2023 circa 200.000 Palästinenser aus der Westbank und Gaza in Israel. Sie schliefen oft in Massenunterkünften und besuchten am israelischen Feiertag, dem Sabbat, die Familie, um abends wieder nach Israel zu fahren. Die Palästinenser aus Gaza kamen nur alle paar Wochen nach Hause, viele aus dem Westjordanland sind auch täglich von der Arbeitsstelle in Israel nach Hause gependelt.
Wir kennen einen Palästinenser, der vor vielleicht vierzig Jahren angefangen hat, in Tel Aviv zu arbeiten. Er hat in Nablus geheiratet, vier Kinder gezeugt. Seine Frau lebte von dem Geld, das er verdiente, mit den Kindern, die inzwischen erwachsen und verheiratet sind, weiterhin in Nablus. Er besuchte seine Familie einmal in der Woche und auch noch seltener. Inzwischen ist er sechzig Jahre alt. Jetzt hat sich seine Frau von ihm getrennt. Er lebt weiterhin in einem Zimmer in Tel Aviv und arbeitet, jetzt, nach dem 7. Oktober 2023, illegal. Kaum hat er Kontakt zu seinen Kindern, eine Beziehung, auch zu seiner Frau, konnte sich nicht entwickeln. Was für ein Leben! So werden auch hier, wie in vielen Teilen der Welt, Familien zerstört. Die Anzahl der Scheidungen soll ebenfalls zugenommen haben.
Nach dem 7. Oktober 2023, dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den palästinensischen Widerstandskräften unter der Leitung von Hammas und Israel, mussten alle Palästinenser aus der Westbank und Gaza, die in Israel gearbeitet haben, sofort Israel verlassen. So leben seitdem viele arbeitslose Männer in der Westbank. Aber es gibt auch eine unbekannte Anzahl von Palästinensern, die über mafiöse Strukturen wieder nach Israel zurückgekehrt sind, um weiter dort zu arbeiten. Die israelischen Arbeitgeber dürften sie nicht beschäftigen, aber sie tun es. Es ist wesentlich profitabler, einen Palästinenser zu beschäftigen als einen Israeli.
Sonntag, 29. Dezember 2024: Der alten Dame im Krankenhaus geht es, wie zu erwarten, kaum besser. Es kam auch jetzt zu einer lebensbedrohlichen Situation. Wäre nicht ein Sohn, der Arzt ist, neben ihr gewesen und hätte eingreifen können, wäre sie gestorben. Sie wird von der Familie rund um die Uhr gepflegt. Nur rein medizinische Handgriffe führt das Personal durch. Spät abends fährt die Familie nach Hause. Zwei ihrer Töchter schlafen bei ihr. Um sechs Uhr in der Früh wird eine Tochter abgelöst, da sie zur Arbeit muss.
Während der Autofahrt hören wir, dass die Bevölkerung in Nablus die Straßen zu verlassen habe, da das israelische Militär durch die Straßen fahre. Suchen sie jemanden, den sie verhaften wollen? Im Bett liegend, aus dem Fenster schauend, sehen wir wieder am Horizont ein helles Aufleuchten mit gleichzeitigen Explosionen, aussehend wie ein Gewitter. Es soll die Autonomiebehörde sein, die im Auftrag von Israel, so sagen die Palästinenser, nach bestimmten Leuten sucht, sie verhaftet oder erschießt.
Straßen zu Flüssen
Montag, 30. Dezember 2024: Grauer Beton beherrscht das Stadtbild und Müll. Wo immer möglich, wird zubetoniert, auch zwischen den Hochhäusern, die dicht aneinanderstehen. Die Bäume an den Straßen haben bis zum Stamm Beton. Höfe sind betoniert. Nur sehr schmal am Rande darf eine Pflanze wachsen. Es ist, als würde man Erde, die Natur, nicht sehen wollen. Findet sich zwischen den Betonklötzen etwas freies Land, dann liegen dort Berge von Müll. Zwischen den Hochhäusern vereinzelt wunderschöne alte, historische Gemäuer, die meist dem Verfall preisgegeben sind. Manchmal geschieht es, dass wohlhabene einflussreiche Leute sich für deren Erhalt einsetzen. Sonst werden sie bei nächster Gelegenheit abgerissen und ein Betonturm wächst dort in die Höhe. Es muss alles rentabel sein. Bestandserhaltung und Denkmalschutz gibt es auch hier, aber oft nur auf dem Papier. Die Korruption bestimmt letztendlich, was abgerissen wird.
Seit gestern regnet es fast ununterbrochen in Strömen. Die Straßen sind nicht so gefertigt, dass sie das Wasser ausreichend aufnehmen. Da es gebirgig ist, entsteht der Eindruck, als flösse ein Fluss die Straße hinab. Das Tal trennt die beiden Gebirgszüge, des Ebal und Garizim. Dort gab es mal einen Fluss, jetzt befindet sich an gleicher Stelle die Kanalisation. In den Haushalten gibt es Wasser auf Zuteilung. Das Wasser gehört Israel.
„Wir können es auch.”
Ein Lebensmotto soll sein, mit dem westeuropäischen Lebensstil mithalten zu können. Autos an Autos, unübersehbar. Es ist nicht üblich zu laufen. Die Familien sind stolz, sich mehrere und stets teurere Autos leisten zu können. Eine Frau habe eine Strecke zu Fuß gehen wollen. Ihr Mann soll ihr gesagt haben: „Das kannst du nicht machen, was sollen die Leute denken.”
Spaziergang durch Rafidia. Auch hier sehen wir, dass es das System geschafft hat, alles und jeden mit seinen Prinzipien zu durchsetzen. „Wir steuern auf eine Inhaltsleere zu. Die Form ist wichtiger als der Inhalt.” (1) Frauen sehen immer gleicher aus. Die meisten tragen Kopftuch und viele junge sind, die eine, wie die andere, zurechtgemacht. Aufgeblasene Lippen, angeklebte Wimpern, die Augenbrauen gleich gemalt, Krallen als Fingernägel, wie viele Frauen auch in Deutschland. Sie machen sich schön im Krieg, für den Krieg? (2) Es scheint auch hier modern zu sein, sich in grauen und schwarz-weiß Farbtönen zu kleiden. Farben, die Lebendigkeit der Welt darstellend, sind nicht modern. Ebenso Jeans und Strumpfhosen mit Löchern und Laufmaschen. Auf dem Markt in Nablus sind Strumpfhosen ausgestellt, die so hergestellt sind, als wenn sie kaputt seien. Die Zerstörung zeigt sich auch in der Mode. Überall auf der Welt? Wo ist die Singularität, die Einzigartigkeit, Nichtverallgemeinerbarkeit, Nichtaustauschbarkeit, Nichtvergleichbarkeit?
Dienstag, 31. Dezember 2024: Gang zum Krankenhaus. Kurz vor dem Eingang höre ich Sirenen von Autos der Autonomiebehörde und Krankenwagen. Mehrere bleiben vor dem Krankenhaus stehen. Männer mit Gesichtsmaske und Gewehr im Anschlag springen heraus, bewachen den Krankenwagen, schauen sorgsam in alle Richtungen. Ich muss an ihnen vorbeigehen und sehe noch, wie die Trage mit einer Person ins Krankenhaus gebracht wird. Die bewaffneten Männer beobachten mich argwöhnisch.
Ich berichte die Szene der Familie. Sie bringen in Erfahrung, dass das Sicherheitspersonal der Autonomiebehörde einem führenden Kämpfer aus Jenin, einer Hochburg des palästinensischen Widerstandes, in die Beine geschossen hat. Sie lassen ihn medizinisch versorgen, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Er werde bewacht, damit andere Kämpfer ihn nicht befreien. Haben die Männer, mich misstrauisch anschauend, vermutet, ich sei eine Journalistin? Journalisten sind selten und einige Medienjournalisten, wie der Nachrichtensender Al Jazeera, sind in der Westbank und Israel verboten.
Mittwoch, 1. Januar 2025: Ein sonniger Morgen begrüßt uns. Frühstücken in Rafidia. Wiedererkennend begrüßt uns der Besitzer, laut lachend, spendiert uns einen Kaffee. Das Wetter und die Verkehrssituation genießend — vormittags fahren weniger Autos — laufen wir bis zum Krankenhaus. Wieder stehen Krankenwagen und Autos der Autonomiebehörde davor. Der angeschossene Kämpfer ist noch da. In die Cafeteria gehe ich nicht, denn dort sitzen die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde.
Entlassung
Fünf Tage nach der Operation wird die alte Dame entlassen. In Deutschland undenkbar. Sie müsste im Krankenhaus verbleiben. Zu Hause angekommen, wird für sie umgehend im Wohnzimmer ein Bett aufgebaut. Viel Besuch wird erwartet. Selbstverständlich wird sie rund um die Uhr von der Familie liebevoll umsorgt, gepflegt. Sie wird gefüttert und beständig erhält sie tröpfchenweise zu trinken.
Blutspuren im Café
Donnerstag, 2. Januar 2025: Nablus ist heute im Süden komplett von den Israelis abgeriegelt. Gestern Abend soll die israelische Armee in der Altstadt gewesen sein, um jemanden zu verhaften, sie haben ihn angeschossen.
Fahrt in die Altstadt, parken vor einem Laden. Die Sonne scheint wieder, die Ladenbesitzer sitzen draußen. Wir schauen noch mal, ob wir unser Auto abgeschlossen haben. Mit einem Lachen ruft uns ein Ladeninhaber entgegen: „Keiner wird euer Auto berühren!”
Die Israelis wussten, dass in einem bestimmten Café ein von ihnen Gesuchter ist. Wir gehen zu diesem Café, sehen das Blut des Erschossenen auf dem Boden. Die Leute dort zucken mit den Schultern: „Das ist Alltag für uns.“ Ein paar Schritte weiter ein wunderschöner Keramikladen. Freundestrahlend begrüßt uns der Besitzer. Er bestätigt das gestrige Vorkommnis lachend: „Ja, es ist Alltag für uns. Wiederstand ist zwecklos. Um die Familie kümmern, sie zusammenhalten, das ist das Einzige und das Wichtigste, was man in dieser Zeit tun kann. Warten bis alles vorbei ist.” Mit diesen Worten lädt er uns zum Kaffee ein.
Freitag, 3. Januar 2025: Schüsse sind zu hören. Heute ist bei Kämpfen in Jenin jemand von den palästinensischen Sicherheitskräften der Autonomiebehörde gestorben. Er kam aus Nablus. Ihm zu Ehren sollen Sicherheitskräfte die Salven schießen. Auch in den Orten um Nablus wird gekämpft. In Turkarm, 15 Kilometer von Nablus entfernt, hat die israelische Arme mit Bulldozern die Straßen aufgerissen. Auch diese Stadt und ihre Flüchtlingslager, das gleichnamige Tulkarm und Nur Shams, sind zum Zentrum des palästinensischen Widerstandes geworden. Jeden Tag werden die Menschen von der israelischen Armee drangsaliert, umgebracht und verschleppt.
Trotz aller Zerstörung sind es die sozialen Beziehungen, die das Leben hier lebenswert machen. Ist es um so ausgeprägter, je machtvoller die Zerstörung von außen einwirkt? Die Familien halten zusammen, stehen füreinander ein.
Ich erlebe Reste des Matriarchats, einer archaischen Zeit. Beim Essen beobachte ich unseren Freund, wie er seiner Frau den leeren Teller gibt, damit sie ihm Essen auftut. Er hätte es leicht selber machen können. Im Matriarchat war die Gebende die Frau. Die Gabe, das Kinder zu gebären, war und ist noch an die Frau gebunden. Oder sind es Zeichen des Patriarchats? Die Frau macht den Service? Ähnliche Situationen habe ich hier oft erlebt.
Gestohlene Ernten
Samstag, 4. Januar 2025: Fahrt nach Israel. Auf dem Weg dahin, noch in der Westbank, sehen wir doppelt, dreifach gezogenen Stacheldraht um Olivenhaine. Siedler haben die Haine der Palästinenser okkupiert. Auch um die Siedlungen sind Mauern und Zäune. Die Siedler kommen in Scharen mit Waffen, vertreiben die Palästinenser von ihren Feldern und ernten selbst. Es gibt kein Halten mehr, die Aggressivität steigt. Am Checkpoint werden unsere Dokumente genau geprüft, es wird telefoniert. Dann können wir weiterfahren. Wir sehen an Straßenrändern in Israel große Fotos mit Namen, der durch die Hammas gefangen genommenen Israelis.
Eingeladen bei Verwandten in der Nähe von Haifa zum Essen. Sie wohnen auf einem Berg. Vor ihnen das wunderschöne gebirgige grüne Ufer des Mittelmeeres. Über zwanzig Familienmitglieder sitzen am Tisch. Bis auf das Besteck ist das gesamte Geschirr aus Pappe, Plastik und Aluminiumfolie. Ein junges Mädchen der Familie studiert in Deutschland „erneuerbare Energien”. Ich frage sie, was sie arbeiten möchte. „Am Computer arbeiten, nur dort. Ich liebe Computer!” Vielleicht kann sie in ein paar Jahren einen computerisierten Mann heiraten, einen Cyborg.
Weiter zu einer Verlobungsfeier. Vielleicht sechzig Familienmitglieder der Braut und des Bräutigams sind eingeladen. Welch angenehme Überraschung! Schönes Keramikgeschirr steht auf dem Tisch. Gnadenlos werden die Tische mit Essen überfüllt. Ein Bruchteil davon kann gegessen werden. Als alle fertig gegessen haben, meint Hasan, dass von dem Rest jetzt noch mindestens zwei Dörfer in Afrika satt werden könnten. Man muss nicht so weit denken. In Gaza hungern die Menschen, in der Westbank noch nicht. Wieder viele junge Frauen, die unübersehbar maskenhaft geliftet sind. So schön machen wie möglich: Nur so ist das Leben im Krieg erträglich.
Abgeriegelt
Sonntag, 5. Januar 2025: Zurück in Nablus. Eine Art von Betteln erlebe ich jetzt öfter als früher. Männer allen Alters und Kinder stehen an Kreuzungen, gehen zwischen den Autos umher und verkaufen Süßigkeiten. Ich will parken. Ein etwa sechsjähriger Junge kommt zu mir gelaufen und preist mit vielem Reden, imposanter Mimik und Gestik, die mich zum Lachen bringt, seine Kekse an, abends gegen neun Uhr. Es ist dunkel. Ich kann nicht widerstehen, und kaufe ihm seine Süßigkeit ab. Er läuft hinter mir her und ruft: „Saki, Saki?” Er will wissen, ob sie mir schmekt.
Montag, 6. Januar 2025: In einem Dorf vor Nablus, Al Funduk, östlich von Qalqilieh, sollen drei israelische Soldaten von Palästinensern erschossen worden sein und neun verletzt, so die Information über einen Telegram Kanal. Dies wird durch die Berichterstattung von Al-jazeera im Fernsehen bestätigt. Als Reaktion soll Nablus einmal mehr komplett abgeriegelt worden sein.
In der Stadt. So wenige Autos habe ich noch nie erlebt. Wir besuchen wieder ein historisches Restaurant. Neapolis, der altgriechische Name für Nablus. Noch gibt es hier eine echte Speisekarte. In einer anderen Gaststätte mussten die Kunden die Speisekarte einscannen. Getränke sind schon international, Late machiato und so weiter. Wir wollen eine orientalische Süßigkeit. Das führen sie nicht in der Altstadt, in einem historischen Gemäuer! An der Theke ist Kuchen ausgestellt, wie ich ihn aus Deutschland kenne. Haben wir irgendwann den konform-einheitlichen Menschen? Und – ist er dann noch ein Mensch?
Al Funduk ist wieder auf. Nablus weiter abgeriegelt. Autoschlangen an den Checkpoints. Stundenlanges Warten. Menschen aus den umliegenden Dörfern kommen zu den Wartenden und versorgen sie mit Wasser. Mal lassen sie ein paar Autos durch. Dann wieder nicht. Abends. Die Studenten der Universität in Nablus, die außerhalb wohnen, wissen nicht, wie sie nach Hause kommen sollen. Sie werden in Moscheen übernachten.
Mittwoch, 8. Januar 2025: Gestern Nacht soll eine Drone bis Mitternacht über Nablus geflogen sein. Zum Glück habe ich tief geschlafen. In Tallousa soll die israelische Armee mehrere Leute umgebracht haben. Ich höre jetzt auf, diese Details zu berichten. Eine gleichbleibende Wiederholung. Die Familie hängt rund um die Uhr am Handy und berichtet von diesen Grausamkeiten.
Wären wir nicht in einer digitalen Totalvernetzung, könnte ich denken, ich sei in einer ruhigen, abgeschiedenen Stadt. Über den Dächern von Nablus schaue ich auf eine Betonidylle. Wenige Autos fahren. Die Sonne scheint. Kräftige Winde toben, brüllen zwischen den Häusern. Dann die Rufe eines Händlers, der sein Gemüse verkaufen will.
Ruf zum Gebet
Fünfmal täglich zur gleichen Zeit ertönt von den vielen Minaretten der Moscheen der Athan, der Ruf zum Gebet. Tatsächlich steigen Männer auf die Minarette und rufen, durch Mikrophone verstärkt, die Menschen zum Gebet. Beruhigend, eine Art beständige Geborgenheit verbreitend: So wirkt in dieser Zeit der monotone Sprechgesang des Muezins wie eine Mutter, die ihr schreiendes Kind mit sanften Tönen an die Brust nimmt, in einer Situation, in der jederzeit ein tödlicher Zusammenstoß geschehen kann. Ich beobachte die Familie beim Beten: was für eine wunderbare Art, sich körperlich und geistig aus dem Hier und Jetzt zu erheben.
Der alten Dame scheint es tatsächlich besser zu gehen, auch der entspannten Mienen der Angehörigen nach zu urteilen. Sie haben inzwischen gelernt, eine Schwerkranke zu pflegen. In Deutschland wäre sie noch im Krankenhaus, danach einem Altenheim oder aber der Pflegedienst würde nach Hause kommen. Sicherlich wäre die Pflege professioneller, aber sie ist anonym ohne wirkliche Beziehung zum kranken Menschen. Hier lernen die Angehörigen die Pflege beim Tun. Wie hoch ist der Anteil der heilenden Energie, die durch emotionale Zuwendung der Liebsten entsteht? Das ist nicht meßbar und damit nicht erstrebenswert in unserer heutigen Zeit, in der alles nachgewiesen werden muss, möglichst durch Studien. Gestern noch, so hatte ich den Eindruck, stellten sich alle auf ein Sterben der alten Dame ein. Hat sie es gespürt? Hat das bei ihr eine Gegenkraft erzeugt?
Ich gehe spazieren. Schwierig, Wege, Straßen zu finden, die nicht dicht mit Autos befahren sind. Ich sehe villenartige Gebäude mit architektonisch wunderschön gestalteten Balkonen. Werden sie benutzt? Zum Aufenthalt, nicht nur zum Wäsche aufhängen? Zu sehen ist niemand.
Sonntag, 12. Januar 2025: Eine letzte Nachricht: Im Osten von Nablus wurden zwei Jungen, 7 und 12 Jahre alt, gezielt durch die Israelis von einer Bombe getötet. Begründung: Sie seien dabei gewesen, eine Bombe zu bauen.
Was wollen die Israelis mit ihren Aktionen erreichen? Eine Zermürbungsstrategie. Aber sie werden es nicht schaffen, die Palästinenser zum Verlassen ihres Landes zu bewegen. Seit Jahrzehnten sind sie den Belagerungszustand gewöhnt. Ich habe — vielleicht gerade wegen des alltäglichen Leidens und der Qualen — gestärkte Menschen vorgefunden. Und was nicht vergessen gehen soll: Auch für die Israelis wird es auf diese Weise niemals Frieden geben.