Alle Menschen werden Brüder
Wir sollten Migranten aus armen Ländern nicht ablehnen oder bekämpfen, sondern gegen den Hunger und die Ungleichheit in der Welt aufstehen!
Zwei „alte weiße Männer“ im frühen 19. Jahrhundert schrieben zusammen dieses Lied, das bis heute fast alle kennen und das sogar zur Europahymne avanciert ist. Die Männer hießen Friedrich Schiller und Ludwig van Beethoven. Das Lied beginnt mit „Freude, schöner Götterfunken“. Darin wird die Freude selbst angesprochen, mit den Worten: „Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt. Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Ein Lied gegen die Spaltung, für die Vision einer „Menschheitsfamilie“, wie es Daniele Ganser ausdrücken würde. Leider sind die europäischen Länder zum großen Teil nicht Schillers Vision gefolgt, sie setzen auf Konflikt und Ausgrenzung. Auch kritische Menschen, die etwa die Ukraine- und Corona-Politik der Regierung ablehnen, betreiben oft eine andere Art von Spaltung, indem sie zwischen „uns“ (den einheimischen Deutschen) und „denen“ (den Flüchtlingen und Zuwanderern) unterscheiden. Es ist allerdings nicht die Schuld von Letzteren, dass sich soziale Probleme im globalen Süden wie auch im Norden häufen. Die Vision, alle Menschen könnten einander als Brüder und Schwestern behandeln, verträgt sich nicht mit der Ausbeutung und empörenden Ungleichheit, die sich weltweit verschlimmert haben. Diese müssen wir bekämpfen, nicht deren Opfer, die aus dem Süden zu uns kommen.
Neues Denken und Handeln
Als ich vor Kurzem zusammen mit meiner Frau meine Wahlheimat verließ, um in einer Weltstadt der EU nach vielen Jahren geschätzte Freunde zu treffen, die Freundschaft mit ihnen zu pflegen und mich mit ihnen auszutauschen sowie meine Muttersprache wieder zu hören, fiel mir auf, dass ich auf der Straße statt der deutschen viel öfter die arabische und die persische Sprache hörte und viele muslimisch gekleidete Frauen mit Kopftüchern sah. Da mir dieses ungewohnte Erlebnis ein wenig Unbehagen bereitete, dachte ich ernsthafter über das Problem nach und erinnerte mich gleichzeitig an den Text der Hymne der Europäischen Union, in der es in der ersten Strophe einer späteren Fassung heißt: „Alle Menschen werden Brüder“, im Sinne von Brüderlichkeit (1).
Wir sollten aufhören, die Migranten aus den armen Ländern des Südens, die zu Tausenden legal oder illegal in die Länder der Europäischen Union oder der USA strömen, argwöhnisch zu beäugen und sie auf die eine oder andere Art und Weise zu bekämpfen; wir sollten vielmehr gegen den von den „Eliten“ gewollten Hunger und die zum Himmel schreiende Ungleichheit in der Welt vorgehen und uns offen zur Einheit des Menschengeschlechts bekennen.
„Freude, schöner Götterfunken“
Das Lobgedicht (Ode) an die Freude ist das berühmte Gedicht von Friedrich Schiller, das bereits 1785 entstand und von Ludwig van Beethoven im 4. Satz seiner 9. Sinfonie vertont wurde. Das Gedicht, das in seiner frühen Fassung aus 9 Strophen zu je 8 Versen bestand, beschreibt sehr emotional und feierlich das Ideal einer Gesellschaft gleichberechtigter Menschen, die durch das Band der Freude sowie der Freundschaft verbunden sind (2).
Da Schiller sein eigenes Werk kritisch betrachtete, änderte er den Text mehrfach: Die erste Strophe der 1808 posthum veröffentlichten Variante lautet gemäß Wikipedia (3):
„Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng geteilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“
Nachdem in der ersten Strophe der Kontext des Gedichts geschaffen wird, spricht die zweite Strophe vom „Großen Wurf“, der insbesondere darin besteht, „eines Freundes Freund zu seyn“. Der soziale „Bund“ im Sinne von Gemeinschaftlichkeit und Freundschaft soll als Krönung des Lebens verstanden werden, das „Erdenrund“ als Bund aller Menschen (4).
Dass Ludwig van Beethoven seine 9. Sinfonie in einer Zeit der politischen Restauration im Jahr 1824 mit einem Chorgesang mit Schillers Text enden ließ, wurde von einem Zeitgenossen folgendermaßen bewertet — und erinnert an die heutige Zeit:
„Nach all dem politischen Wirrwarr und den Schrecknissen der Zeit, die auch Beethoven selbst erlebt hat, ist dieses Werk am Ende ein Appell, eine Sehnsucht nach Verbrüderung, nach Freude und Jubel, nach der Utopie eines Weltfriedens, nach einer Welt ohne Kriege und Zerstörung“ (5).
Seit 1972 ist die Melodie die Hymne des Europarats, die Instrumentalversion seit 1985 offizielle Hymne der Europäischen Union.
„Freiheit, schöner Götterfunken“
Zum Weihnachtsfest 1989 wurde Beethovens 9. Sinfonie im Ostberliner Konzerthaus unter der Leitung des berühmten US-amerikanischen Dirigenten, Komponisten und Pianisten Leonard Bernstein mit dem geänderten Text „Freiheit, schöner Götterfunken“ aufgeführt. Der Grund war der Fall der Berliner Mauer einen Monat zuvor (6).
Die Länder und Staaten des globalen Südens schließen sich diesem geänderten Text sicherlich gerne an, ist die Freiheit doch ein hohes Gut, das es immer und überall zu verteidigen gilt.
Der US-Star-Ökonom Jeffrey Sachs sprach in einem Interview mit dem geopolitischen YouTube-Podcast „The Duran“ in diesem Zusammenhang laut Russia Today.de vom 18. September 2023 vom Ende der US-Hegemonie als Teil eines natürlichen Zyklus. Sachs ging auf die beiden gegensätzlichen „Denkweisen“ ein, welche die Geopolitik prägen und sagte:
„Auf der einen Seite, unter Berufung auf Adam Smith, eine Haltung der Offenheit, von der alle Nationen nur profitieren können, auf der anderen Seite das Bestreben, andere unterzuordnen und die ‚Nummer eins‘ sein zu wollen.
Die Vereinigten Staaten und Europa hätten in Bezug auf diesen letzten Punkt die Geschichte geschrieben. China hingegen habe in der Geschichte noch nie eine Bedrohung dargestellt.
Die ‚Tragödie‘ der Großmachtpolitik ist ein westliches Konzept — wir dürfen uns dieser Tragödie nicht ergeben“ (7).
Lernen, uns zur Einheit des Menschengeschlechts zu bekennen
Für den Aufbau von Vertrauen zu den Mitmenschen — egal welcher Nationalität — sind die Informationen und kulturellen Werte, die Eltern und Erzieher täglich an das Kind herantragen, von entscheidender Bedeutung.
Das Menschenbild der christlich-abendländischen Kultur besagt, dass der Mensch, auch schon das kleine Kind, schlechte Eigenschaften in sich trage. Mit dieser Information, sei sie ihnen bewusst oder unbewusst, treten die Erzieher in der Regel an das Kind heran. Dadurch bekommt das Kind Angst vor dem anderen Menschen. Wenn das Kind lernt, Angst zu haben, durchzieht das sein ganzes Tun und Handeln und wie es sich in der Gemeinschaft bewegt und gibt. Die Gefühlsreaktion der Angst wird dann Bestandteil seines Charakters, den es bis ins Erwachsenenalter mehr oder weniger bewusst in jede zwischenmenschliche Beziehung hineinträgt.
Es ist also entscheidend, welche Art von Informationen und welche kulturell vorherrschenden Werte Eltern und Erzieher an das Kind herantragen. Wird das Kind durch unwahre Informationen und/oder verwirrende Lügen verunsichert und getäuscht, wird es sich auch noch als erwachsener Mensch von allen Mitmenschen distanzieren.
Wir wissen heute noch nicht, wann das Menschheitsgewissen die sogenannte absolute Wahrheit verkünden wird, wonach die Menschen zusammengehören und unter dem Gesetz stehen, zusammenzuwirken und einander die Hände zu reichen. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass der Bestand des Menschengeschlechts davon abhängen wird, dass sich die Menschen zur allmenschlichen Solidarität bekennen.
Kulturelle Besonderheiten der verschiedeneen Nationen sollten weiterhin bestehen — sie bleiben eine immense Bereicherung.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://wikipedia.org/wiki/An_die_Freude
(2) Am angegebenen Ort
(3) Am angegebenen Ort
(4) Am angegebenen Ort
(5) Am angegebenen Ort
(6) Am angegebenen Ort
(7) https://de.rt.com/international/181178-us-oekonom-jeffrey-sachs-ende-500-jährigen-westlichen-hegemonie-unvermeidlich/