Alles auf Anfang

Unsere Politiker schauen mit Vorliebe „nach vorn“. Warum? Weil sie beim Blick zurück jene Trümmerlandschaft anschauen müssten, die sie selbst zurückgelassen haben.

Die Vergangenheit auslöschen zu können — so wie man selbst die kompliziertesten Gleichungen mit wenigen Bewegungen eines Schwamms auf Nimmerwiedersehen von der Tafel löschen kann. Das ist sicher der Traum vieler Menschen. Vor allem solcher, die ein schlechtes Gewissen haben. Wenn sie überhaupt eins haben. Der Jahreswechsel, den wir vor einem halben Monat erleben durften, hat diesen Charakter von „Tabula rasa“. Jeder kann sich einbilden, dass er jetzt unbelastet ganz von vorn anfangen kann. Anders als mit diesem plumpen psychologischen Mechanismus ist es kaum zu erklären, dass sich Politiker wie Robert Habeck, Christian Lindner und Olaf Scholz nach ihrem grandiosen Scheitern ernsthaft am 23. Februar wieder zur Wahl stellen wollen. Sie gehen einfach, Optimisten wie sie sind, davon aus, dass die Wahlbürger ein ebenso schlechtes Gedächtnis haben wie sie selbst. Und perfider Weise könnte dieses Manöver sogar funktionieren. Die Leitmedien sind zur Freude, derer, von denen sie geleitet werden, nämlich gar nicht nachtragend. So könnte es passieren, dass — wie im Film bekanntlich täglich das Murmeltier grüßte — alle paar Jahre eine Regierung ins Haus steht, an der mindestens zwei der Altparteien beteiligt sind. Die Tafel wird dann mit Krakelschrift neu beschrieben — bis zum nächsten Mal.

Magie ist eine ganz eigenartige Kunst. Doch, eine Kunst! Ich weiß, unter diesem Begriff „Kunst“ — den mein alter Leistungskurslehrer Rudolf Emmer nach einem Blick auf meine Werke gerne mit dem Spruch „Kunst mir mal fünf Mark leihen!“ zu erklären pflegte —, darunter versteht man heute meist banales Geschmier oder ein paar Trottel, die auf einer Bühne milde Scherze über die deutsche Bahn absondern oder aktivistisch nachplappern, was die Regierung vorgeplappert hat, woraufhin ein gedrilltes Publikum grundlos lacht. Aber das war einmal anders, und aus diesen Zeiten, als Kunst noch etwas Wundervolles war, stammt auch die Magie, die ebenfalls eine Kunst ist.

Die geht zum Beispiel so: Über Tage, Wochen, Monate sammeln sich Sauereien, Dummheiten, Verbrechen, Skandale, Lügen, Fehler, Katastrophen und noch viel mehr unerfreuliches Zeug an und akkumulieren sich, bis man in dem ganzen Wahnsinn schier zu ertrinken fürchtet. Dann aber — Abrakadabra! — kommt plötzlich einer daher, der sich Kalender nennt und ruft: „Tabula rasa! Erster Erster!“, und schon ist alles weg und neu und blank und weiß und unbefleckt frisch.

Das sei nichts Besonderes, finden Sie? Dann erinnern Sie sich doch mal an historische Skandalpolitiker, die verzweifelt versuchten, diesen Zaubertrick zu bewirken, ohne das Talent dafür zu haben.

Im Gedächtnis blieb exemplarisch Edmund Stoibers oft plagiiertes Diktum, man müsse „jetzt nur nach vorne schauen“, bei dessen Ertönen früher Horden von investigativen Journalisten sofort kollektiv nach hinten schauten und den kriminellen Dunghaufen aushoben, der mit dem Spruch vertuscht werden sollte.

Das geht heute zwar nicht mehr, weil es keinen investigativen Journalismus mehr gibt beziehungsweise jeder Versuch, einen solchen auszuüben, mit irgendwas zwischen „Rechts“-Framing, Kontokündigung und Bademantel endet. Trotzdem ist es nicht mal dem Schmierenmafioso im Kanzleramt gelungen, die Begriffe „CumEx“ und „Warburg“ aus dem deutschen Sprachschatz zu tilgen.

Der Kalender kann so was. Der funktioniert dem Mythos nach wie ein Umzugsunternehmen, das pfeilgerade pünktlich zum „guten Rutsch“ daherkommt, den ganzen alten Plunder abholt und dafür drei Kisten Hoffnung, frischen Mut und unbelastetes Tralala anliefert. Dann krempelt man die Ärmel hoch, hört für drei Tage zu rauchen auf, „hakt“ sich „unter“ und packt an und … tut vor allem eines: vergessen.

Das ist der entscheidende Punkt am Neujahrsblitzdingsgetue: das Vergessen. Nur so ist es möglich, einfach genauso weiterzuwursteln wie gewohnt, dabei aber das Gefühl zu haben, man gehe die vermeintlichen Probleme völlig „unbelastet“ mit total neuen Ideen an und werde sie diesmal ganz bestimmt lösen, getreu der Weisheit von Albert Einstein, es sei das sicherste Zeichen für Wahnsinn, immer das Gleiche zu tun und jedesmal ein anderes Ergebnis zu erwarten.

Nur so kann man es hinkriegen, den Warburg‘schen CumEx-Dunkelmann, der einen mit seinem blödsinnigen „Respekt“- und „Unterhaken“-Gewäsch so lange genervt hat, bis man ihn einfach nicht mehr hören und sehen mochte, im neuen Jahr bedenkenlos wiederzuwählen oder durch einen BlackRock-Dunkelmann zu ersetzen, den man schon vor fünfzehn Jahren nicht mehr hören und sehen mochte, und die nuschelnden und stammelnden Begleitpersonen, die man kurz vor Weihnachten noch am liebsten hinter dicken Mauern weggesperrt hätte, als nagelneue Regierung mit dem zu bescheren, was die Politpropaganda „Vertrauen“ nennt und worin selbst der dürftigste Küchenpsychologe nichts anderes erkennt als pechschwarzen Fatalismus, der nur deshalb nicht suizidal erscheint, weil zwischendurch der Kalender seinen Zaubertrick vollführt hat.

Weil der Kalender es so schön vorgemacht hat, tut man es ihm nach und räumt alle alten „Problemthemen“ in den Keller: Wer zum Beispiel kann sich noch an den „Great Reset“ erinnern, von dem vor bald fünf Jahren so viel die Rede war, den die einen als dunklen Welteroberungsteufelsplan an die Wand malten, woraufhin die anderen „Verschwörungstheorie!“ kreischten? Wer weiß noch, wie vehement damals vor digitalem Zentralbankgeld, biometrischer Gesamtüberwachung, Kohlenstoffsteuern, der cancelculturellen Totalsäuberung des rudimentären Restdebattenraums, gentechnischem Transhumanismus, regelmäßigen Massenspritzungen mit modRNA-Substanzen, Käfighaltung in Fünfzehn-Minuten-Städten, Synthetikfraß, Versklavung durch transnationale Milliardenkonzerne und den zum dritten Weltkrieg führenden finsteren Vernichtungsbestrebungen der NATO gewarnt wurde beziehungsweise all diese drohenden Höllengefahren als pure Lügenpropaganda rechter Putincoronaklimaleugner abgetan wurden? Und jetzt?

Ich möchte dazu ein Experiment versuchen, liebe Leser. Der folgende Text ist nicht neu, wurde aber bis heute von nicht mal hundert Menschen gelesen; ich gebe ihn unverändert, nur minimal gekürzt wieder. Und dann raten Sie doch mal, wann er entstanden ist.

In einem Lieblingsfilm meiner Spätjugend gibt es eine Szene, die symbolisch für die gesamte Menschheitsgeschichte stehen könnte. Entscheidend ist dabei allerdings weniger die Szene selbst als ihre Entwicklung: Da rast ein Zug ohne Lokführer quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika auf den Hauptbahnhof von Chicago zu, der ebenso wie sein Münchner Kollege ein Kopfbahnhof ist, also keine Möglichkeit des schadlosen Hindurchrasens bietet.

Während der Zug dahinrast, gehen die Insassen ihren kriminellen, komödiantischen und romantischen Beschäftigungen nach, und die Außenwelt versucht in zunehmend hysterischer Überforderung — und selbstverständlich vergeblich —, der absehbaren Katastrophe durch diverse … nun ja, sozusagen … Reformen, Eingriffe und Stellschraubendrehereien Einhalt zu gebieten.

Am Ende donnert die Lokomotive tatsächlich ungebremst in den Bahnhof, der dabei ziemlich eindrucksvoll verwüstet wird. Kein Vergleich mit heutigen Katastrophenfilmen freilich. Selbst der mittlerweile schon recht antiquierte Einsturz des Höllenschlunds samt der Stadt Sunnydale am Ende von „Buffy, the Vampire Slayer“ ist um Klassen monströser und apokalyptischer.

Aber der Bahnhofscrash hat eine Eigenart. Selbst wenn man den Film zum fünften Mal sieht, erwischt man sich bei dem Gedanken: Ach, das wird schon nicht … da wird schon noch irgendwer …, während man sich gleichzeitig das Rummsfinale noch viel schlimmer ausmalt, als es dann tatsächlich eintritt. Und dann geht zum fünften Mal alles so schnell und so zwangsläufig, dass man mit gesträubten Haaren zuschaut und im selben Moment in spontanen Blitzgedanken resümiert, was an welcher Stelle in welchem Augenblick getan hätte werden müssen – in dem klaren Wissen, dass das jetzt absolut nichts mehr hilft.

Da ist die Verbindung zur Menschheitsgeschichte. Man kann jedes beliebige scheinbar schicksalhafte Unheil heranziehen — meinetwegen den Dreißigjährigen Krieg oder die politische Karriere von Karl Lauterbach und Markus Söder — und weiß nach kurzer Beschäftigung mit den Einzelheiten, was an welcher Stelle dumm, falsch, idiotisch gelaufen ist und mit welch minimalen Eingriffen von Verstand, Vernunft und Gespür man den Wahnsinn verhindern hätte können.

Nun wäre es eitel, zu behaupten, die Menschen, die die Verwüstung von Rom oder den Zweiten Weltkrieg nicht verhindert haben, obwohl es so leicht gewesen wäre, seien alle einfach blöd gewesen oder böse oder hätten es damals halt nicht besser gewusst. Wir wissen ja auch, wie die Katastrophe, in der die menschliche Zivilisation demnächst untergehen wird, zu verhindern wäre. Und was tun wir? Wir feuern sie an, beschleunigen sie, so sehr es nur geht, als sehnten wir den Zusammenbruch geradezu herbei. Als wollten wir ihn so schnell wie möglich hinter uns bringen.

Wir sparen uns den Hinweis, dass „wir“ in diesem und vielen anderen Zusammenhängen ein höchst problematischer Begriff ist, weil es freilich nur ein Zehntelprozent der humanen und humanoiden Erdbevölkerung ist, das den ganzen Wahnsinn befiehlt, steuert und vorantreibt. Zumal das die Sache noch absurder macht, weil die „Übrigen“ zahlenmäßig, politisch und in jeder anderen Hinsicht allemal kräftig genug wären, um sich den paar Irren, die sich an ihre Spitze gesetzt haben, in den Weg zu stellen — sie müssten ja nur Klaus Schwab und sein World Economic Forum, Bill Gates, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg, die Führungsriegen von NATO, EU, BlackRock und Konsorten, ein paar UN-Strippenzieher, diverse Regierungskabinette, eine Handvoll Lobbyisten von Konzernen und Banken und noch ein paar so Influencer in die überreichlich verfügbaren Hochsicherheitsgefängnisse schmeißen, ihre Netzwerke und Vermögensbestände zerdröseln und die Börsen schließen, schon hätte der Spuk ein wahrscheinlich überraschend schnelles Ende.

Ich vermute, das widersinnige Phänomen könnte mit der Fantasie und dem Vorstellungsvermögen zu tun haben, mit denen der Mensch begabt ist. Was nämlich tun wir stattdessen? Wir imaginieren die wildesten Apokalypsen und Dystopien herbei, hauen uns unfassbare Schreckensszenarien um die Ohren, ergötzen uns in gelähmter Begeisterung an Weltuntergangsfilmen und -romanzyklen, erstellen Modelle und statistische Berechnungen, gegen die der schlimmste COVID-19-Horrorkarneval von Neil Ferguson und Christian Drosten wie ein harmloser Aprilscherz wirkt.

Derweil schauen wir ohnmächtig zu, wie dieselben Mächtigen, die wir eigentlich unschädlich machen müssten, wie wildgewordene Zuckmücken in der Weltgeschichte herumdüsen und auf allen möglichen Tagungen und Konferenzen irgendwas vereinbaren und verlautbaren, das alles nur noch schlimmer macht.

Daran ist die Fantasie schuld: Wir haben den Untergang schon erlebt, erleben ihn per Fernsehserie, Computerspiel und Zeitungsartikel jeden Tag aufs Neue, suhlen uns in genüsslichem Grusel und malen uns gleichzeitig in heroischen Bildern aus, wie demnächst Super-Greta „Holdrioh!“ kräht und im Handstreich die Welt rettet.

Auf einer anderen, vermeintlich etwas realeren Stufe huldigen wir den Hohepriestern der technischen Welterlösung und ihren Prophezeiungen. Wir bauen Abermillionen Elektroautos, Windräder, Solarmodule, produzieren Milliarden Plastiktüten aus Mais, schwadronieren von künstlichen Wolken, ausgetauschten Atmosphären, Kartoffelanbau auf dem Mars, „Green New Deals“ und digitalen „Lösungen“ für alles und jedes, obwohl wir in der ausgeblendeten Abteilung unseres Gehirns — dem Verstand — genau wissen, dass auch dieser Circus alles nur noch schlimmer macht und sowieso demnächst genauso zusammenkracht wie der Rest des Wahnkonstrukts.

Und dann gibt es noch die dritte Stufe: die wirkliche Wirklichkeit. In der irren wir als Einzelwürstchen herum, schleppen jeden Tag mehr Plastikmüll zum Container, messen per App unsere Körperleistung und unseren individuellen „Klima-Fußabdruck“, verschlingen vegane Burger von internationalen Milliardenkonzernen, posten bunte Nachhaltigkeits-Memes auf Insta und Twitter und wissen ganz genau, wie lächerlich, sinnlos und idiotisch das alles ist. Bewusst wird uns das allerdings nur in den seltenen Sekunden, wenn zwischendurch mal die Projektionen, Manipulationen und Visionen, das Gebimse von Propaganda, Reklame und Unterhaltung aus technischen Gründen kurz schweigen oder wir uns aus Unachtsamkeit ihrer Reichweite entzogen haben.

Und die ganze Zeit wissen wir, wie gesagt, ganz genau, was zu tun wäre. Das wäre aber zu simpel, zu fantasielos, zu unpathetisch. So wie wenn die Wohnung unter Wasser steht und man einfach den Haupthahn zudreht, statt eine multilaterale Kommission oder eine weltumspannende NGO zu gründen und per „Campact“-Kampagne Unterstützer zu sammeln, um uns am Ende unter der wehenden Fahne im Sonnenuntergang zu küssen.

Vor allem wäre es zu viel verlangt von einem Einzelwürstchen, das ja doch nichts tun kann und deshalb lieber weiter mitrödelt, um nicht noch mehr soziale Nachteile zu erleiden.

Und derweil rast der Zug weiter, und irgendjemand wird dann schon …

Nachtrag und Auflösung: Der Text entstand vor genau vier Jahren, Ende Dezember 2020. Und jetzt fragen Sie sich mal: Was davon hat sich geändert, außer den Namen einiger Regierungshampel, die aus guten Gründen nicht mal erwähnt werden? Was davon ist heute weniger drohend, dräuend, dringend und drängend, was wurde „angepackt“, welches Problem gelöst, welche Gefahr beseitigt, welcher finstere Plan durchkreuzt?

Vielleicht sollten wir den Herrn Kalender in den Ruhestand schicken, den Januar abschaffen und einfach weiterzählen. Dann wäre heute — je nachdem wann Sie dies hören oder lesen — der 46. oder 53. Dezember — oder meinetwegen, als Kompromiss, der 15. oder 22. Undezember 2024, und wir wüssten: Da kommt kein Umzugsunternehmen, da wird nichts von selber neu, da löst und ergibt und ändert sich nichts, wenn wir es nicht tun.

Und dann hätten wir mit dem heranziehenden Frühling vielleicht sogar Lust, das endlich anzupacken, mit Kopf und Hand und ganz ohne Magie. Bevor wir nach dem nächsten sinnlos verstrichenen Sommer und Herbst am 397. Dezember oder eben dem 1. Trevigintember 2024 aufwachen und in demselben Schlamassel drinstecken wie heute — oder einem noch viel schlimmeren.


Radio München · Belästigungen #31 - Und jetzt: Das Ganze noch mal von vorn?

Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst als Podcast bei Radio München.