Alles werden, alles sein
Schon vom Tod gezeichnet verbrachte Franz Kafka seinen letzten Winter in Berlin — zusammen mit seiner letzten Liebe, Dora Diamant.
Sein Werk gilt als düster und verrätselt. „Kafkaesk“ nennt man eine Situation, in der sich ein Einzelner einem übermächtigen Beamten- und Justizapparat ausgesetzt sieht. Neben dem Werk von George Orwell wurde seines in den letzten Jahren häufig herbeizitiert, wenn es um literarische Parallelen zum aktuellen, ganz realen Geschehen ging. Franz Kafka hatte aber noch eine andere, wenig beleuchtete Seite: Kafka der Liebende, der den Dingen, die er beschrieb, freundlich gewogen war. Seine letzte große Liebe war Dora Diamant, Tochter orthodoxer Juden, mit der er sein letztes Lebensjahr in enger Gemeinschaft in Berlin verbrachte — in Armut und überschattet von einer schweren Krankheit, die zum Tod führte. Die Autorin zeichnet hier ein vielschichtiges Porträt eines Mannes, dessen Leben und Werk intuitiv verstanden, aber nie zu Ende interpretiert werden kann.
Ich kann dich hören, Dora. Ich tue einfach, als habe ich dich immer gehört, als werde ich dich immer hören. Dieser Winter ist alle Winter, und du bist alle Frauen. Die Zeit gibt es nämlich gar nicht. Es ist wahr, dass wir niemals frieren, und es ist wahr, dass wir immer frieren. Die Zeit gibt es nämlich gar nicht und den Mann, den du liebst, nur vielleicht, vielleicht.
Das hätte niemand geglaubt, das hätte er selbst nicht geglaubt, es könne tatsächlich einmal eine andere Stadt für ihn geben als Prag. Gereist war er seit seiner Jugend, unzählige Kuraufenthalte lagen hinter ihm, aber Prag für immer verlassen? Seine Heimatstadt, die ihn, sobald er „auf die Gasse hinabstieg“, im omnipräsenten Judenhass baden ließ, vertraut wie die Geräusche der Kutschen, das Schnaufen der Kaltblüter auf dem holprigen Pflaster und die niemals zur Ruhe kommende Geschäftigkeit der Eltern, die in ihrem Galanteriewarengeschäft am Altstädter Ring auf Kundschaft warteten. So war das Leben, so war es gewesen, seit er denken konnte, und weil ihm der Mut zur Flucht gefehlt hatte und um nicht regelrecht zu verzweifeln, war ihm keine andere Wahl geblieben, als die Wirklichkeit schreibend noch einmal zu erfinden.
Das war Franz Kafkas besonderes Talent: dass er sich niemals über die Dinge stellte, sondern sich ihnen anempfand, als sei er tatsächlich jedes Blatt, jeder Schritt auf dem Platz und jedes gute und böse Wort, das die Menschen im Laufe eines langen Tages zueinander sprachen.
Wovon er schrieb, oder vielmehr, was durch ihn zu einer der Wirklichkeit ebenbürtigen Wirklichkeit gelangte, betraf, und sei es auf noch so verschlungenen Wegen, immer alle Menschen.
Ein Schreibender war er, einer, der keine andere Wahl hatte, kein Schriftsteller, dazu fehlten ihm Ehrgeiz und Talent, mit seinem Werk in der Öffentlichkeit aufzutrumpfen, als besitze es einen realen (Tausch)wert. Er wusste, diesen auf Heller und Pfennig und Ruhm und Ehre zu beziffernden Wert hatte seine Literatur nicht. Er wusste, gerade darin lag ihr ganzer Wert beschlossen — dass er eben nicht über die Dinge schrieb, dass er keine Meinungen über die Dinge hatte, sondern sie selbst zu Wort kommen ließ und dadurch die gewöhnliche Wahrheit ihrer Wirklichkeit auf den Kopf stellte.
Dieser alles entscheidende Unterschied, den er nicht zu erklären vermochte und vielleicht nicht einmal erklären wollte. Wem auch? Aus welchem Grunde und zu welchem Zweck?
Entweder man verstand ihn, oder man verstand ihn nicht. Mit Erklärungen war seinem Werk nicht beizukommen, ja sie führten eigentlich unweigerlich auf die falsche Fährte.
Werk und Wesen jenes Mannes, dem die Wirklichkeit, gerade weil er sie niemals bedrängte, umso großzügiger ihre Geheimnisse verriet, waren an Radikalität kaum zu überbieten, und doch lebte Kafka keineswegs im Elfenbeinturm.
Als gewissenhafter Beamter war er bis zu seiner Frühpensionierung in einer großen Versicherungsgesellschaft tätig, und im elterlichen Geschäft, das als Familienbetrieb auf die Hilfe aller seiner Mitglieder angewiesen war, sprang er ein, wann immer Not am Mann war. Er war ein begeisterter Schwimmer und machte jeden Morgen am offenen Fenster Freiübungen nach Anleitung des dänischen Turnlehrers Müller, eines frühen Gurus gesunder Lebensführung. Bereits in jungen Jahren war er Vegetarier. Nur so sei es ihm überhaupt möglich, den Fischen in die Augen zu sehen, soll er einmal nach dem Besuch des Berliner Aquariums bemerkt haben. Zeit seines Lebens pflegte er enge Freundschaften, auch geselligen Abenden in Prager Bierkneipen war er keineswegs abgeneigt.
Ganz zu Hause war er allerdings nur bei sich selbst, wenn er, nachdem alle Pflichten erfüllt und alle Rollen absolviert waren, allein mit dem Bleistift in der Hand vor einem Bogen Papier saß. Das war das wahre Leben; in Anbetracht dieser überragenden Qualität schöpferischen Alleinseins verblasste alles andere schlagartig.
Alles andere oder fast alles andere. Denn es versteht sich, dass auch Kafka lieben wollte, doch wo es in den meisten Situationen vollkommen genügte, sich möglichst geschickt anzupassen, konnte Liebe tatsächlich nur dann gelingen, wenn man mit vollem Einsatz spielte. Zweimal hatte er versucht, sich ernsthaft zu binden, zweimal war er daran gescheitert, dass er die Erwartungen, die sich daraus ergaben, nicht erfüllen konnte.
Mit der Berliner Prokuristin Felice Bauer, einer, wie man heute sagen würde, „Karrierefrau“, war er ab 1912 zweimal verlobt gewesen; zweimal wurde die Verbindung kurz vor der geplanten Eheschließung wieder gelöst. 1919 lernte er in Wien die tschechische Journalistin Milena Jesenská kennen, mit der sich in den darauffolgenden Monaten eine intensive Liebesbeziehung in Briefen entwickelte. Zum Zusammenleben mit ihr konnte sich Kafka trotz der erotischen und geistigen Anziehungskraft, die Milena auf ihn ausübte, nicht entschließen, sodass sich die beiden bereits bald wieder trennten. Geblieben sind aus beiden Beziehungen Briefe, die zugleich von der Tiefe seiner Gefühle zeugen und der unbezwingbaren Angst, diese in eine konventionelle Form zu überführen und sie dadurch ihres Zaubers zu berauben.
Als Kafka im Sommer 1923 in dem kleinen Ostseebad Graal-Müritz eintraf, hatte er gerade seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Da die Tuberkulose, an der er seit einigen Jahren litt und die damals zu den unheilbaren Krankheiten zählte, zu diesem Zeitpunkt bereits so weit fortgeschritten war, dass sein Gesundheitszustand größere Reisen unmöglich machte, hatte er die Einladung seiner Schwester Elli, gemeinsam mit ihrer Familie die Sommermonate zu verbringen, dankbar angenommen. Aus dem aktiven Berufsleben war er aufgrund seines prekären Gesundheitszustandes ausgeschieden, und wie es mit ihm weitergehen sollte, wusste er nicht.
Der vorläufige Charakter einer Sommerfrische kam da gerade recht, um Zeit zu gewinnen. Mit den Kindern seiner Schwester verstand er sich gut, ja im Grunde waren ihm Kinder, in deren Welt Unheimliches und Wunderbares natürliche Gegebenheiten waren, wesensnäher als die entzauberte Weltsicht der Erwachsenen. Die Pension Glückauf, in der seine Schwester ihn untergebracht hatte, bot alles, was man zur damaligen Zeit unter Komfort verstand: Zimmer mit Meerblick, fließend warmes und kaltes Wasser und Vollpension. Einen Monat sollte Kafka hier verbringen und noch während dieser Zeit beschließen, Prag endgültig den Rücken zu kehren. In seinen Tagebüchern verbucht er diese Entscheidung als seine größte Lebensleistung überhaupt.
Den Ausschlag dazu gegeben hatte die Bekanntschaft mit der damals 25-jährigen Dora Diamant, einer Jüdin aus streng orthodoxem Elternhaus, die in einer Ferienkolonie als Köchin und Kinderbetreuerin arbeitete. Es war die Klarheit und Ruhe ihres Wesens, die Kafka dazu befähigte, endlich aus seiner Rolle als ewiger Sohn herauszutreten und sich auf das Wagnis einer Liebesbeziehung mit einer Frau einzulassen, die er gerade erst kennengelernt hatte. Obwohl es keine konkrete Lebensperspektive gab, wurden sich die beiden dennoch rasch darüber einig, dass sie bereits im Herbst gemeinsam nach Berlin übersiedeln würden. Zehn Monate hatte er noch zu leben, als er am 23. September 1923 mit leichtem Gepäck den Morgenzug von Prag nach Berlin bestieg.
Im Herbst 1923 hatte die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht. Einen ungünstigeren Zeitpunkt, um Wohnung in Berlin zu nehmen, hätte es tatsächlich kaum geben können. Im Stundenrhythmus stiegen die Preise in astronomische Dimensionen, was den Alltag der Menschen zu einem Überlebenskampf machte. Die Stadt, in der Kafka ein neues Leben beginnen wollte, war eine heruntergekommene Metropole am Rande des sozialen und politischen Zusammenbruchs. Gewaltexzesse und Plünderungen waren an der Tagesordnung, längst hatten Staat und Polizei vor der allgewärtigen Kriminalität kapituliert.
Trotz der schwierigen Verhältnisse war es der tüchtigen Dora gelungen, eine Bleibe für ihren Freund zu finden. In drei bescheidenen Unterkünften in den Stadtteilen Steglitz und Zehlendorf haben Kafka und Dora jeweils für ein paar Monate zur Untermiete gewohnt. Nur eines dieser Häuser hat die Zerstörungen des Krieges überlebt: eine stattliche Villa an der Grunewaldstraße 13, an deren Frontseite eine Tafel an Kafkas Berliner Zeit erinnert; der Bus von Dahlem nach Steglitz fährt heute direkt an ihr vorbei. Die Türklinke an der Eingangspforte ist, so bilde ich mir wenigstens ein, original. Kafka muss sie jedes Mal heruntergedrückt haben, wenn er von seinen täglichen Gängen nach Hause gekommen war: vom Schlangestehen um Brot und Milch, von gelegentlichen Ausflügen in die Stadt und von Spaziergängen im Steglitzer Stadtpark. Offiziell wohnte er hier allein, allerdings kam Dora jeden Tag für ein paar Stunden aus dem Scheunenviertel in Mitte zu ihm gefahren.
Die junge Frau ist in Kafka verliebt, und sie wird ihn im Verlauf dieses ungemütlichen Winters unter prekären Bedingungen tatsächlich lieben lernen. Als er im Juni des darauffolgenden Jahres in einer Klinik in der Nähe von Wien stirbt, wird sie bis zuletzt bei ihm sein.
Über Kafkas eigene Gefühle wissen wir nicht viel; sein Freund und Nachlassverwalter Max Brod erinnert sich allerdings daran, dass er noch im Frühjahr 1924 bei Doras Vater um ihre Hand angehalten hatte, was dieser nach Rücksprache mit seinem Rabbi jedoch abgelehnt hatte.
Im Hungerwinter 1923 werden Franz Kafka und Dora Diamant dennoch ein Paar, das sich, so gut es eben möglich ist, umeinander kümmert. Da ist, im wahrsten Sinne des Wortes, zunächst die Sorge um das tägliche Brot, eine warme Mahlzeit, die Beleuchtung der kleinen Stube, damit man an dunklen Abenden wenigstens gemeinsam lesen und studieren konnte. Zwar hatte Kafka zum damaligen Zeitpunkt den Versuch, Hebräisch zu lernen, bereits aufgegeben; sein Interesse an den Lehren und Traditionen, wie sie Dora aufgrund ihrer Herkunft aus dem Ostjudentum auf lebendige Weise verkörperte, war jedoch ungebrochen, und so setzte er seine Studien in Berlin mit ihrer Hilfe fort, auch wenn die Perspektive der Auswanderung nach Palästina längst nicht mehr im Raum stand. Gemeinsamkeiten und Unterschiede waren zwischen ihnen gerade so verteilt, dass Nähe und Ferne sich die Waage hielten. Obwohl beide aus jüdischen Elternhäusern stammten, war ihr Herkunftsmilieu nicht vergleichbar.
Während Kafka in einer Kaufmannsfamilie aufgewachsen war, die sich weitgehend assimiliert und in der Religion keine tiefere Bedeutung mehr hatte, war Doras Vaters ein tiefgläubiger Anhänger der ultraorthodoxen Bewegung des Chassidismus. Beide standen in einem komplizierten Verhältnis zu ihrem Herkunftsmilieu, das sie — wenngleich auf unterschiedliche Weise — als Verhinderung ihrer persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten erfahren hatten. Fremd in einer Stadt, in der keiner von beiden auf ein gefestigtes soziales Umfeld zählen konnte, und ohne die finanziellen Mittel, um am kulturellen Leben teilnehmen zu können, waren sie nahezu vollständig aufeinander angewiesen.
Eine Situation, die Kafka Zeit seines Lebens ängstlich vermieden hatte, war mit Dora Wirklichkeit geworden. Wahrscheinlich war er selbst verwundert gewesen, dass er ihre Nähe annehmen konnte, ohne sich dabei selbst zu verlieren, und dass er sogar, trotz seiner fortschreitenden Krankheit, sozialer Isolation, allgemeiner Perspektivlosigkeit und ständiger Geldnot, die Kraft fand, weiterzuschreiben.
Es heißt, er habe in seinen letzten Monaten mehrere Erzählungen verfasst, von denen leider nur zwei überliefert sind: „Die kleine Frau“ und „Der Bau“ — die erste ein subtil-ironisches Porträt einer seiner Berliner Zimmerwirtinnen, die zweite das eindringliche Psychogramm seiner Lebensängste. Berichtet wird von einem namenlosen Tier, das in einem unterirdischen Bau lebt, den es nach und nach zu einer Festung ausarbeitet, was ihm freilich niemals vollständig gelingt. Die Atmosphäre ist klaustrophobisch. Das Ende bleibt offen — nicht weil es offen bleiben sollte, sondern weil es verloren gegangen ist oder niemals geschrieben wurde. Wir wissen also nicht, wie es dem Tier am Ende erging, und vielleicht wusste Kafka selbst keine Antwort auf die Frage, welche Perspektive sich nach Vollendung des Baus noch hätte ergeben können.
Um die Jahreswende 1923/24 verschlechterte sich Kafkas Gesundheitszustand dramatisch. Die Kälte, die schlechte Versorgungslage und ein erneuter Umzug trugen maßgeblich dazu bei, dass die Situation für den schwerkranken Mann trotz Doras unablässiger Fürsorge nicht länger haltbar war. Am 17. März 1924 stand er wiederum am Berliner Anhalter Bahnhof, um den Zug in die entgegengesetzte Richtung zu besteigen. Knapp sechs Monate lang hatte sein Aufenthalt gewährt. Ein halbes Jahr, in dem ihm gelungen war, woran er selbst nicht mehr geglaubt hatte: die Abnabelung von seinem Elternhaus und das Zusammenleben mit einer Frau, die nichts von ihm verlangte, was er nicht geben konnte. Vielleicht war Dora nicht die Frau, die er am meisten geliebt hatte, gewiss war sie aber die einzige, an deren Seite er hatte leben können, ohne sich selbst abhanden zu kommen.
Es sind nicht viele Spuren, die Kafka in Berlin hinterlassen hat. Eine, von Dora selbst überliefert, führt in den Steglitzer Stadtpark, einen Ort, den Kafka besonders geliebt hatte. Einmal hatte es sich ergeben, dass er dort ins Gespräch mit einem kleinen Mädchen gekommen war, das seine Puppe verloren hatte. Um es über den Verlust zu trösten, war er auf die Idee gekommen, die Puppe Briefe schreiben zu lassen, in denen sie ihrer Besitzerin von angeblichen Reisen durch die Welt erzählte.
Immer wieder einmal hat es Versuche gegeben, diese Briefe durch öffentliche Aufrufe ausfindig zu machen — vergeblich. Und so ist die „Geschichte mit der Puppe“ im Laufe der Zeit zu einer eigenen Geschichte geworden, wahr oder erfunden, das spielt wie bei jeder guten Geschichte am Ende eigentlich keine Rolle mehr. Was in ihr aufscheint, ist das Bild eines Mannes, der keinen Unterschied empfand zwischen dem eigenen und dem fremden Schmerz, eines Autors, der es wagte, das Wort für alle Menschen zu ergreifen. Diese Anmaßung, die Kafkas Texte in den Rang von Mythen und Märchen erhebt, ist der Grund dafür, dass sie in den Tiefen der Psyche noch weiterwirken, auch wenn man ihre Handlung längst vergessen hat.