Adler, Kondor und Quetzal

Drei engagierte Geister philosophieren über den Zustand der Welt und die Chancen der Menschheit, noch einmal das Schlimmste abwenden zu können. Das Ergebnis ist ein äußerst inspirierendes Buch.

Der mexikanische Dokumentarfilmer und Studentenbeweger Saúl Alvídrez brachte seine beiden Idole gemeinsam vor die Kamera: den US-amerikanischen Intellektuellen Noam Chomsky und den legendären Ex-Präsidenten Uruguays, Pepe Mujica. Aus dem Gespräch über die Chancen einer demokratischen Übernahme der Zivilisation entstand auch das Buch: Chomsky & Mujica. Überleben im 21. Jahrhundert (1). Wie sollen Bürger einem Staat begegnen, der seine Legitimität längst verloren hat, weil er nur noch eine winzige Minderheit repräsentiert? Oder wie Noam Chomsky sagt: „Es muss uns bewusst werden, dass keine hierarchische Struktur automatisch berechtigt ist; sie benötigt immer eine Rechtfertigung. Deshalb muss jede Form der Autorität, der Dominanz und der Hierarchie immer herausgefordert werden, sich zu rechtfertigen. Ist sie dazu nicht in der Lage, was meistens der Fall ist, muss sie beseitigt werden“ (2).

2014 irrt der 26-jährige Saúl Alvídrez durch die bolivianische Großstadt La Paz. Er entdeckt einen Laden mit allerhand skurrilen Dingen. Darunter eine Holzfigur mit dem Namen Die Prophezeiung des Adlers und des Kondors. Die Geschichte dazu geht so:

„Die Weisen des Nordens und des Südens von Amerika, ehrwürdige Schamanen und Älteste, erzählen, dass die Menschheit zu Anbeginn der Zeit in Harmonie mit ihrer Umwelt lebte. Doch es kam der Tag, an dem sie sich spalteten, nämlich in das Volk des Adlers und das Volk des Kondors. Die Menschen des Adlers, die sich am Rationalen und der männlichen Energie orientierten, wurden vom Intellekt und dem Materiellen verführt, dank der sie überragende technische Großtaten vollbrachten und ihren Führern unglaubliche Macht verliehen. Die Menschen des Kondors hingegen, die sensibler und im Einklang mit der Natur lebten, ließen sich von ihren Sinnen, ihrem Geist und ihrer Beziehung zur Natur leiten. Diese Eigenschaften stellten einen klaren Nachteil dar, weshalb es das Volk des Adlers war, das über die Welt herrschte. Doch letzten Endes bedrohte dieses Ungleichgewicht die Existenz beider Völker und nach vielen Jahrhunderten des Wartens ist nun die Zeit gekommen, in der Adler und Kondor wieder gemeinsam fliegen. Aus diesem Flug wird eine andere Menschheit hervorgehen, die dieses neue Zeitalter überstehen kann: die Menschheit des Quetzal, einem in den Gebirgswäldern Mittelamerikas heimischen Vogel“ (3).

Spontan assoziiert Saúl Alvídrez zwei seiner Idole mit den beiden Vögeln: Noam Chomsky steht für den Weisen des Nordens, Pepe Mujica für den Weisen des Südens. Saúls Verlorenheit verwandelt sich in eine Mission: Er will die beiden Denker zusammenzubringen. Drei Jahre später ist es so weit. 2017 treffen sich die drei im Haus von Pepe Mujica und diskutieren drei große Fragen:

Wie sind wir an diesen Punkt der Geschichte gekommen? Welche Werte brauchen wir im 21. Jahrhundert, um uns aus dieser globalen Talfahrt zu befreien? Welche Anstrengungen sind nötig, damit wir in das Zeitalter des Quetzal eintreten?

Abgrund, here we go!

Über die unfassbare Ignoranz der politischen Klasse in Europa, sowohl in den einzelnen Staaten als auch in den Entscheidungsgremien der EU, schüttelt der weitaus größere Rest der Welt nur den Kopf.
Pepe Mujica:

„Auch ich bin sprachlos angesichts der politischen Dekadenz in Europa. So sehr, dass man beinahe mit „Nostalgie“, in Anführungszeichen, an die alten konservativen Politiker in Europa zurückdenkt, die zumindest etwas mehr Weitblick und Würde an den Tag gelegt haben. Zum Beispiel de Gaulle, für den Europa bis zum Ural reichte und der verstand, dass ein Friedensprozess Russland unweigerlich als Teil Europas mit einschließen muss. Die Dummheit der NATO, ihr Versprechen, sich nicht nach Osten zu erweitern, zu brechen, war ein Schritt ohne die geringste langfristige Perspektive. Ich glaube, dahinter steckt eine Art Zweikampf, denn die Vereinigten Staaten fürchten, ihre Vormachtstellung an China zu verlieren“ (4).

Deutschland und Europa haben sich tief ins Chaos geritten, doch anstatt sich endlich an den Interessen der Menschen zu orientieren, setzen die Machteliten auf Eskalation nach außen wie nach innen. Sie fantasieren sich monströse Feindbilder zusammen. Und im Kampf gegen diese vermeintlichen Feinde ist dem degenerierten Mainstream jedes Mittel legitim.

Je mehr Widerstand sich regt, je deutlicher sich der Niedergang des Wertewestens abzeichnet, desto weiter entfernen sich die selbst ernannten Werteschützer von den Werten, die sie zwar gerne vor sich her floskeln, die aber immer nur für sie selbst galten. Bloß nicht die eigene Orientierungslosigkeit, die eigene Unfähigkeit, ja das ganzheitliche eigene Versagen öffentlich eingestehen. Um ihr hässliches Gesicht zu wahren, versucht die Machtelite, lieber alles zu zerstören. Motto: Wenn wir schon nicht gewinnen, dann sollen wenigstens alle mit uns untergehen. Das erinnert an Shakespeares tragische Figur Macbeth, der sich an einen Point of no Return manövriert hat:

„Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, / dass, wollt’ ich nun im Waten stillestehen, / Rückkehr so schwierig wär, als durch zu gehen“ (5).

Demokratie und Freiheit

Wer ein faschistisches Regime installiert, um die angebliche Demokratie zu schützen, ist kein Demokrat, sondern ein Faschist. Dass wir uns in Deutschland spätestens seit der angeblichen Coronapandemie, die eher eine Pandemie der Rechtsverletzungen und Ausgrenzungen war, mit Riesenschritten in einen neuen Faschismus bewegen und das auch noch unter dem Label „Kampf gegen rechts“, könnte man für eine aberwitzige Satire halten, wäre es nicht traurige Realität.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, liegt unter anderem am zunehmend untauglichen, extrem korruptionskompatiblen und Altparteien bevorzugenden Modell des derzeitigen politischen Systems.

Das von je her rein dekorative Mitspracherecht der Bürger wird noch minimiert durch die Demokratie verachtende Fünfprozenthürde, die einen großen Teil der Stimmen nicht nur verpuffen lässt, sondern auch noch auf die ungewollten anderen Parteien umlenkt.

Eine Korrekturmöglichkeit zwischen zwei Wahlterminen ist de facto nicht möglich. Das ist keine Demokratie, das ist Volksverhöhnung de luxe.

„Unser heutiges Modell nennen wir repräsentative Demokratie und die Menschen wählen alle vier oder fünf Jahre. Und? Das ist alles? Das soll Demokratie sein? Die Bevölkerung entscheidet rein gar nichts, urteilt über nichts, sie kann nicht einmal beschließen, neben ihrem Haus einen Graben auszuheben. Nichts! Für absolut alles benötigen wir irgendeinen Bürokraten, der den entsprechenden Stempel auf ein Stück Papier drückt und seine Genehmigung erteilt“ (6).

Das sagt Pepe Mujica, der von Politik und Demokratie mehr begriffen hat als der gesamte Wertewesten zusammen. Die Schuld trifft indes nicht allein Politiker und Medien, sondern alle, die diese Ruinisten gewähren lassen, nur weil es bequem ist. Bis es zu spät ist. Die Begriffe Demokratie und Freiheit gehören zusammen. Demokratie gibt es nicht ohne Freiheit. Aber was ist Freiheit? Was schränkt sie ein? Was fördert sie? Neben den Freiheitsrechten, die ein Bürger in einer echten Demokratie gegenüber dem Staat geltend machen kann, etwa Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Recht auf körperliche Unversehrtheit et cetera, und die in Deutschland spätestens seit Corona massiver Willkür ausgesetzt sind, gibt es noch einen anderen Aspekt, auf den wir Bürger — trotz der immensen Verteuerung des Lebens — deutlich mehr Einfluss haben.
Mujica:

„Unsere Konsumgesellschaft — oder, besser gesagt, Hyperkonsumgesellschaft — die mich dazu zwingt, immer mehr zu bezahlen und in Verzweiflung zu leben, raubt mir meine Freiheit, denn ich muss meine Freizeit irgendwie in Geld umwandeln, um mir das leisten zu können, was ich kaufen muss. Wenn ich dann also etwas erstehe, dann bezahle ich das im Grunde nicht mit Geld, sondern mit Lebenszeit, die ich opfern musste, um dieses Geld zu verdienen. Ich bin der Ansicht, dass wir mit unserer Lebenszeit geizen müssen, denn letzten Endes ist sie das einzig Wichtige. denn in dem Moment, in dem ich das tue, was ich möchte, bin ich frei; wenn ich hingegen nur Verpflichtungen erfülle, bin ich es nicht“ (7).

Das kann jeder für sich und ganz allein tun. Doch, um den Einfluss der Menschen auf die Entscheidungen der Politik zu erhöhen, um rauszukommen aus dem Gefühl permanenter Ohnmacht, brauchen wir eine Plattform, um unsere Bedürfnisse zu artikulieren, uns zu informieren, eine Möglichkeit, unsere veralteten Denkstrukturen zu durchbrechen, um einen „robusten Realismus zu schaffen“, wie es der Lobbyismus-Kritiker Marco Bülow ausdrückt: Ein individuelles Bewusstsein, das uns erlaubt, unser Leben zu reflektieren und zu verändern. Auch indem wir die Verantwortung übernehmen, Entscheidungen eben nicht korrupten und destruktiven Politikern überlassen, die weder intellektuell noch charakterlich dazu geeignet sind.

Die Mainstream-Medien haben indes bewiesen, dass sie bei ihrer Aufgabe, die Bürger neutral und unparteilich zu informieren, in jeglicher Hinsicht versagt haben. Schlimmer noch, sie haben ihre Aufgabe ins Gegenteil verkehrt.

Saúl Alvídrez:

„In Wahrheit ist die öffentliche Meinung heute nur ein Trugbild, und trotzdem daran festzuhalten, dass wir in einer Demokratie leben, ist absurd. Denn es wird nicht nur verhindert, dass die Bevölkerung ihre Entscheidungsmacht ausübt, sondern überdies entsteht eine Leere, in der die veröffentlichte Meinung (also die, die in privaten Informationsmedien verbreitet wird), den Platz einnimmt, der eigentlich für die öffentliche Meinung und den Willen der Bevölkerung bestimmt ist. Wenn die Bürger sich überwiegend durch Informationsmedien politisieren, also politisch gebildet werden, dann nur, weil sie sich nicht direkt an der Politik beteiligen können“ (8).

Das Zeitalter des Quetzal

Wie kommen wir Menschen also aus unserer zumindest mitverschuldeten politischen Unmündigkeit? Und wie kann sie aussehen, eine Welt, die nicht mehr von destruktiven Kräften angetrieben wird, wie sie derzeit besonders in Europa wüten?

Saúl Alvídrez findet klare Worte:

„Im 21. Jahrhundert kann die Lösung jedoch nicht mehr darin bestehen, die vorhandene Elite durch eine andere zu ersetzen. Dieses Paradigma hat mit Beginn des Anthropozän (9), was aus zivilisatorischer Sicht so etwas wie die Volljährigkeit ist, seine Gültigkeit verloren. Wir müssen begreifen und geltend machen, dass das Problem nicht länger unsere politische Klasse ist, sondern dass die Politik eine Klasse ist. Das neue Modell muss sein, dass wir uns selbst regieren und unser Schicksal nicht einem anderen überlassen. Mit diesem „anderen“ meine ich erneut jene winzige Elite von Anführern und Milliardären, die problemlos alle in einen Kinosaal passen würden und dennoch das Schicksal von acht Milliarden Menschen in der Hand halten“ (10).

Eine von Alvídrez Ideen, an deren Umsetzung er bereits seit einigen Jahren arbeitet, ist das Konzept der „artikularen Kommunikation“, das einige Leser vermutlich an das Pareto-Projekt (11) von Milosz Matuschek erinnert:

„Wenn es uns nicht gelingt, diese digitalen Monopole zu kontrollieren, ist der nächste Schritt, von ihnen unabhängig zu werden und uns auf diese Art ihrer Kontrolle zu entziehen. Dieses Ziel erfordert grundlegend andere Taktiken, denn es bedeutet, gemeinsam alternative, dezentralisierte Plattformen zu entwickeln, die die Nutzer miteinander in Verbindung bringen“ (12).

Wenn wir also überleben wollen, dann dürfen wir nicht geduldig abwarten, dass dieses zerstörerische politische System, das uns eine Katastrophe nach der anderen vor die Füße wirft, plötzlich von Erkenntnis durchdrungen sich freiwillig der Beteiligung der Bevölkerung öffnet. Wir müssen uns als Bürger selbst ermächtigen. Nur dann wird der Quetzal, dieser wunderschöne, bunte, kleine Vogel fliegen.



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