Abschied vom Abendland
Die abendländische Kultur, ihre Werte und Lebensformen befinden sich im Niedergang.
In letzter Zeit häufen sich die Aufrufe zur Verteidigung der „westlichen Wertegemeinschaft“. Auch wird immer wieder lautstark von der Notwendigkeit zur Bewahrung „unserer abendländischen Werte“ oder vom Erhalt von „unserer Art zu leben“ gesprochen. Ein kritisches Hinterfragen dieser Sichtweisen findet dagegen kaum statt. Auch wird nur sehr selten thematisiert, ob und wieweit diese aus der Vergangenheit stammenden Werte und Lebenseinstellungen den großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft überhaupt noch gerecht werden können.
„Nicht um die Erfinder von neuem Lärme: um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt; unhörbar dreht sie sich“, schreibt Friedrich Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“ (1).
Die Bekehrung zum Christentum ging nicht – wie noch von Jesus vorausgesetzt – mit einer tiefgreifenden Veränderung der Charakterstruktur des Menschen und seiner Lebensweise einher, sondern war „begleitet von einer mehr oder weniger weitgehenden Unterwerfung“ unter die Strukturen und die Praxis der nach seinem Tod sich etablierenden christlichen Kirche (2).
Inzwischen – so Erich Fromm – erübrigt sich schon der Nachweis, dass die gesamte abendländische Geschichte durch eine ständig wiederkehrende Anwendung von Gewalt, von Eroberung, Ausbeutung und Unterdrückung gekennzeichnet ist. Die Schuld dafür allein dem Machtwillen, der Habgier und der Gewissenlosigkeit einiger weniger Anführer zuzuschreiben, reicht aber nicht aus, denn diese hätten ihre Ziele niemals erreichen können, „wenn der Wunsch, zu erobern und über andere zu siegen“, nicht auch in der Charakterstruktur eines großen Teils der Menschen selbst „verwurzelt gewesen wäre und es noch immer ist“ (3).
Die Geschichte des christlichen Abendlandes erweist sich damit als ein äußerst vielschichtiger und widersprüchlicher Prozess. Sie ist eben nicht nur eine Geschichte großer wissenschaftlicher Entdeckungen und wirtschaftlicher Erfolge sowie der Verkündung hoher moralischer Werte, wobei sich viele selbst auch gern als ein nachahmenswertes Beispiel für andere Kulturen sehen, sondern sie ist auch „eine Geschichte der Eroberungen, der Eitelkeit und der Habgier; unsere höchsten Werte sind: stärker als andere zu sein, andere zu unterjochen und auszubeuten“ (4).
Krankmachende und zerstörerische Werte
Selbstsüchtiges Verhalten, Habsucht und Egoismus sind zu einem nicht unwesentlichen Teil die Produkte der jeweils vorherrschenden kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung. Sie führen weder zu einem inneren Frieden der Menschen noch zu dauerhaft friedlichen Beziehungen zwischen ihnen, sondern bilden – ganz im Gegenteil – die Grundlage für ein ‚falsches Leben‘ und werden damit zum Ausdruck für eine Lebensweise, die der menschlichen Natur weitgehend widerspricht. Diese Art zu leben ist nicht von Geburt an gegeben, und bringt zunehmend pathogene Charakterzüge hervor, welche „schließlich den Menschen und damit die Gesellschaft krank machen“ (5).
So sind rein ökonomische Grundsätze und Prinzipien, wie Wettbewerbsdenken, Konkurrenzverhalten und Marktorientierung, inzwischen längst zu Leitbildern der individuellen Lebensführung geworden. Diese Entwicklung führt unter anderem auch dazu, „daß das klassische Leistungsprinzip zunehmend durch das Prinzip des Erfolgs ersetzt“ wird (6). In der Gesellschaft wird dadurch „eine immer striktere Unterscheidung zwischen ‚Gewinnern‘ und ‚Verlierern‘“ befördert, die eindeutig negative Folgen für die Situation und das Leben vieler Menschen hat, deren Leistungen auf diese Weise entwertet werden (7).
Dabei zeigt sich, dass solch eine „ökonomisierte Gesellschaft auch ein Nährboden für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit sein kann“ (8). Menschenverachtende Einstellungen werden dann von „oben“ nach „unten“ durchgereicht und führen schließlich zu einer zunehmenden Entsolidarisierung innerhalb der gesamten Gesellschaft.
Dabei schauen beträchtliche Teile ihrer Mitglieder nur noch herablassend auf die in der Hierarchie jeweils unter ihnen stehenden Personen oder gesellschaftlichen Gruppen, bis sie schließlich ganz unten, bei der Gruppe der Fremden, der Flüchtlinge und Asylsuchenden, angekommen sind.
Den eigenen „Wohlstand zu wahren, indem man ihn anderen vorenthält“, ist zum unausgesprochenen und uneingestandenen Lebensmotto nicht nur der besonders Reichen, sondern auch eines beträchtlichen Teils der weniger wohlhabenden, meist aber auch hart arbeitenden Bevölkerung geworden — „und ihre kollektive Lebenslüge ist es, die Herrschaft dieses Verteilungsprinzips und die Mechanismen seiner Sicherstellung vor sich selbst zu verleugnen“ (9).
Seit dem Beginn der europäischen Expansion vor nunmehr schon über fünfhundert Jahren und der darauf erfolgten Errichtung eines weltumspannenden Kolonialsystems – bis hin zu den gegenwärtig sich vollziehenden Globalisierungsprozessen – fühlen sich die Länder des abendländischen Europas in ihrem „christlichen“ Erbe immer wieder aufs Neue dazu berufen, „den Rest der Welt nach ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Eigenarten zu formen“ (10).
So beruhte – und beruht – schließlich die gesamte kapitalistisch-abendländische Entwicklungsstrategie, mit ihrer weltweiten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und Arbeitskräfte mittels privater Aneignung der Gewinne und Abwälzung der Kosten auf Außenstehende, von Anfang an schon „auf dem Prinzip der Entwicklung zu Lasten anderer“ (11).
Auch gründet sich der seither erreichte individuelle und kollektive Wohlstand der westlichen Welt „eben nicht nur auf harter Arbeit, klugem Haushalten und dem Glück des Tüchtigen (…), sondern mindestens ebenso sehr auf struktureller Macht, systematischer Ausbeutung sowie tätiger Mithilfe an anderer Länder und Leute Unglück“ (12). Stützt sich doch die hohe Produktivität der hochindustrialisierten Länder mit ihrem scheinbar unaufhörlichen Wachstum zu einem nicht geringen Teil „auf der systematischen Ausbeutung der stofflichen Ressourcen und des physischen Arbeitseinsatzes – von Mensch und Natur – in anderen Teilen der Welt“ (13).
Ein Wohlstand auf Kosten anderer, dieses höchst zweifelhafte Lebensmodell, bei dem sich die „Länder des Westens“ die Ressourcen fremder Länder und Regionen auf eine ausbeuterische und oftmals brutale Weise aneignen, ist jedoch vielen der dort lebenden Menschen im Laufe der Zeit derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihnen das alles als völlig normal erscheint, als ein selbstverständliches Recht, das eigentlich auch nicht mehr hinterfragt zu werden braucht (14).
Mit den globalen Entwicklungen der letzten Jahre geraten nun aber die gewohnte Lebensweise und mit ihr viele der alten Gewissheiten und Überzeugungen zunehmend ins Wanken. Vor allem in Gestalt des nunmehr kritisch werdenden Klimawandels und der bedenklich anwachsenden Fluchtbewegung von Menschen aus den benachteiligten Regionen sowie aus den Kriegsgebieten dieser Welt, schlagen nun die Folgen der abendländischen Wirtschafts- und Machtpolitik ganz direkt und auch allgemein spürbar auf ihre Verursacher zurück.
Brennende Flüchtlingsheime und die weitere Entleerung des Asylrechts sind dabei als aus der Verzweiflung entstandene Reaktionen auf diese Folgewirkungen zu verstehen, „als im Wortsinne reaktionäre – rückwärtsgewandte – Versuche, die Zeichen der Zeit zu leugnen und die Realitäten der Weltgesellschaft auch weiterhin zu ignorieren“ (15).
Auch zeigen Klimawandel und Flüchtlingskrise einmal mehr den zerstörerischen Einfluss, den die abendländische Kultur auf die Beziehungen der Menschen untereinander sowie auf deren natürliche Umwelt ausübt. Dabei lassen sich solche Reaktionsweisen beobachten, wie sie gerade wohl auch für Kulturen und Imperien, die sich im Stadium ihres Niedergangs befinden, typisch sein mögen: „bröckelnde Gewissheiten und trotzige Weiter-so-Parolen, lautstarke Selbstberuhigung und Rückzug ins ‚kleine Glück‘ des Privaten, das Pfeifen im Walde und der Ausbruch von Gewalt“ (16).
Verschiebung der angestauten Aggression auf Ersatzobjekte
Aber auch im Inneren der westlichen Länder, in denen Reichtum und Macht äußerst ungleich verteilt sind, haben sich wichtige Veränderungen vollzogen. Dabei hat sich in den letzten Jahren, mit der Herausbildung prekärer Arbeitsverhältnisse und deren sozialer Folgen, die bereits schon durch die kulturelle Tradition bedingte ablehnende Haltung gegenüber allem Fremden noch weiter verschärft.
Eigene Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, aber auch die Ausweitung des Niedriglohnsektors, die Befristung von Arbeitsverträgen sowie das Aufkommen und der Missbrauch von Leiharbeit, haben vor allem bei Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen zu weitverbreiteten Ängsten vor einem jederzeit möglichen sozialen Abstieg geführt und zu dem für sie beunruhigenden Gefühl einer allgemeinen Bedrohung ihres bisher gewohnten Lebens beigetragen.
Sich deswegen aber mit den mächtigen Unternehmerverbänden und den sie unterstützenden Politikern anzulegen, die diese Zustände weitestgehend geschaffen und auch zu verantworten haben, überfordert jedoch die realen Möglichkeiten der vor allem auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze sowie auf ihre soziale Sicherheit bedachten abhängig Beschäftigten, denn dazu wäre ein hohes Maß an Risikobereitschaft und Mut erforderlich, und diese Menschen müssten vorab einen Großteil ihrer existierenden Ängste überwinden.
Doch wachsender Unmut und vorhandene Aggressionen, die von einem als zu mächtig wahrgenommenen Verursacher weggeschoben werden, suchen sich dann meist ein passendes Ersatzobjekt, einen möglichst machtlosen Gegner, an dem sich zumindest ein Teil der angestauten Aggressionen – ohne eine Gefährdung der eigenen Position – doch noch abreagieren lässt (17).
Dem dient auch die Schaffung von äußeren Feinden, die angeblich „unsere gesamte Kultur“ und „unsere Werte“ bedrohen.
So wird, anknüpfend an alte Vorurteile sowie mit Hilfe einer über Jahre betriebenen medialen Dämonisierung, vor allem den Menschen aus den muslimischen Ländern mehrheitlich unterstellt, „unsere westliche Kultur“ bewusst zu unterwandern, um dann schließlich alles Abendländische – „unsere Traditionen“ und „unsere Art zu leben“ – zerstören und selbst die Macht übernehmen zu können.
Mit dieser Aggressionsverschiebung muss also nur die komplizierte Realität genügend verdrängt und sich ganz auf das scheinbar Nächstliegende konzentriert werden, auf das irgendwie Plausible, das auch von einer langen Tradition gestützt wird. Dafür scheinen sich schließlich die Flüchtlinge und Asylsuchenden am allerbesten zu eignen. Sie sind konkret, greifbar und besitzen vor allem keine Macht, die einem selbst gefährlich werden könnte, und jeder, auch wenn er nur „wenig informiert ist oder sein will, kann behaupten, dass es die Ausländer sind“, die sich auf Kosten der fleißig arbeitenden Einheimischen ein schönes Leben machen wollen. Unter diesem Blickwinkel können sie für die eigenen Probleme sowie für die allermeisten der gesellschaftlichen Missstände direkt verantwortlich gemacht werden (18).
So erweist sich die sogenannte Flüchtlingskrise eben als das, was sie Wirklichkeit auch ist, nämlich als eine Krise der gesamten abendländischen Kultur, vor allem in Hinsicht auf ihre eigenen Ansprüche: ihres Menschenbildes, ihrer Werte, und ihrer Humanität (19).
Wanderungsbewegungen von Menschen und Migration hat es schon immer gegeben. Immer wieder haben Menschen ihren Lebensmittelpunkt, meist in Erwartung eines besseren Lebens, auf Dauer verlegt.
Mit dem Aufkommen des Kapitalismus wurde die Migration von größeren Menschengruppen nur noch weiter beschleunigt, denn zu dieser Produktionsweise gehört auch die ständige „Produktion ‚überflüssiger Menschen‘“, von Menschen, die aufgrund der ununterbrochenen Kapitalverwertung und des dadurch erreichten ökonomischen Fortschritts als „lokal nutzlos (überschüssig, ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt)“ oder, in Folge von Unruhen und Konflikten, als „lokal untragbar erscheinen“ (20).
In den letzten Jahren ist jedoch der Anteil von Flüchtlingen und Asylsuchenden an der Gesamtzahl der in das abendländische Europa strömenden Migranten nahezu „sprunghaft angestiegen“ (21). Zu den ohnehin schon vorhandenen wirtschaftlichen Ursachen der Migration sind noch gravierende politische Gründe hinzugekommen, aber auch Gründe, die im direkten Zusammenhang mit kriegerischen Handlungen stehen, an denen die Länder des Westens in den meisten Fällen selbst beteiligt sind.
Dabei handelt es sich in erster Linie um die Folgen einer über Jahre betriebenen Politik der Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens durch die führenden Länder der westlichen Welt sowie um die - zum Teil verheerenden - sozialen Folgen, die sich dort aus deren direktem militärischen Eingreifen ergeben haben (22).
Das alles hat schließlich zu Gegenbewegungen sowie auch zu den verschiedensten Gegenreaktionen von Menschen aus diesen Regionen geführt, bis hin zu Attentaten und weiteren verabscheuungswürdigen terroristischen Verbrechen. Die ankommenden Flüchtlinge und Asylsuchenden jedoch pauschal als potenzielle Terroristen oder als Kriminelle zu betrachten und entsprechend zu behandeln, ist eine ungerechtfertigte Abwertung und Verurteilung von Menschen, die sich in Not befinden.
Anstatt den Flüchtlingen auf eine humanitäre Weise zu helfen und endlich auch mit der Beseitigung der Fluchtursachen zu beginnen, macht es eine solche Vorgehensweise dagegen erst möglich, den Betroffenen ihr eigentliches Menschsein in Frage zu stellen oder faktisch sogar abzusprechen.
Damit können sie dann auch „außerhalb des Bereichs der moralischen Verantwortung – und vor allem außerhalb des Raumes, in dem Mitgefühl und der Impuls anderen zu helfen, zum Zuge kommen“, gestellt werden (23).
Die eigentlichen Ursachen der Migration zu verschweigen oder zu bagatellisieren, den betroffenen Menschen zugleich aber ihre Bedeutung und Würde abzusprechen, ermöglicht und bereitet schließlich den Weg „für ihren Ausschluss aus der Kategorie der legitimen Träger von Menschenrechten“, und somit zu ihrer „Entmenschlichung“ (24). Letztlich führt dies dann auch „zu einer Verschiebung des Migrationsproblems aus dem Bereich der Ethik in den der Sicherheitsbedrohungen, der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Strafverfolgung, der Kriminalität, der Verteidigung der Ordnung und letztlich des Ausnahmezustands, der gewöhnlich mit Bedrohungen durch militärische Aggression und Feindseligkeiten assoziiert wird“ (25).
Solch eine „Politik der Versicherheitlichung“ trägt darüber hinaus noch wesentlich dazu bei, dass es vielen der – von ihren eigenen Ängsten geplagten – einheimischen Zuschauer nun scheinbar auch problemlos gelingt, ihr Mitgefühl mit dem Leid anderer Menschen schon im Voraus zu unterdrücken und die ankommenden Flüchtlinge „und das, was man mit ihnen macht, (…) nicht länger unter moralischen Gesichtspunkten“ zu bewerten (26).
Die Notwendigkeit neuer Werte und Lebensformen
Der Natur immanent ist der Zusammenhang von Werden und Vergehen, von Wachsen und Schrumpfen. Natürliches Leben ist deshalb auch gekennzeichnet durch Vielfalt und Verschiedenheit, durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Erfahrungen und Kompetenzen. Falsches Leben zeigt sich dagegen in „Wachstumssucht und Verleugnung der Begrenzung und des Endes (…), ist die Dominanz der einen über die anderen durch politische, militärische, religiöse und ökonomische Macht mit Selbstüberhöhung und Fremdabwertung“ (27).
Der zunehmende Prozess der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen hat – unter den gegebenen politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen – die ohnehin schon vorhandenen sozialen Ungleichheiten und Konflikte nur noch weiter verstärkt und damit vor allem die Menschen in den ärmeren Ländern in eine Situation gebracht, die viele von ihnen nicht länger mehr hinnehmen wollen.
Eine „kritische Grenze“ im immer größer gewordenen Wohlstandsgefälle zwischen den Menschen der verschiedenen Länder und Kulturen scheint gegenwärtig erreicht zu sein. Das tatsächliche Ausmaß an sozialer Ungleichheit und Benachteiligung sowie deren eigentliche Ursachen und Zusammenhänge lassen sich immer weniger vertuschen oder verleugnen (28).
Seinen unübersehbaren Ausdruck findet dieser Zustand in globalen Krisen, in der fortgesetzten Zerstörung der natürlichen Umwelt, in den zunehmenden kriegerischen Handlungen und Konflikten sowie in den weltweit anwachsenden Flüchtlingsströmen, die letztlich auch „Symptome eines kritisch gewordenen Sozialkampfes“ und damit „Folgen unseres falschen Lebens sind“ (29).
Ein humanitärer Umgang mit Menschen, die verfolgt werden oder die sich in Not befinden, ist deshalb ohne jeden Zweifel geboten und auch notwendig. Wichtig ist dabei aber nicht nur eine kurzfristige oder nur eng begrenzte Hilfe, sondern ein grundsätzliches Umdenken, eine völlig andere Politik.
Eine solche Politik muss für diese Menschen vor allem eine langfristig angelegte Unterstützung beinhalten, denn die Bewältigung einer notwendig gewordenen humanitären „Krisenaktion kann nicht das Ringen um eine global gerechtere Lebensform ersetzen“ (30).
Auch eine Politik der doppelten Standards, eine Politik, die die Souveränität und Unversehrtheit des eigenen Staatsgebietes mit allen Mitteln schützen und verteidigen will, militärische Auslandseinsätze zur Sicherung der eigenen Interessen aber ausdrücklich anerkennt, kann sicher auf eine lange kulturelle Tradition zurückblicken. Sie muss aber auf die Bevölkerung anderer Länder provozierend wirken und nicht zuletzt auf die gesamten internationalen Beziehungen sowie auf die Erhaltung des Weltfriedens zerstörerisch wirken.
Nach Einschätzung des Soziologen Zygmunt Bauman sind wir gegenwärtig – in einer Welt zugespitzter krisenhafter Erscheinungen und zugleich zunehmender wechselseitiger Abhängigkeiten – mit einer gewaltigen Herausforderung konfrontiert, einer „Herausforderung, bei der es um Leben oder Tod geht (um gemeinsames Leben oder gemeinsamen Tod)“ (31). Wir nähern uns dabei immer mehr einem Punkt – so Bauman –, von dem es nur noch zwei unterschiedliche Wege in die Zukunft geben kann, „wobei der eine Weg zu kollektivem Wohlergehen, der andere zur kollektiven Auslöschung führt“ (32).
Die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten wird ausschließlich aber von uns selbst abhängen, von unserer Fähigkeit, „‚auf engstem Raum‘ zusammenzuleben, in Frieden, Solidarität und Kooperation, inmitten von Fremden, die ähnliche Meinungen und Vorlieben haben mögen wie wir – oder auch nicht“ (33).
Die Menschen in den Ländern des Abendlandes stehen vor einer äußerst wichtigen Entscheidung. Es geht dabei um eine Frage, die für ihre gesamte weitere Existenz von grundlegender Bedeutung werden könnte, „um die prinzipielle Frage“, ob oder wie lange sie ihre „bisherige – oft mühevoll erarbeitete und verteidigte – Lebensform“ überhaupt noch aufrechterhalten können beziehungsweise in der ihnen gewohnten Weise weiterführen möchten – ob sie ihre und die Zukunft ihrer Kinder friedlich oder kriegerisch gestalten wollen:
„Wir stehen vor der Wahl, die aufgeblähten Erfolge eines falschen Lebens, die im narzisstischen Wahn keine wirkliche Rücksicht auf die Benachteiligten und die Umwelt nimmt, immer stärker verteidigen zu müssen oder global natürlichere (echtere, gerechtere) Lebensformen zu finden“ (34).
Quellen und Anmerkungen:
(1) Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Zweiter Teil. In: Werke in drei Bänden. Zweiter Band. Frankfurt am Main, Wien 1994, S. 386.
(2) Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 1990, S. 135.
(3) Fromm, a.a.O., S. 137f.
(4) Fromm, a.a.O., S.137.
(5) Fromm, a.a.O., S. 19.
(6) Gross, Eva / Gundlach, Julia / Heitmeyer, Wilhelm: Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen. In: Deutsche Zustände. Folge 9. Herausgegeben von Wilhelm Heitmeyer. Berlin 2010, S. 139f.
(7) Gross, Gundlach, Heitmeyer, a.a.O., S. 140f.
(8) Gross, Gundlach, Heitmeyer, a.a.O., S. 152.
(9) Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin 2016, S. 19.
(10) Drewermann, Eugen: Von Krieg zu Frieden. Kapital und Christentum. 3. Band. Ostfildern 2017, S. 24.
(11) Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin 2016, S. 24f.
(12) Lessenich, a.a.O., S. 192.
(13) Lessenich, a.a.O., S. 179
(14) Lessenich, a.a.O., S. 108.
(15) Lessenich, a.a.O., S. 75f.
(16) Lessenich, a.a.O., S. 168.
(17) Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main 1996, S.108.
(18) Schui, Herbert: Die große Aggressionsverschiebung. In: Hintergrund. Das Nachrichtenmagazin. 9. Januar 2015. (www.hintergrund.de/politik/inland/die-grosse-aggressionsverschiebung/).
(19) Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin 2016, S. 164.
(20) Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin 2017, S. 8f.
(21) Bauman, a.a.O., S. 11.
(22) Bauman, a.a.O., S. 9.
(23) Bauman, a.a.O., S. 38.
(24) Bauman, a.a.O., S. 84.
(25) Ebd.
(26) Bauman, a.a.O., S. 37.
(27) Maaz, Hans-Joachim: Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. München 2017, S. 12f.
(28) Maaz, a.a.O., S. 150.
(29) Maaz, a.a.O., S. 147.
(30) Maaz, a.a.O., S. 152.
(31) Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin 2017, S. 71.
(32) Bauman, a.a.O., S. 71f.
(33) Bauman, a.a.O., S. 72.
(34) Maaz, Hans-Joachim: Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft. München 2017, S. 146f.