Abschied von der unipolaren Welt

In acht Thesen legt Mathias Bröckers dar, warum die Idee einer einseitig von Washington diktierten globalen Ordnung am Ende ist. Exklusivabdruck aus „Vom Ende der unipolaren Welt“.

Ob Moralpredigten ankommen, hängt sehr stark auch von der Glaubwürdigkeit der Moralisten ab. Das westliche Bündnis hat nach unzähligen Kriegen, die allesamt in den betroffenen Ländern Chaos und Leid verursacht haben, sehr viel an Kredit eingebüßt. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks träumte man teilweise von einem Ende der Geschichte. Gemeint war eine stabile, nicht mehr veränderliche Ordnung, die auf dem einseitigen Diktat der „freien Welt“ beruhen sollte. Eine solche sei durch die Überlegenheit westlicher Werte, aber auch durch die Unbesiegbarkeit des NATO-Bündnisses gewährleistet. Für eine solche Zukunftsvision sind spätestens mit dem Russland-Ukraine-Krieg die Grundlagen weggebrochen. Nicht nur die Moralvorstellungen des Westens sind obsolet geworden, auch die Fähigkeit des Bündnisses, diese global durchzusetzen, schwindet. Der Autor erklärt hier in acht knappen Thesen schlüssig, warum gerade die Geschehnisse des aktuellen Krieges in dieser Beziehung einen historischen Wendepunkt markieren. Exklusivabdruck aus der Einleitung des Buches „Vom Ende der unipolaren Welt: Warum ich gegen Krieg, aber noch immer ‚Putinversteher‘ bin“.

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„Das Glück ist immer auf der Seite der großen Bataillone“ — die auch vom Preußenkönig Friedrich II. überlieferte französische Redensart muss im 21. Jahrhundert umformuliert werden. Nachdem The (Real) Revolution in Military Affairs stattgefunden hat, so das gleichnamige Buch von Andrei Martyanov (2019), ist das Kriegsglück jetzt auf der Seite der „hypersonischen Waffen“: Präzisionsraketen, die aufgrund ihrer extremen Geschwindigkeit von keinem Luftabwehrsystem abgefangen werden können und ihr Ziel aus Tausenden Kilometern Entfernung auf den Meter genau treffen. Da nur Russland (und demnächst auch China) über solche Waffen verfügt — und ganz abgesehen davon, dass diese Raketen auch mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet sein können —, sind USA und NATO in jeder direkten militärischen Auseinandersetzung unterlegen. Auch ihre vielfach größeren Bataillone können da nicht helfen. Selbst ein massiver nuklearer „Erstschlag“ auf Moskau und Sankt Petersburg kann eine durchschlagende Antwort auf Washington, New York oder London nicht verhindern — gegenseitige Vernichtung ist garantiert. Oder besser: war garantiert. Denn die überlegenen Luftverteidigungssysteme (S-400/S-500) können den russischen Luftraum für ballistische Raketen schließen und den „Erstschlag“ höchstwahrscheinlich abfangen. Doch auf den russischen Gegenschlag gibt es im Westen keine Verteidigung. Deshalb kann und wird die NATO in der Ukraine militärisch nicht direkt eingreifen.

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Mit der Ankunft hypersonischer Präzisionswaffen auf dem Schlachtfeld — im Rahmen der russischen „Militäroperation“ in der Ukraine wurden solche „Kinschal“-Raketen erstmals eingesetzt — verändert sich die militärische Lage für das US-Imperium grundsätzlich und dramatisch. Nicht nur ist die Doktrin militärischer „Full Spectrum Dominance“ des Globus haltlos geworden, erstmals in seiner Geschichte ist das „Homeland“ der USA selbst nicht mehr sicher. Aus ihrer günstigen Lage — „Die Amerikaner sind ein sehr glückliches Volk. Sie sind im Norden und Süden von schwachen Nachbarn umgeben und im Osten und Westen von Fischen“, hatte sie einst Otto von Bismarck angeblich mal umschrieben — können sie keinen Gewinn mehr ziehen. Das Zeitalter der „billigen Kriege“ und von Gegnern, vor denen man zu Hause nichts zu befürchten hatte, ist vorbei und wird nicht wiederkehren. Deshalb wird Russland mit seinen wohl noch auf längere Zeit unbesiegbaren Waffen seine im Dezember 2021 in Washington vorgebrachten Sicherheitsinteressen — militärische Neutralität der Ukraine, Rückzug von NATO-Mittelstrecken Raketen aus Osteuropa — so lange mit „militärisch-technischen Mitteln“ durchsetzen, bis wasserdichte und schusssichere Verträge darüber vorliegen. Die USA können diesen Prozess in die Länge ziehen, indem sie weiter „bis zum letzten Ukrainer“ (oder Europäer) kämpfen lassen, doch verhindern sie können sie ihn nicht.

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Die geopolitische Strategie des kollektiven Westens — mit dem Ukrainekonflikt und wirtschaftlichen Sanktionen einen Regime Change in Moskau herbeizuführen und dann den „Endgegner“ China anzugehen — ist zum Scheitern verurteilt. Die Sanktionen haben sich schon jetzt als gefährlicher Bumerang erwiesen, weil sie Europa stärker treffen als Russland, das international keineswegs isoliert, sondern jenseits von NATOstan (in etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung) mit dem Rest der Welt weiter bestens im Geschäft ist und mit China wirtschaftlich und militärisch so eng zusammenarbeitet wie nie zuvor. Gegen den Rohstoff-Giganten Russland — es verfügt über mehr als ein Drittel aller fossilen Energien und Rohstoffe der Erde — und die mit ihm vereinte weltgrößte Hightech-Werkstatt China einen Krieg gewinnen zu wollen, ist eine selbstmörderische Illusion.

Mit der absehbaren militärischen Niederlage in der Ukraine ist ein entscheidender geopolitischer Wendepunkt markiert: das Ende einer von Washington diktierten und militärisch durchsetzbaren „regelbasierten internationalen Ordnung“.

Und damit auch ein Ende der Rolle des „Petrodollars“ als erzwungener internationaler Reservewährung sowie des US-Dollars als „billigem Geld“, das in Unmengen gedruckt werden konnte, ohne an Wert zu verlieren, weil die ganze Welt, um ihr Öl und Gas zu bezahlen, für stetige Dollar-Nachfrage sorgte. Die letzten beiden Staatsmänner, die das Petro-Dollar-Monopol brachen und ihr Öl gegen Landeswährung anboten — Iraks ehemaliger Staatspräsident Saddam Hussein und Libyens ehemaliges Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi — konnten von NATOstan noch weggebombt werden. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Schon zahlt etwa Indien sein Öl in Rubel gegen Rupien und weitere Länder werden dem Beispiel folgen. Ein alternatives globales Geld- und Finanzsystem mit einer rohstoff- und goldgedeckten internationalen Währung ist im Entstehen begriffen, das die globale Alleinherrschaft des Dollars und des westlichen Finanzkapitals beenden wird.

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Eine Europäische Union (EU), die sich auf Befehl der USA selbst stranguliert und von billiger Energiezufuhr aus Russland abschneidet, gibt nicht nur ihre wirtschaftliche Zukunft auf, sondern auch jede Souveränität. Sobald der Bumerangeffekt der Sanktionen richtig zuschlägt — bisher hat Russland seine „Energiewaffe“ noch gar nicht eingesetzt und beliefert Deutschland über die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 vertragsgemäß weiter — müssen sich vor allem die großen europäischen Nationen fragen, ob sie sich einem Schicksal als abgehängte Kolonien des US-Imperiums wirklich ergeben wollen. Und wenn ja, wie sie als Regierende ihren arbeitslosen, verarmenden, frierenden Bürgern eine derart aussichtslose Zukunft verkaufen können, ohne mit Schande aus dem Amt gejagt zu werden. Dass „Freiheit und Demokratie“ jetzt für die nächsten 20 Jahre statt am Hindukusch am Donbass verteidigt werden müssen, wird ihnen niemand mehr abkaufen. Eine EU ohne billige russische Rohstoffe ist global nicht wettbewerbsfähig und wird auseinanderfallen. Die Nationen werden sich entscheiden müssen: für den permanenten Krieg als Vasallen Washingtons, mit dem Ziel Regime Change in Moskau und Peking; oder für Handel und Wandel mit Russland und Eurasien, mit dem Ziel eines neuen Sicherheits- und Friedensvertrags in Europa.

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Weil im ersten Kalten Krieg die militärischen und wirtschaftlichen Fähigkeiten der Sowjetunion im Westen regelmäßig überschätzt wurden, kam ihr Zusammenbruch 1990/91 völlig überraschend. Der Kreml-Propaganda war es über Jahre gelungen, negative Entwicklungen schlicht unter dem Teppich zu halten. Im nunmehr neuen Kalten Krieg hat sich die Lage grundlegend verändert: Russland wird militärisch und wirtschaftlich heftig unterschätzt und die USA sind in einen Modus permanenter Erschaffung „alternativer“ Realitäten verfallen, gegen den die gute alte Sowjetpropaganda geradezu verblasst. „Russiagate“ zum Beispiel, die von A bis Z erfundene Story, dass Donald Trump von Wladimir Putin erpresst und die US-Wahl von unsichtbaren „russischen Hackern“ manipuliert wird, wurde fünf Jahre lang über alle Kanäle als Wirklichkeit präsentiert, samt Hillary Clinton, die so die „Putin = Hitler“-Gleichung schon 2016 in die Welt setzen konnte. Nicht nur die Medien waren in tragender Rolle als „Lügenpresse“ in die Scharade involviert, auch Geheimdienste, FBI und der US-Kongress spielten ungeniert mit. Mit dieser faktenfreien Fake-News- Kampagne wurde der Grundstein für das antirussische Narrativ gelegt, das mit der Zuspitzung des Ukrainekonflikts dann in den Turbomodus überführt wurde. In dem dann die beispiellose Sanktionskampagne startete, die aber auf einer weiteren Fehleinschätzung der Fähigkeiten Russlands beruhte. Dieses Mal einer groben Unterschätzung: Völlig überraschend für die US-Thinktanker und „Experten“ stellte sich heraus, dass sich die russische Wirtschaft und der Rubel nicht durch „Einfrieren“ (vulgo: Diebstahl) der russischen Dollar- und Euro-Reserven einfach ruinieren lässt. Russland hat trotz Sanktionen in den ersten fünf Monaten 2022 um 50 Prozent mehr mit dem Export von Öl und Gas eingenommen als im Vorjahreszeitraum und wird auch fortan unter den Sanktionen weitaus weniger leiden als der Westen. Und der Rubel, den Joe Biden zu „Rubble“ (deutsch: „Schutt“) zertrümmern wollte, ist die stärkste Währung des Jahres 2022.

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Dass die NATO schon lange kein „Verteidigungsbündnis“ mehr ist, sondern seit 1999 mit Angriffskriegen mehr Verwüstung und Katastrophen gestiftet hat als jedes andere Militärbündnis, ist keine russische Verschwörungstheorie, sondern historische Tatsache. Wie von Jugoslawien gingen auch vom Irak, von Libyen, Syrien oder zuletzt Afghanistan keine Gefahren für die USA oder Europa aus — und dennoch „verteidigte“ die NATO dort kräftig mit, als Vasall der geopolitischen Interessen des US-Imperiums.

Diese angeblich zwecks Verbreitung von „Demokratie“, „Freiheit“ und „Menschenrechten“ geführten Kriege haben nichts als mörderisches Chaos angerichtet und dazu geführt, dass es etwa in Libyen — dem zuvor prosperierendsten Land Afrikas — mittlerweile wieder offene Sklavenmärkte gibt.

Und jetzt in der Ukraine Bataillone lupenreiner Nazis, die von der NATO trainiert und aufgerüstet wurden, um als Speerspitze den Kampf gegen Russland und gegen die russischsprachigen Ukrainer in der Donbass-Region zu führen. Diese Angriffe, die seit 2014 mehr als 13.000 zivile Opfer gefordert haben, zu beenden, ist das erklärte Ziel der sogenannten russischen „Militäroperation“, das mutmaßlich bald erreicht sein wird, da die ukrainische Armee derzeit (Mitte Juni 2022) täglich 500 getötete oder verletzte Soldaten verliert. Für die NATO, die diese Armee und den Krieg mit allen Mitteln (außer mit Bodentruppen) unterstützt und sich — gerade von einer Barfußtruppe aus Afghanistan vertrieben — dank der russischen Intervention wieder „vereint wie nie“ fühlt, würde dies eine weitere, demütigende Niederlage bedeuten. Weil Russland seine Sicherheitsinteressen nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den Nachbarländern notfalls „militärisch-technisch“ durchsetzen wird — und die NATO nichts dagegen unternehmen kann —, macht sie sich als „Schutzmacht“ definitiv überflüssig. Und damit macht sie zugleich den Weg frei für eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa und Asien, die von Lissabon bis Peking reicht.

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Nicht die „Ostpolitik“ von Willy Brandt und Egon Bahr („Wandel durch Annäherung“), die von dumpfen Bellizisten derzeit als „historischer Fehler“ beschimpft wird, war falsch, sondern die Politik der USA, ihre Raketen um jeden Preis, auch um den eines Kriegs, in der Ukraine aufzustellen. Nicht Russlands Drängen auf eine Wiedervereinigung nach den Minsk-Abkommen war der historische Fehler, sondern die Ignoranz gegenüber russischen Sicherheitsbedenken und die Aufrüstung der Ukraine. Und nicht die zuverlässige, nahe liegende und günstige Versorgung Deutschlands mit russischem Öl und Gas ist der „Jahrhundertfehler“ (Der Spiegel), sondern die angloamerikanische Strategie das Zusammenwachsen Eurasiens, besonders eine deutsch-russische Kooperation, zu verhindern. Zweimal ist das im vergangenen Jahrhundert gelungen, um den Preis zweier Weltkriege.

Wenn Europa nicht erneut zum Schlachtfeld eines Weltkriegs werden will, darf es sich nicht länger vor den Karren dieser geopolitischen Strategie spannen lassen. Ihr Scheitern ist mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine evident geworden.

Es markiert das Ende der unipolaren Welt und dem von den amerikanischen Neokonservativen seit drei Jahrzehnten betriebenen Projekt, in jeder Region der Welt über die militärische Vormachtstellung zu verfügen, die jede aufstrebende Macht zur Unterwerfung zwingt. Damit ebenfalls beendet wird die Hegemonie des von der Wall Street und der City of London kontrollierten Finanzkapitals und der globalen Währungspolitik. Mit der gold- und rohstoffgedeckten Verrechnungseinheit auf Rubel/Yuan-Basis entsteht für 85 Prozent der Welt eine höchst willkommene Alternative zum schuldenbasierten FIAT-Money, den Dollars und Euros der westlichen Hemisphäre.

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„Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen“, hat Albert Einstein gesagt. Heute, da wir über das verfügbare Arsenal ziemlich sicher sind, ist seine Warnung dringlicher denn je. Wem es um ein Ende des Konflikts geht, darf keine Waffen liefern, wer das Leid der Menschen in der Ukraine beenden will, muss verhandeln statt schießen, wer Frieden will, darf nicht dem Plan der angloamerikanischen Geostrategen folgen, den Russen in der Ukraine „ihr Afghanistan“ zu bereiten und sie in einen endlosen Guerillakrieg zu verwickeln. Und schon gar nicht darf er sich dazu — zumal als Deutscher — mit lupenreinen Nazis des Asow-Regiments verbünden. Und sollte sich fragen, was eigentlich verdammt noch mal gegen die Sicherheitsforderungen Russlands — eine militärisch neutrale Ukraine — spricht. Und warum man diese nicht ernst nehmen und um des lieben Friedens willen endlich akzeptieren kann. Bis es so weit ist, bleibe ich „Putinversteher“ und bitte alle NATO-Versteher und Freunde der Jugoslawien-, Irak-, Libyen-, Syrien- und Afghanistan- Kriege, ihre Position zu überdenken. Peace!


Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Vom Ende der unipolaren Welt — Warum ich gegen Krieg, aber noch immer ‚Putinversteher‘ bin“ von Mathias Bröckers.