Alles neu macht der Mai
Damit ein neues Spiel beginnen kann, muss das alte enden: Nach einer dunklen Zeit erstrahlt die Welt in einem neuen Licht.
Der Mai ist ein Monat der Erneuerungen. Das frische Grün, das diese Wiedergeburt begleitet, ist ein Symbol für Hoffnung und Zuversicht, für Zufriedenheit und Glück. Es ist das Glück des Anfängers, seine Unbefangenheit und seine Neugierde, die uns jetzt zur Seite stehen.
In der Mikrobenwelt gibt es ein Phänomen, das Quorum Sensing genannt wird. Es handelt sich um die Fähigkeit von Einzellern, über chemische Prozesse miteinander zu kommunizieren. Wenn ein bestimmtes Quorum, eine gewisse Anzahl, erreicht ist, fängt eine Bakterienart, wie sie etwa auf Tintenfischen zu finden ist, zu leuchten an. Auf diese Weise wird den Meeresbakterien ein unkoordiniertes, energieraubendes und wirkungsloses Einzelgeflacker erspart (1). Erst wenn eine bestimmte Schwelle überschritten ist, geht gewissermaßen plötzlich das Licht an.
Veränderungen bahnen sich an, lange bevor sie sichtbar werden. Es gibt Pflanzen, deren Samen jahrelang im Boden bleiben, bevor sie plötzlich meterhoch in die Höhe schießen. Die Zikade lebt bis zu sechs Jahren unter der Erde, bevor sie die Luft zum Vibrieren bringt. In unaufhaltsamen Wellen breitet sich ihr Gesang aus und hüllt die Welt in eine neue flirrende Atmosphäre. Sobald eine bestimmte Temperatur erreicht ist, geht alles ganz schnell.
Wir wissen nicht, wann das Licht angehen wird und wann die Welt in eine neue Schwingung kommt. Niemand kann sagen, wann sich der Vorhang hebt und dieses Stück im Weltentheater vorbei ist. Wir wissen nur, dass es geschehen wird. So wie es ist, so wird es nicht bleiben. In der Bewegung des Lebens muss alles Starre zerbrechen und wird alles Harte irgendwann weich. An uns ist es, das, was wir nicht mehr wollen und nicht mehr brauchen, loszulassen und uns bereit und unversehrt zu halten.
Es grünt so grün
Der Wonnemonat erinnert uns daran, nicht an den Dingen herumzubrechen. Der Mai ist ein weicher Monat. Ein Monat für die Liebe. Für viele die schönste Zeit im Jahr. Der Frühling triumphiert über den Winter, das Lebendige wird neu geboren. Zu keiner Zeit ist das Grün so frisch, Symbolfarbe für die Hoffnung und die Unsterblichkeit. Grün ist das Sinnbild für Leben und Natürlichkeit. Aus Blau und Gelb setzt sich diese Farbe zusammen, aus Geistigem und aus warmen Gefühlen.
Nicht von ungefähr steht die Farbe Grün mit dem Wachstum in Verbindung. Es ist der grüne Farbstoff Chlorophyll, der die Fähigkeit hat, anorganische Stoffe in organische umzuwandeln. In der Alchemie wurden Lösungsmittel, die Gold lösen können, als Grüner Löwe oder Grüner Drache bezeichnet, die am Anfang des großen Werkes stehen, das dazu bestimmt ist, den Stein der Weisen zu finden: die Substanz, die dazu in der Lage ist, Blei in Gold zu verwandeln, das niedere in ein höheres Selbst.
Die Farbe Grün steht ebenfalls für Unerfahrenheit, für die, die noch grün hinter den Ohren sind. Wie der Narr auf der Karte des Tarot de Marseille ziehen wir voller Begeisterung und Leichtigkeit los, um zu erfahren, was das Leben uns bietet.
Die Hose des Narren ist zerrissen, an seinen Beinen hängt ein Hund, doch er schaut unbeschwert pfeifend in die Ferne.
Es ist eine Karte ohne Nummer, die sowohl an den Anfang wie auch an das Ende eines Spiels gelegt werden kann. Die Null macht alles möglich. Was fange ich mit dieser Situation an? Spiele ich die Karte aus, um mein Versagen zu besiegeln, oder nutze ich das Potenzial eines freien, unschuldigen und kreativen Geistes? Ob wir scheitern oder gewinnen hängt davon ab, wie wir uns in diesem Spiel positionieren.
Das alte Spiel ist aus
Wem übergeben wir die Macht? Lassen wir sie bei jenen, die gerade versuchen, das gesamte Spiel an sich zu reißen, oder spielen wir den Trumpf der Freiheit des Narren aus, der so harmlos aussieht, es jedoch faustdick hinter den Ohren hat? Wen lassen wir gewinnen? Ein ohnehin untergehendes System, oder die vielen leuchtenden Individuen, die nur darauf warten, gemeinsam eine gewisse Anzahl zu erreichen, damit das Licht angeht?
Wer hat in dem Film Das Leben ist schön von Roberto Benigni gewonnen: die Lageraufsicht oder der Hauptdarsteller, der, als Frau verkleidet, bis zum Schluss seinen kleinen Sohn vor dem Horror bewahrt, indem er ihn glauben lässt, es sei nur ein Spiel?
Die Dinge als ein Spiel wahrzunehmen nimmt nichts von seiner Ernsthaftigkeit. Es geht um unser aller Leben auf diesem Planeten. Mehr noch: Es geht darum, ob es der Menschheit gelingt, in ihrer Evolution auf die nächsthöhere Bewusstseinsstufe zu gelangen. Es geht um Leben und Tod, um den Menschen als lebendiges Bindeglied zwischen der materiellen und der geistigen Welt, oder ein Verglimmen im Nichts.
Wer wir sind
In einem Spiel wissen wir, dass wir nicht die Karte sind, die wir auf den Tisch legen. Wir haben genug Abstand, um uns nicht mit dem Geschehen zu identifizieren. Wir sind nicht das As. Wir spielen es nur aus. Wir sind nicht das, was uns in einer bestimmten Situation begleitet. Es zieht nur durch uns hindurch. Der Fehler, den wir machen, ist es, uns für etwas anderes zu halten, als wir sind.
Denn wir sind nicht das, was in unserem Personalausweis steht. Wir sind nicht die Stempel, die man uns aufdrückt, und die Substanzen, die man uns einspritzt. Wir sind nicht das, was unsere Familie, unser Clan, unsere Gemeinschaft von uns denkt.
Wir sind nicht die Erwartungen unserer Eltern, nicht die Anforderungen, die unser Partner an uns stellt, nicht die Hoffnung, die unsere Freunde in uns haben. Wir sind nicht das, was unsere Lehrer und Chefs in uns hineinprojizieren.
Wir sind nicht unsere Erziehung, nicht unsere Prägungen, nicht unsere Programmierungen durch Staat und Religion. Wir sind nicht die Gefühle, die durch uns hindurchziehen. Wir sind nicht die Hoffnungslosigkeit, nicht die Verzweiflung, nicht die Schwärze, die uns erfassen mag. Wir sind nicht unsere Verletzungen. Reduzieren wir uns nicht auf das, was in diesem Spiel geschieht. Wir sind viel grösser als das! Wir sind!
Wir sind die Null, mit der alles beginnt und mit der alles endet, gleichzeitig Narr und Weiser. Wir vereinen alles in uns. Welche Saite ist es, die wir anklingen lassen? Identifizieren wir uns mit den Verdrehungen und Verknotungen, die unser Spiel uns heute vor Augen führt, oder nehmen wir den nötigen Abstand, um zu erkennen, welche Möglichkeiten wir in der Hand halten? Halten wir fest an dem Alten, oder lassen wir die Dinge durch uns hindurchziehen, um Platz für das Neue zu machen?
Wem geben wir die Macht?
Wie verhalten wir uns in diesem Weltentheater? Gehen wir unter oder lernen wir surfen? Legen wir die Dinge gegen uns aus, oder erkennen wir endlich, dass alles seine Richtigkeit hat, und nutzen die Ereignisse für uns, so unglaublich sie auch scheinen? Die Horrorszenarien, die sich vor unseren Augen abspielen, sind auf der Höhe dessen, was wir erreichen können. Nutzen wir sie, um uns herunterziehen zu lassen, oder um uns gewissermaßen an ihnen abzustoßen und nach oben zu schwingen?
Ich, die ich an diesem Spiel wie jeder andere beteiligt bin, beschließe für mich, denen keine Macht mehr zu geben, die mich kontrollieren wollen, die mir nicht wohlgesonnen sind, die mich verurteilen und die meine Stimme nicht gelten lassen. Es ist wie eine Blase, die zerplatzt. Vorbei. Es ist zu Ende. Dieses Spiel ist aus. Der Vorhang fällt. Der Narr verbeugt sich und beginnt ein neues Spiel. Dieses Mal ist es ein Spiel, in dem es nicht darum geht, die Mitspieler vom Feld zu fegen, sondern ein Spiel, in dem jeder zum Zuge kommt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Kerstin Chavent: In guter Gesellschaft. Wie Mikroben unser Überleben sichern. Scorpio 2020