Alles ist möglich!
Damit das Mögliche entsteht, muss immer wieder das Unmögliche versucht werden.
Obwohl der Ruf nach materieller Sicherheit immer größer wird und obwohl sich viele aus ihren oft eng abgesteckten Rahmen nur ungern hinausbewegen mögen: Es gibt immer auch die Möglichkeit, einer Situation den Rücken zu kehren und neu anzufangen. Von einer Reise von Norddeutschland nach Südfrankreich und über die Entscheidung, das Mögliche immer wieder neu auszutesten.
Kurz vor der Jahrtausendwende verliebe ich mich auf einem Balkon in Montpellier in einen mittellosen Opernsänger. Eine große, eine ozeanische Liebe. Völlig unverhofft und nach einem gescheiterten Lebenstraum. Ist das möglich? Ich gebe meinen Lehrerjob und meine schöne Altbauwohnung in Sankt Georg auf und ziehe ein paar Monate später mit ihm zusammen von Hamburg ins Burgund.
Sanft geschwungene Weinberge, sich auf einsame Kapellen fächerndes Sonnenlicht, eine üppig-weiche Vegetation, die den Alltag einhüllt. Ein Märchen. In ihm ist alles neu zu entdecken und neu zu gestalten. Denn keiner will sich in das gemachte Nest des anderen setzen. Alles ist offen und unsicher. Kein Auto, kein Handy, keine Wohnung, kein Job, kein Geld, keine Versicherung, kein wirklicher Plan. Ist das möglich?
Es ist nicht einfach: die Aufenthaltserlaubnis, das Einleben, die Arbeitssuche, die Existenzängste. Ich komme aus einem soliden Beamtenhaushalt. Doch langsam findet sich alles: Ein geräumiges altes Fachwerkhaus in einer mittelalterlichen Kleinstadt, zwei Jobs, viele neue Freunde. Nach ein paar Jahren zieht es uns dorthin, wo alles angefangen hatte: in den Süden! Alles einpacken und wieder ganz von vorne anfangen. Ist das möglich?
Es funktioniert ein zweites Mal. Eine weitläufige Wohnung auf einem alten Weingut, neue Jobs, neue Freunde. Für eine von ihnen vergisst der Märchenprinz seine ozeanische Liebe. Eine andere zieht auf das romantische alte Weingut und ich in den Hamburger Winter zurück. Wie ist das möglich!?
Ich nehme eine Stelle zur sofortigen Verbeamtung an einem renommierten Gymnasium an. Doch als mir mein Schulleiter freundlich den fertigen Vertrag hinschiebt, unterschreibe ich ihn nicht. Am Anfang der Sommerferien fahre ich zurück und ziehe allein in ein kleines südfranzösisches Dorf. Ist das möglich?
Ich lebe mich neu ein und treffe schließlich auf dem Markt einen, der Schmuck macht. Eine neue Liebe. Ist das möglich? Eine paar Tage vor unserer Hochzeit bekomme ich die Diagnose Brustkrebs. Wie ist das möglich!? Ich heirate mit einer großen Blume über dem Pflaster für den Port für die Chemotherapie und fliege auf Hochzeitreise nach Santa Fe. Das ist möglich.
Einfach leben
Seit ich losgezogen bin, vertraue ich darauf, dass immer wieder alles möglich ist. Es liegt nicht an Frankreich. Das Land der Liebe und des savoir-vivre ist im Vergleich zu Deutschland teuer, die Löhne sind niedriger, es gibt viel mehr Arbeitslose, die Leute meckern und streiken ständig und die Verwaltung ist eine Katastrophe. Doch ich habe mir frei ausgesucht, hier zu leben. Hier fühlt es sich für mich gut und richtig an. Das macht die Dinge möglich.
Ich jongliere mit wenig, was gleichzeitig viel ist. Ich brauche: Natur, ein Haus, einen Garten, frisches Obst und Gemüse, Käse und Wein, Kleider, Lichterketten, einen Laptop, ein Auto. Ich brauche (fast) kein Shopping, keine Frustkäufe, keine elektronischen Gadgets, keine Fertignahrung, keine Statussymbole, keine Ablenkung, keine Kino-Bar-Restaurant-Abende, keine Urlaubsreisen.
Kultur gibt es jede Menge gratis oder für wenig Geld: Festivals, Konzerte, Theater, Ausstellungen, Lesungen. Viele Künstler leben hier, Menschen mit Phantasie und einem Faible für das Improvisierte. Die meisten sind hier, weil sie es wollen, und nicht, weil sie müssen. Sie wissen zu schätzen, was da ist: Weinberge, Olivenhaine, Lavendelfelder, Zikaden, wilder Thymian, bizarre Felsenschluchten, das fruchtbare Hérault-Tal, das Meer.
Es gibt Hofläden, Kooperativen, Märkte und jede Menge Flohmärkte. Meine Kleider mache ich mir selbst oder tausche sie, wie vieles andere auch. Im Sommer verabreden wir uns in einer der vielen Guinguettes, einfachen, improvisierten Restaurants unter freiem Himmel, den Rest des Jahres wird selbst gekocht und reihum eingeladen.
Nichts ist perfekt. Mein Auto hat Beulen und in unserem Haus müssten das Dach und die Balkone gemacht werden. Ich habe kein geregeltes Einkommen und keine Ahnung, was morgen sein wird. Meine Aussicht auf Rente habe ich schon vor langer Zeit begraben. Nichts ist mir sicher. Alles in meinem Leben ist ungewiss. Und damit ist alles möglich.
Neue Hoffnung
Ich fühle mich frei, wenn ich mich nicht an materielle Werte klammere, wenn ich das tue, was mir Freude macht und was ich für sinnvoll halte. Ich finde es angenehm, mir abzugewöhnen, in Supermärkten und bei den großen Marken einzukaufen, Versicherungen abzuschließen, wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt oder in die Apotheke zu laufen und den Ursprung und die Lösungen für meine Probleme bei anderen zu suchen.
Es tut mir gut, wenn ich die äußeren Umstände nicht für mein Glück oder Unglück verantwortlich mache, sondern in mir selbst auf die Suche gehe. Ich empfinde es als unglaublich erleichternd, nicht dauernd darauf zu gucken, was alles nicht geht, sondern mich immer weiter voranzutasten und zu erfahren, was geht.
Hieraus erwächst auch meine Hoffnung, dass es für uns Menschen nicht zu spät ist. Auf meinem Weg erfahre ich, dass ein Neuanfang jederzeit möglich ist. Es möglich ist, seinen Träumen zu folgen und sich auch nach einer Bruchlandung wieder neu aufzurappeln. Es ist möglich, nicht auf materielle Sicherheit zu setzen. Es ist möglich, dass Krankes wieder gesund wird. Und so sage ich mir, dass es vielleicht auch möglich ist, die Dinge zum Besseren zu wenden. Wir müssen nur aufhören zu glauben, dass das unmöglich ist.