Abschied und Neubeginn

Statt Angst vor der Zukunft zu haben, die im neuen Jahr auf uns zukommt, sollten wir unsere Kräfte bündeln, um eine bessere zu gestalten.

„Time to say goodbye“ sangen vor mehr als 15 Jahren Andrea Bocelli und Sarah Brightman. Ist es bald an uns, „goodbye“ zu sagen und uns von dem zu verabschieden, was uns am Herzen liegt, von unseren Lieben, von unserem Wohlergehen, von unserer Heimat, die uns ein menschenwürdiges Leben ermöglichte? Die Kriegsherde überall auf der Welt und vor allem in der Ukraine machen Angst vor einer Zukunft, in der wir so gut wie alles werden entbehren müssen, was uns wichtig geworden ist. Aber die Zukunft ist kein unabwendbares Schicksal, sie ist gestaltbar. Wir sollten unsere Wünsche, Träume und Vorstellungen zusammenführen und — möglichst nach dem Konsensprinzip — selbst darüber entscheiden, wie wir leben wollen.

Die Vorgeschichte

Für die in der Ukraine lebenden Menschen war dieser Zeitpunkt wahrscheinlich spätestens 2022, als die Entwicklungen in dem Land so weit vorangeschritten waren, dass Russland sich genötigt sah, einen Krieg zu beginnen, einen, der sich in die völkerrechtswidrigen Kriege des noch jungen 21. Jahrhunderts einreiht (1). Die Regierung Russlands sah die Sicherheitsinteressen der eigenen Bevölkerung und die russisch-stämmischer Menschen in der Ukraine dramatisch in Gefahr.

Diese Entwicklungen in der Ukraine begannen Ende 2013. Anfang 2014 spitzten sie sich zu als bei Protesten die Gewaltanwendung der Sicherheitskräfte über 100 Todesopfer forderten. Die Berichterstattungen hierzu sind widersprüchlich (2).

Gründe des russischen Überfalls

Warum gab es den Überfall Russlands auf die Ukraine? Weil die Bevölkerung eines Landes sich auf Kosten der Bevölkerung eines anderen Landes bereichern wollte? Nein.

Wollte eine Volksgruppe alte Rechnungen aus früheren Zeiten begleichen? Wohl kaum. Die Wurzeln Russlands liegen zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dem heutigen Territorium der Ukraine. Die Ukraine und Russland sehen beide in der Kiewer Rus ihren Vorläufer. Beide haben die gleichen Wurzeln (3).

Als die Sowjetunion zerfiel, wurde auch die Ukraine, ohne dass es gewalttätiger Auseinandersetzungen bedurfte, in die Selbständigkeit entlassen. Russland sperrte sich damals lediglich gegen die NATO-Osterweiterung (4). Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 versprach die NATO nach intensivem Drängen von US-Präsident Bush trotzdem Georgien und der Ukraine die Aufnahme in ferner Zukunft (5). Warum war es nicht möglich, der Ukraine die Neutralität mit international verbrieften Sicherheitsgarantien zu schenken? Tausende Ukrainer und auch Russen wären noch am Leben.

Hat sich das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland zugespitzt, weil es Mächtige so wollten und führende Politiker sich dafür hingaben, das durchzusetzen? Um auch hier mit nein zu antworten, fehlen mir die Argumente.

Worin könnte das Interesse an einem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bestehen? Kann es ein Interesse mächtiger Kräfte an einer Schwächung Russlands geben? Wird Russland als ernstzunehmender geopolitischer Faktor gesehen?

Könnte gedeihliche Zusammenarbeit mit Russland zum beiderseitigen Nutzen den Interessen Mächtiger zu wider laufen? Die Bundesrepublik praktizierte das über Jahrzehnte mit Erfolg. Deutschland erhielt preisgünstig Rohstoffe, ein Segen für die Wirtschaft und den Wohlstand des Landes. Russland hatte im Gegenzug Zugang zu modernsten Technologien. Sanktionen gegen Russland, insbesondere durch Deutschland, setzten der gedeihlichen Zusammenarbeit ein Ende. Inzwischen verkauft Russland seine Rohstoffe an diejenigen Staaten, die das Angebot dankbar annehmen. Die modernen Technologien bekommt das Land inzwischen auch von da.

Die grundlegenden Unterschiede der Gesellschaftssysteme wie in Zeiten des kalten Krieges 1947 bis 1989 gibt es nicht mehr. Braucht man ein neues Feindbild mithilfe dessen sich die Gewinne durch Aufrüstung in neue Dimensionen treiben lassen?

Auch, dass es Begehrlichkeiten hinsichtlich der reichen Ressourcen der Ukraine gibt, ist wahrscheinlich. Ein zerstörtes Land ist eine leichte Beute, um Einfluss zu platzieren und Begehrlichkeiten durchzusetzen.

Der Wiederaufbau der Ukraine wird mit Sicherheit von den europäischen Steuerzahlern getragen werden, die Kosten für die Aufrüstung tragen sie bereits. Die Gewinne landen bei jenen, die eh schon zu den Reichsten dieser Welt gehören.

Skrupel, selbst vor dem Leid ganzer Völker und dem Sterben zahlloser Menschen, haben die Mächtigen dieser Welt zweifellos nicht. Viel zu viele Menschenleben wurden schon geopfert, um Reichtum zu mehren und Einfluss auszuweiten.

Die Eskalation geht weiter

Statt Konflikte zwischen Völkern und Volksgruppen auf der Grundlage von Verhandlungen zu beenden und mit friedenssichernden Maßnahmen deren Wiederaufflammen einzudämmen, was uns Menschen würdig wäre, werden Konflikte zugespitzt. Zahllose Beispiele allein aus der jüngsten Vergangenheit beweisen das. Ich denke hier vor allem an die Überfälle auf den Irak, auf Syrien und Libyen sowie die militärische Einmischung in Afghanistan.

In der Ukraine geschieht die Eskalation vor allem durch die Lieferung und den Einsatz immer wirksamerer Waffen. Erst kürzlich genehmigte der aktuelle amerikanische Präsident den Einsatz von US-Waffen mit großer Reichweite gegen Ziele tief im russischen Gebiet (6). Vor wenigen Tagen reiste der deutsche Bundeskanzler nach Kiew, um Rüstungslieferungen im Wert von 650 Millionen Euro zuzusagen (7). Friedenstiftende Maßnahmen sehen anders aus.

Der Eskalierung folgen Gegenschläge — gemäß der Kriegslogik. In der Folge spitzt sich die Situation zu. Die möglichen Konsequenzen werden immer wahrscheinlicher, unkalkulierbarer und gefährlicher. Soll das Hilfe für die Ukraine sein?

Liefert Deutschland auch noch Taurus-Raketen und sorgt es für deren Einsatz, wird unser Land immer mehr zur Kriegspartei und damit zum potenziellen Ziel von Gegenschlägen. Wie diese aussehen werden, lässt sich bestenfalls erahnen. Leider treffen solche militärischen Maßnahmen vor allem jene, die an den Entwicklungen keine Schuld tragen. Die, die es treffen sollte, bleiben unversehrt.

Meine Sorge ist riesig, dass auch Menschen aus unserem Land durch Gegenschläge leiden müssen oder gar all den Wahnsinn mit ihrem Leben bezahlen müssen. Dass unter den Opfern auch meine Familienangehörige sind, wage ich nicht zu denken. Immer mehr Menschen, die ich kenne, haben Angst vor dem, was auf sie zukommen könnte, worauf die deutsche Politik kriegsbetrunken zusteuert.

Nie wieder Krieg

Wo ist er hin, der Grundsatz, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf.

„Am 20. Oktober 1971 gab das Nobelpreis-Komitee in Oslo bekannt, dass es Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis für das Jahr 1971 zugesprochen hat. Mit dieser Auszeichnung würdigte das Komitee vor allem Brandts Bemühungen, durch eine neue Ostpolitik die Verständigung der Bundesrepublik Deutschland mit ihren östlichen Nachbarn herbeizuführen und den Frieden in Europa sicherer zu machen“ (8).

Die deutsche Friedenspolitik, die auf Völkerverständigung und Friedenssicherung ausgerichtet war, scheint vom Winde verweht.

Dass sich an der aktuellen Politik etwas ändert, schien noch vor wenigen Wochen aussichtslos. Inzwischen ist in den USA ein neuer Präsident gewählt, der Bundeskanzler unseres Landes beabsichtigt, die Vertrauensfrage zu stellen. Erhält er das Vertrauen nicht zugesprochen, stehen zeitnah Neuwahlen an (9).

Dass in der Bundesrepublik grundlegende Kursänderungen in naher Zukunft vollzogen werden, ist nicht mehr ausgeschlossen. Dass der neue amerikanische Präsident Veränderungen in der Welt bewirkt, ist ebenfalls nicht unwahrscheinlich. Dass Deutschland seine politischen Probleme, innen- und außenpolitisch, selber lösen muss, erscheint jedoch sicher.

Die militärischen Auseinandersetzungen mit Russland können nur ein Akt Wahnsinniger sein. Allein ein Blick auf die Landkarte zeigt, Russland ist nicht auslöschbar. Also kann es nur ein vernünftiges Miteinander geben, das auf einer gemeinsamen europäischen Friedenslösung basiert. Russland ist Teil Europas!

Was wir wollen

Es reicht nicht, gegen das Bestehende zu sein. Wenn wir nicht wissen, was wir stattdessen wollen, bekommen wir, nachdem das Alte zerschlagen ist, irgendetwas. Dass das noch schlimmer ist als das Alte, ist nicht ausgeschlossen.

Eine neue Ausrichtung der Politik in unserm Land, wie könnte sie wohl aussehen?

Schon vor Jahren schrieb ich:

Du kannst die Zukunft haben, die auf dich zukommt, oder die, die du mitgestaltet hast.

Welche Merkmale würden die Welt von morgen, die wir mitgestaltet haben, wohl kennzeichnen? Wäre es eine wahrhaft lebenswerte Gesellschaft? Die Vorstellungen von der Welt von morgen sind wahrscheinlich so vielfältig wie die Menschen. Worauf könnten wir uns einigen? Und wie sollte es gelingen, diese Zukunft auch zu gestalten?

Die Merkmale einer menschenwürdigen Zukunft können wir uns nur erschließen, wenn wir das zusammentragen, was für jeden Einzelnen von Bedeutung ist. Dabei können wir von unseren Bedürfnissen und unseren ideellen Werten ausgehen. Ich kann mir vorstellen, dass wir uns hierzu relativ schnell verständigen können. Komplizierter würde es wohl, wenn es darum geht, uns über die Wege zu einigen, die Strategien, die die Erfüllung unserer Bedürfnisse ermöglichen und die Einhaltung unserer Werte sichern.

Den Weg, um diese Herausforderungen zu meistern, stelle ich mir spannend vor. Der Lohn könnte eine Welt sein, in der für jeden Wohlergehen möglich ist, in der jeder ein sinnvolles und erfülltes Leben führen kann.

Nach Marschall B. Rosenberg, ein US-amerikanischer Psychologe, haben alle Menschen auf der Erde das gleiche Bedürfnisspektrum. Allein welche Bedürfnisse gerade im Vordergrund stehen, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Streitigkeiten auf der Ebene der Bedürfnisse gibt es nicht. Sie können nur auf der Ebene der Strategien entstehen.

Meine Bedürfnisse, deren Erfüllung mir gegenwärtig besonders wichtig ist, sind Frieden und Gesundheit. Sind diese Bedürfnisse nicht erfüllt, ist alles andere nichts.

Wichtig sind mir außerdem Freiheit, Selbstbestimmung, Wirksamkeit und Familie. Werte, von denen ich mich leiten lasse, sind vor allem: Gewaltlosigkeit, Mitmenschlichkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit.

Ich schreibe Artikel, um Menschen dabei zu unterstützen, zu wachsen, um mich für den Frieden auf der Welt einzusetzen, um wirksam zu sein.

Toll wäre es, wenn sich viele Menschen daran beteiligen, ihre Bedürfnisse, Werte und Strategien zusammentragen und anstreben, um sich auf gemeinsame Nenner zu einigen. Dabei geht es nicht darum, Kompromisse zu finden, bei denen jeder angehalten ist, Abstriche hinzunehmen. Es geht darum, dem Konsens so nah wie möglich zu kommen. In einen Konsens fließt möglichst viel von dem ein, was für jeden einzelnen Beteiligten wichtig ist.

Eine hierfür geeignete Methode wird systemisches Konsensieren genannt (10). Bei dieser Methode ist nicht die Zahl der Zustimmungen entscheidend, sondern es sind die geringsten Einwände.

Mich von dem zu verabschieden, was mir wichtig ist, will ich nicht akzeptieren. Mich dafür einzusetzen, dass das nicht nötig ist, ist mir ungemein wichtig. Wenn auch die Leser meiner Zeilen so denken und handeln, wäre ich dafür sehr, sehr dankbar. Packen wir es an!

Damit wir uns in die Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft einbringen können, braucht es jetzt vor allem Menschen, die vorangehen.

Ich möchte mit dem Gruß der Bergleute enden: Glück auf!