Abseits des Meinungskriegs

Jacques Baud schafft es, bei einem Thema sachlich zu bleiben, das sonst überall die Erregung hochkochen lässt: Wladimir Putin.

Es gibt dieser Tage wenige Stimmen, die das Geschehen in der Ukraine sachlich und unaufgeregt einordnen: Jacques Baud gehört zu diesen nüchternen Kommentatoren, dessen Buch zum Ukrainekrieg nun auf Deutsch erschienen ist. Sicherlich würden ihn viele als einen Putinversteher einordnen. Aber nur deshalb, weil es in unserem Land kaum mehr eine ausgewogene Gesprächskultur gibt und die Meinungsmacher meist nach dem Motto „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ agieren. Ein Autor, der auf der Basis überlegener Kompetenz bei einem Thema ruhig bleibt und die Argumente abwägt, erscheint da geradezu als Exot. Der Autor hat Bauds neues Buch über Putin und den Krieg gelesen.

Jacques Baud ist der Mann, der ganz sicher niemals bei Markus Lanz in der Sendung sitzen wird. Der Grund ist denkbar einfach: Er hat keine Meinung. Jedenfalls geht er mit ihr nicht hausieren. Der ehemalige Mitarbeiter des Schweizer Strategischen Nachrichtendienstes konzentriert sich auf Fakten. In Sendeformaten der kognitiven Kriegsführung – hier sei nochmal an Jonas Tögels Buch erinnert — sind Fakten aber verzichtbar. Sie könnten das Narrativ — oder besser gesagt: die Narrative — gefährden.

Wenn die ungefährdet bleiben sollen, lädt man sich lieber Norbert Röttgen oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann ein. Jedoch keinen Baud, der in den letzten Monaten zu einer Art Shooting-Star in den Alternativmedien wurde — das klingt in Deutschland immer gleich verwegen, denn Alternativmedien gelten als suspekt. Dort suchen aber Wissbegierige nach Antworten, die sie in den Massenmedien nicht mehr erhalten. Und sie finden sie dort auch: Weil dort Menschen wie Jacques Baud sitzen.

Neutralität ist bereits Putinknechtschaft

Im französischsprachigen Raum, insbesondere in der Schweiz, ist Baud bereits als Autor bekannt. Eines seiner Werke hat der Westend Verlag jetzt in aktualisierter Fassung dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Es heißt: „Putin. Herr des Geschehens?“ — und es verspricht einen sachlichen, einen nüchternen Blick auf den Ukrainekrieg, dessen Vorgeschichte und Auswirkungen. Wer solche Bücher schreibt, sitzt wie gesagt nicht bei Lanz oder Maischberger: Denn schon Teile der Wahrheit könnten so manchen verunsichern.

Dass Jacques Baud ein Putinversteher — oder schlimmer noch, die im Augenblick gebräuchliche Steigerung dessen, ein Putinknecht — ist, kann man nun wirklich nicht behaupten. Jedenfalls nicht, wenn man an einem neutralen Blick auf die Geschehnisse interessiert ist. Die, die in kognitive Kriegsführung eingebunden sind — wissentlich oder nicht! —, werfen ihm das natürlich dennoch vor.

Denn Neutralität ist schon Parteinahme, wer nicht gegen ihn ist, der ist für ihn. Wir haben es hier mit der Umkehrung von George W. Bushs Eindimensionalität zu tun, die er am Anfang des Krieges gegen den Terror formulierte: Wer damals nicht mit den Amerikanern war — sprich: mit deren Administration in Washington —, der war gegen sie. Diese plumpe Moralisierung wirkt nach, Außenpolitik ist eigentlich Interessenpolitik, aber sie wird durch den strikten Einsatz von Ideologie ausgehebelt und um die Interessenabwägung gebracht. Baud spricht auch das an, allerdings ohne selbst allzu moralisch zu werden. Er lässt Fakten, Daten, Ereignisse und Zitate sprechen.

Kein Narrativerhaltungsexperte

Die Narrative purzeln in Bauds Buch nur so. Seite für Seite entblättert er die kuriosen Vorstellungen, die dort vorherrschen, wo einst der freie Debattenraum war, wo jetzt aber ein verordneter Diskurs abgespult wird. Gekonnt entkräftet der Autor die Narrative der Stunde, wonach Wladimir Putin etwa die UdSSR neu errichten oder halb Europa unterjochen möchte. Dass der russische Präsident einst den NATO-Eintritt Russlands nicht als Scherz in die Runde warf, wie die Falken des Westens heute so selbstgerecht erklären, rückt Baud auch zurecht.

Der Autor war beim Geheimdienst tätig, hat militärische Reputation: Man merkt das seinen Analysen an. Sie strotzen vor Detailreichtum, die die Norbert Röttgens, André Hofreiters oder Ulrike Herrmanns dieser Republik beim besten Willen nicht vorzeigen können. Wo jene mehr oder weniger eloquent stümpern, weiß Baud fundiert und knapp einzuordnen.

Er ist ein Experte, der Sachkenntnisse mitbringt — schlimm genug, dass man das heute dazusagen muss. Aber in Zeiten von Expertentum, das sich durch Schreibtischtäterschaft und publizistische Komplizenschaft auszeichnet, ist diese Betonung unbedingt anzubringen. Jacques Baud ist in der Lage, die Geschehnisse in der Ukraine einzuschätzen, weil er die Grundlagen kennt, einst vor Ort war, militärisch-strategische Denkmuster verinnerlicht hat. Woher soll ein Lobbyist derlei Kenntnisse haben? Er braucht sie auch gar nicht.

Erst die Fakten, dann der Dialog

Besonders schön ist, dass Baud stets unaufgeregt argumentiert und darlegt. Er bedient sich keiner Polemik, keiner überzogenen Kommentare und Dramatisierungen. Das hat er schlicht nicht nötig. Neben dem Orchester der Panikmacher, die den Diskurs leider bestimmen, wirkt Jacques Baud schrecklich ausgeglichen — es ist vermutlich die Souveränität eines Mannes, der weiß wovon er spricht. Gelassenheit muss man sich leisten können.

„Putin. Herr des Geschehens?“ leistet einen wichtigen aufklärerischen Debattenbeitrag. Gerade in Zeiten gezielt forcierter Einseitigkeit hat ein solches Buch unglaubliches Potenzial, die unterdrückte Debatte in punkto Ukrainekrieg wachzurütteln. Bevor das gesellschaftliche Klima für einen Dialog, für Verhandlungen mit Russland bereit ist, bedarf es der Vermittlung dessen, was ist: Ohne es von kriegsbereiten Lobbyisten gefiltert und vorsortiert zu bekommen. Baud leistet diese Arbeit — er tritt der einseitigen Schuldzuweisung entgegen. Sie steht einer Verhandlungslösung ja auch im Wege. Mit ihr kommen wir nicht weiter — oder nur in die falsche Richtung.

Insofern müsste man hoffen, dass gewisse Mitglieder der Bundesregierung bei ihrem nächsten Gang durch die Buchhandlungen innehalten — oder zumindest ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter — und das Buch Bauds erst betrachten, dann kaufen und final lesen. Aber glaubt noch jemand im Lande, dass diese politischen Entscheider sich durch Fakten beeinflussen lassen — geschweige denn etwas lesen, was nicht vorher gesichtet wurde? Vielleicht wollen Sie es ja wagen, geneigter Leser, und Ihrem Abgeordneten ein Exemplar schicken. Damit nachher keiner sagen kann, man habe nicht versucht, sachlich und geordnet über diese Katastrophe in Osteuropa zu sprechen — heben Sie am besten den Kaufbeleg auf, wenn Sie dereinst Ihr Enkel fragt, was Sie damals gemacht haben, dann haben Sie einen „Persilschein“.




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