Absage an Tyrannei
Die Missachtung familiärer Bindung ist Gradmesser für das Ausmaß autoritärer Herrschaft.
Die Anti-Corona-Politik hat Kontakte rigoros untersagt — sogar zu Sterbenden am Totenbett und Verstorbenen bei Beerdigungen. Menschliche Loyalität wurde nahezu vollständig außer Kraft gesetzt. Sophokles brachte bereits vor circa 2.500 Jahren mit der „Antigone“ eine solche Horrorvision auf die Bühne: Ein autoritäres Regime vermag persönliche Bindungen komplett auszuhebeln. Das Stück ist in größter Klarheit eines der ältesten Plädoyers für eine gegenteilige Gesellschaftsverfassung: die Demokratie. Der griechische Dichter hat darin — wie im „König Ödipus“ — raffinierte Widersprüche versteckt, die bis in die heutige Zeit zum Teil noch nicht wahrgenommen worden sind. Es ist Zeit, sich den Text wieder genauer anzuschauen.
Vorgeschichte
Der hier bereits vorgestellte König Ödipus hatte mit seiner Mutter Iokaste vier Kinder gezeugt: Zwei Söhne und zwei Töchter.
Nachdem er sein Königsamt aufgeben musste, übernahm Iokastes Bruder Kreon für die minderjährigen Söhne das Zepter. Mit ihrer Volljährigkeit sollten sie dann selbst den Thron besteigen. Sie beschlossen, sich mit dem Regieren jedes Jahr abzuwechseln. Eteokles durfte beginnen. Ihm gefiel das Herrschen jedoch so gut, dass er nicht mehr zurücktreten wollte. Er vertrieb seinen Bruder Polyneikes kurzerhand aus der Heimat. Der wiederum heiratete in der Fremde eine Königstochter und erschien mit dem Heer seines Schwiegervaters und den Truppen von sechs verbündeten Stammesfürsten eines Tages vor Theben, um von Eteokles sein Recht einzufordern (1).
Nachdem sich in einer blutigen Schlacht lange kein Sieg für eine der beiden Parteien abzeichnete, beschlossen die Brüder, in einem Zweikampf die Sache zu entscheiden. Da sie sich hierbei gegenseitig töteten, flammte das Gemetzel erneut auf, bei dem die Thebaner, die ihre Waffen während des Duells nicht abgelegt hatten, dann haushoch triumphierten.
Schuldfrage
Wie ist das nun, wenn jemand ein Heer gegen seine alte Heimat führt, um sein Recht einzufordern? Durfte Polyneikes hier mit militärischer Gewalt vorgehen? Egon Flaig, Professor für alte Geschichte, hat das entschieden verneint (2). Er übersieht dabei jedoch, dass in einem Stück des Euripides zu demselben Brüderstreit — „Die Phönikerinnen“ — drei verschiedene Personen, darunter auch Antigone, unabhängig voneinander bekunden, dass sich Polyneikes im Recht befinde (3). Zu diesem Dilemma wurde also bereits in der Antike deutlich Stellung bezogen. Auch in dem Stück „Antigone” selbst (4, 5) ist unschwer herauszulesen, dass Polyneikes Verständnis verdient.
Antigone, die in der Eingangsszene kurz nach dem Ende des Schlachtens auf ihre Schwester Ismene trifft, ist sich der Unschuld ihres Bruders Polyneikes jedenfalls klar bewusst. Kreon jedoch, der erneut zum Herrscher aufgerückt ist, hat für ihn ein Bestattungsverbot erlassen. Ismene hat davon zwar noch nichts gehört, will sich aber auch keinen Fall dagegen auflehnen. Antigone ist spürbar entsetzt, wie leicht ihre Schwester — aus lauter Angst vor Bestrafung durch den Herrscher — die grundlegendsten Verpflichtungen familiärer Bindung preisgibt.
Der Ältestenrat der Stadt
Der Ältestenrat in diesem Theben ist nun einberufen worden. Er besingt fröhlich den Sieg über die Angreifer und wähnt seine Stadt dabei in göttlicher Gunst. Er wirkt reichlich naiv und unreflektiert: Die Schuldfrage wird nicht thematisiert. Der Rat zeigt auch keinerlei Trauer über den Tod der jungen Könige. Nachdem er von dem hinzugekommenen Kreon für seine bisherigen Dienste für Laios, Ödipus und seine Söhne gelobt worden ist, bekommt er von Kreon — als Nachfolger — die Vertrauensfrage gestellt.
Bezeichnend ist, dass Kreon, der den Rat jetzt erstmals über das Bestattungsverbot für Polyneikes unterrichtet, hier die Alten vor vollendete Tatsachen stellt.
Ihn interessiert offenbar gar nicht, was das angeblich „hoch verdiente“ Gremium dazu zu sagen hat. Und er reflektiert auch mit keiner Silbe, ob denn seine Maßnahme tatsächlich dem Frieden, der Gerechtigkeit oder dem Wohl des Volkes dient.
Ratzfatz hat Kreon den Senat zu einem Haufen von Statisten herabgestuft. Dieser gesteht dem neuen Herrscher unterwürfig die Nichtbestattung zu — und wird sogleich von dem Tyrannen zur Mitwirkung verpflichtet. Das scheint dem Rat zwar unangenehm zu sein, aber er setzt sich nicht zur Wehr. Flugs rutscht der ehemalige Beraterstab in die Rolle eines willfährigen Erfüllungsgehilfen.
Kreon
Kreon betont in seinen ersten Worten, wie sehr doch Theben im Moment in der Gunst der Götter stehen muss. Somit ist seine Herrschaft also Gotteswerk. Würde er in dieser Thronrede erwähnen, dass sein Vorgänger leider den eigenen Bruder verraten und damit den Anlass zu diesem blutigen Krieg gegeben hatte, dann wäre natürlich die feierliche Stimmung bei Kreons Amtsantritt im Eimer.
Er sei fest gewillt, so Kreon, an seinen „besten Entschlüssen“ festzuhalten — natürlich nur zum Wohle des Vaterlands. Vollmundig verkündet er noch: „Ich schweige niemals, wenn ich statt des Heils das Unheil meinem Volke nahen sehe, (...)“ — doch der weitere Verlauf wird dies als pure Propagandalüge entlarven.
Ein Wächter und der erste Bestattungsversuch
Nun betritt ein Soldat die Bühne, der mit anderen bei dem Leichnam des Polyneikes Wache halten sollte, damit niemand ihn bestatten würde. Dieser lächerliche Wicht ist der typische Handlanger eines autoritären Regimes, ein ängstlicher Schwätzer, der den Launen seines Herrschers am liebsten aus dem Weg gehen würde, sich aber auch gewitzt und dreist auf den eigenen Vorteil bedacht zeigt. Umständlich windet er sich, bevor er damit herausrückt, dass es einen Versuch gab, Polyneikes zu bestatten. Er nennt die Sache ein „bedenklich Wunder“: Man habe plötzlich eine dünne Bedeckung des Leichnams mit Sand festgestellt, dabei jedoch keinerlei Spuren gefunden. Seither habe auch keine weitere Schändung des Leichnams durch Tiere stattgefunden.
Der Ältestenrat gibt sofort zu bedenken, „ob nicht gar ein Gott dies Werk betrieb“. Doch das ruft nur Kreons Zorn hervor: Die Götter hätten mit dem Angreifer nie und nimmer Mitgefühl! Er vermutet vielmehr Bestechung. Und er zeigt sein ganzes Potential an Brutalität: Wenn die Wächter ihm nicht bald den Täter bringen, dann wird er sie foltern lassen:
„Lebend lass ich euch hängen, bis den Frevel ihr gesteht.“
Mit dieser Drohung wird der Wächter fortgeschickt. Ein probates Mittel autoritärer Herrschaft: Man beschuldigt jemanden, der dann seine Unschuld beweisen muss. Das wird den Betroffenen motivieren, andere zu denunzieren.
„(…) nichts ungeheurer als der Mensch“
Nun folgt ein Chorlied:
„Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.“
Menschliche Leistungen werden gerühmt: Das Befahren der Meere — gegen Sturm und Wellen, das Beackern und Bepflanzen der Erde, das Einfangen von Vögeln und Fischen mit Netzen, das Zähmen und Unterjochen von Pferd und Stier, die Entwicklung von Sprache, Denken, Staatenbildung, Behausung — als Schutz vor schlechter Witterung. Und:
„Aus früher unbezwinglichen Krankheiten ersann er sich ein Entrinnen. (…) [Er] schreitet bald zum Bösen, bald zum Guten. Ehrt er die Gesetze des Landes und das bei den Göttern beschworene Recht: Hoch geachtet in der Stadt! Kein rechter Bürger aber ist, wem das nicht Gute sich verbindet um tollkühnen Handelns willen! Weder am Herd sitze mit mir noch sei mir Gesinnungsgenosse, wer solches tut.“
Im Hinblick auf den Ablauf des Stückes lässt sich das Chorlied als Analogie verstehen: Was der Mensch mit der Natur macht, das macht er auch mit seinesgleichen. Tyrannen halten ihren Kurs — selbst bei Gegenwind und hohen Wellen, säen ihre Gedanken und Pläne in die beackerte Menge, die dann dort verwurzeln, fangen massenhaft Menschen in ihren Netzen ein und vermögen selbst die stärksten und edelsten Persönlichkeiten unter ihr Joch zu zwingen. Aber auch hiergegen gibt es Heilmittel — die Sprache, das Denken, die Staatsform Demokratie. Eine dieser besonderen, in Athen ersonnenen Schutzmaßnahmen war das „Scherbengericht“ — siehe unten.
Wenn der Ältestenrat am Ende so vollmundig verkündet, er würde das Götterrecht achten und niemals gemeinsame Sache mit Verbrechern machen, dann erweist sich das im Stück als hohle Phrase: Kreon wird sich als widerlichster Bösewicht erweisen — und der zahnlose Ältestenrat wird nur dumm gaffend daneben stehen und den Tyrannen in all seinen Verbrechen willfährig absegnen, während er für Antigone und Haimon, die offen widersprechen, nur blöde Phrasen übrig hat.
Antigones Verhaftung
Der bekannte Wächter bringt nun Antigone herbei und berichtet, wie er sie bei einem zweiten Bestattungsversuch ergriffen hat. Erneut war ihr Handeln von übernatürlichen Zeichen — einem plötzlich anhebenden Wirbelsturm — begleitet. Der Wächter ist von dem ursprünglichen Verdacht der Bestechlichkeit und Mittäterschaft befreit, da Antigone ohne Umschweife gesteht. In einem packenden Dialog bietet sie ihrem autoritären Onkel und Schwager mutig die Stirn, der dabei seine ganze Kleingeistigkeit offenbart. Dem Ältestenrat fällt in dieser Situation nichts Besseres ein, als diese mutige, selbstbewusste junge Frau zu kritisieren:
„Des Vaters trotzige Art verrät das Kind, dem Unglück sich zu beugen weiß sie nicht.“
Kreon fühlt sich durch Antigone sogleich in seiner Männlichkeit angegriffen:
„Wenn sie sich ungestraft das leisten darf, bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!“
Erneut beschuldigt Kreon willkürlich und ohne jeglichen Anhaltspunkt eine Unschuldige: Antigones Schwester Ismene. Ihre Verhaftung wird angeordnet. Durch Sippenhaft soll offenbar Antigone zusätzlich für ihren mutigen Widerstand bestraft werden.
Antigone bekennt sich vor Kreon erneut zu ihrer Handlung und verweist darauf, dass auch die umstehenden Menschen ihr zustimmen würden, wenn sie nicht vor lauter Angst ihren Mund halten würden. Kreon wirft ihr Eigensinn und Frevel vor. Als nun Ismene hinzukommt, bekennt sich diese halbherzig — und offensichtlich grundlos — ebenfalls zu der Bestattung des Bruders. Ihr Bekenntnis wird jedoch — zu Recht! — sofort von Antigone zurückgewiesen:
„Dazu hast du kein Recht! Du wolltest nicht, allein hab ich‘s getan. (…) ich mag nicht Liebe, die mit Worten liebt.“
Kreon lässt wenige Sätze später beide Schwestern abführen mit dem Vorsatz, an ihnen unterschiedslos das Todesurteil vollziehen zu lassen.
Haimon — Kreons Sohn und Antigones Verlobter
Nun tritt Haimon hinzu. Kreon versucht hier sofort, seinem Sohn eine Entscheidung aufzuzwingen: Liebe zum Vater oder Liebe zur Verlobten Antigone? Geschickt antwortet Haimon, dass er seinen Vater über alles liebe — wenn er ihn auf „rechtem Weg“ leite. Kreon ergeht sich ausführlich über gehorsame und ungehorsame Kinder. Antigone ist für ihn eine ruchlose Verbrecherin. An dem Todesurteil hält er fest.
„Wen sich das Volk erkor, dem gilt‘s zu folgen im Kleinsten — ob gerecht, ob ungerecht.“
Er fordert also Unterordnung um jeden Preis — auch im Unrecht! Der Ältestenrat pflichtet unterwürfig bei:
„Trügt uns das Alter nicht, so scheint es uns, verständig war das Wort, das du [Kreon] gesprochen.“
Da diese erbärmliche Truppe ja schon drei Herrschergenerationen gedient hat, wird deren Alter zwangsläufig gewaltig gewesen sein und damit wohl auch ganz erheblich getrogen haben. Souveränität klingt jedenfalls anders.
Haimon weist Kreon darauf hin, dass das Volk eindeutig mit Antigone sympathisiert und er seinem Vater eigentlich nur einen Gefallen tun will, ihn von dieser Stimmung — die er unmittelbarer als Kreon mitbekommt — zu unterrichten. Er beteuert aufrichtig und glaubhaft, nur das Glück seines Vaters im Sinn zu haben und gibt Beispiele, wo ein Nachgeben Vorteile bringt. Der Ältestenrat vermeidet auch hier in seiner typischen Art eine klare Stellungnahme:
„Herr! Trifft sein Wort, ziemt dir, darauf zu hören — und dir auf ihn, denn beide spracht ihr gut.“
Kreons Anspruch auf Alleinherrschaft
Das bringt Kreon nun so richtig in Rage. Es ergibt sich ein Dialog, bei dem er seine autoritäre Fratze enthüllt, während sich Haimon als aufrichtiger Demokrat erweist:
Haimon: „Verrat zu ehren, das verlang ich nicht!“
Kreon: „Ist sie [Antigone] denn nicht verseucht von diesem Übel?“
Haimon: „Das Volk von Theben sagt einmütig: Nein!“
Kreon: „So sagt das Volk mir, was ich soll befehlen?“
Haimon: „Sieh doch, nun sprachst du allzu jugendlich!“
Kreon: „Soll ich für andre als für mich hier herrschen?“
Haimon: „Das ist kein Staat, der einem nur gehört.“
Kreon: „Gilt nicht der Staat als Eigentum des Fürsten?“
Haimon: „Allein herrschst du am besten in der Wüste. (…)“
Kreon: „Weibshöriger! Geh mir mit dem Geschwätz!“
Haimon: „Du willst nur reden, gar nicht reden lassen.“
Kreons undemokratisches Gehabe ist hier überdeutlich: Die Gedanken der Mehrheit des Volkes interessieren ihn nicht. Er sieht den Staat als sein Eigentum, über das er frei entscheiden will, und ist völlig unzugänglich für Argumente.
Als er nun befiehlt, Antigone vor Haimons Augen zu töten, verlässt dieser die Szene. Für solch eine entwürdigende Inszenierung gibt er sich nicht her.
Als kleines Zugeständnis an den Ältestenrat nimmt Kreon nun doch noch Abstand vom Todesurteil gegen Ismene. An dem Urteil gegen Antigone hält er jedoch fest. Sie soll lebendig in einer Höhle eingemauert werden. Mit ekligem Sarkasmus verlässt er die Szene:
„Dort mag sie Hades, ihren einzigen Gott, anflehn, vielleicht erlässt er ihr das Sterben.“
Das Eros-Lied und die Vorbereitung der Hinrichtung
Der Ältestenrat besingt nun die Macht des Eros, der über Menschen und Götter gleichermaßen triumphiere. Das soll offenbar heißen: In Haimons Loyalitätskonflikt habe allein Eros zu Gunsten Antigones und zu Ungunsten Kreons entschieden. Der rückgratlose Rat stellt sich dumm und tut so, als hätte er Haimons Argumente nicht verstanden. Als Antigone nun abgeführt werden soll, kommen dem Rat — Kreon ist gerade abwesend — noch kurz die Tränen. Mit wohlklingenden Phrasen begleitet er Antigone zur Hinrichtung:
„Gepriesen doch und in Fülle des Ruhms gehst du hinweg ins Verborgene der Toten. (…) Und hast doch Großes erlost: Gehst unter, gerühmt wie ein Gott schon lebend und künftig im Tode.“
Antigone empfindet das — zu Recht! — als puren Hohn, den sie sogleich zurückweist:
„Weh! Ich werde verlacht! Warum, bei den Göttern der Väter, höhnst du mich Lebende, eh‘ ich dahin bin?“
Der Ältestenrat ist daraufhin beleidigt und klagt seinerseits Antigone an:
„Dein Trotz drang bis zum Letzten vor, doch an dem hohen Thron des Rechts kamst du tief zu Fall, o Kind.“
Als hätte Kreons brutale Willkür irgendetwas mit Recht zu tun! Und — nach einer weiteren Klage Antigones um ihr Schicksal — behauptet der Rat gar:
„Frommes Dienen ist Gottesdienst. Unüberschreitbar aber bleibt der Machtbefugten Machtgebot. Eigner Drang trieb dich ins Verderben.“
Welch ein Armutszeugnis für diese „Weisen von Theben“, die hier verständnislose Opferbeschuldigung betreiben.
Die Unersetzbarkeit des Bruders
Nachdem Kreon seinen Beschluss erläutert hat, Antigone mit Essensvorräten lebendig einmauern zu lassen, beklagt Antigone erneut ihr Schicksal und gibt an dieser Stelle seltsame Sätze von sich, die in der Fachwelt seit Jahrhunderten immer wieder für Irritation gesorgt haben:
„Und doch, wer klug ist, lobt, dass ich dich [Polyneikes] ehrte. Denn wär‘ ich Mutter worden, für mein Kind, für meinen toten Gatten hätt‘ ich nie der Stadt mich widersetzt mit solcher Tat. Um welcher Satzung willen sag ich das? Starb mir der Gatte, fänd‘ ich einen andern, von ihm ein Kind auch, wenn ich eins verlor. Doch ruhn im Hades Mutter schon und Vater, da kann ein Bruder niemals mehr erblühn.“
Das ist in der Tat merkwürdig unlogisch. Warum sollten wir eine Begräbnispflicht gegenüber Geschwistern verbindlicher empfinden als gegenüber Kindern oder Partnern?
Diese Argumentation hat eine Vorlage: Herodot, ein Zeitgenosse des Sophokles, berichtet aus dem Persien des 6. Jahrhunderts, dass sich ein treuer Weggefährte von König Dareios diesem gegenüber eines Tages ungebührlich verhalten hatte. Zur Strafe sollten er und alle männlichen Angehörigen der Familie getötet werden. Seine Gattin bat beim König jedoch so überzeugend um Gnade, dass er ihr überließ, einen Verwandten zu bestimmen, der am Leben bleiben dürfte. Sie erbat sich dann — mit der dargestellten Begründung — das Leben ihres Bruders. Der König, der erwartet hatte, dass sie ihren Gatten wählen würde, war von ihrer Wahl so berührt, dass er sie auch noch einen Sohn auswählen ließ.
Die Prophezeiung des Teiresias und die Wende
Teiresias tritt auf und schildert seine Beobachtungen bei den Opferhandlungen: Mehrere Zeichen deuten darauf hin, dass den Göttern die Nichtbestattung des Polyneikes missfällt. Kreon wittert sofort Verrat — der Seher sei wohl bestochen worden. Nachdem Kreon den Seher weiter beleidigt hat, nennt Teiresias erneut den Grund für die Verärgerung der Götter und die drohende Bestrafung:
„Dafür, dass einen du von denen oben hast hinabgestürzt, ein lebend Wesen ehrlos hausen lässt im Grab, hier oben aber festhältst ihn, der zugehört den Göttern drunten, des, was ihm zukommt, unteilhaftig, unbestattet, ungeweiht: den Toten!“
Im Abgang prophezeit er, dass Kreon schon bald von den Rachegeistern heimgesucht werde. Der Senat zeigt sich verängstigt durch diese Worte. Und auch Kreon scheint jetzt zum Nachgeben bereit und fragt den Rat ausdrücklich:
„Was soll ich tun? Ich will dir folgen, sprich!“
Die vermeintliche Bekehrung
Der Anstoß des Rates lautet: „Geh hin, befrei die Jungfrau aus der Gruft und gib dem Unbestatteten sein Grab!“
Kreon: „Meinst du? Bist du dafür? Nachgeben soll ich?“
Der Rat: „So rasch du kannst! Die Schar der Rachegeister ereilt die Schuldigen mit schnellem Schritt. (...)“
Kreon: „Ich eile, wie ich bin. Auf, auf, ihr Leute! Ruft auch die andern her, nehmt Äxte mit und eilt zu jener Stätte auf dem Hügel! Ich selbst, da mein Entschluss sich so gewendet, will gehn und lösen, was ich selber band.“
Ein Bote — Augenzeuge des Geschehens — berichtet nun im thebanischen Palast vor Kreons Gattin Eurydike, was dann auf dem Hügel geschah:
„Ich gab als Führer deinem Gatten das Geleit. Dort lag, erbarmenlos zerfleischt von Hunden, der tote Polyneikes immer noch. Erst flehten wir die Wegegöttin an und Pluton, Einhalt ihrem Zorn zu tun. Dann wuschen wir in heiligem Bad die Reste, verbrannten sie auf frischgebrochnen Zweigen, und schütteten ein Grab aus Heimaterde hochhäuptig auf. Dann eilten wir zur Kammer der Hadesbraut im felsgedeckten Bau.“
Hier haben wir eine ganz zentrale Schlüsselszene des Dramas vor uns.
Kreons Infamie!
Kreon tut hier so, als würde er dem Rat der Ältesten folgen, verhält sich jedoch höchst gegenteilig. Er stellt die vom Rat empfohlene Reihenfolge auf den Kopf: Zuerst wird eine höchst aufwändige Bestattung des Polyneikes ins Werk gesetzt. Wie viele Tage mag das hochhäuptige Aufschütten der Heimaterde wohl gedauert haben? Dann erst kümmert man sich um Antigones Befreiung.
Kreon heuchelt zwar in seinen Worten Reue, in seiner Handlung zeigt er aber keinerlei ehrliche Einsicht. Was für eine Infamie stellt es dar, von der Bestattung des Polyneikes ausgerechnet diejenige Person auszuschließen, die sich als einzige von Beginn an dafür stark gemacht hatte! Und die Akteure auf der Bühne machen anstandslos mit!? Bislang habe ich auch nirgendwo — weder in Fachkommentaren noch in Interpretationshilfen für Schüler und Lehrer — diesen springenden Punkt überhaupt je erwähnt gefunden. Dazu am Ende mehr.
Selbstmitleid und Feigheit
Nach der in die Länge gezogenen Trauerzeremonie für Polyneikes ist man nun auf dem Weg zu Antigones Verlies. Klagelaute von dort sind als Haimons Stimme zu identifizieren. Der Botenbericht:
„Er [Kreon] stößt die Klage aus: O Armer ich! Bin ich ein Seher? Ist mir dieser Weg der unheilvollste, den ich jemals ging? Mich lockt des Sohnes Stimme! Auf, ihr Leute, kommt näher, schnell, zur Gruft heran und zwängt euch durch den gebrochnen Mauerspalt, dringt vor zur Tür und schauet, ob ich Haimons Stimme vernehme oder ob ein Gott mich täuscht!“
In dieser höchst dramatischen Situation fällt Kreon nichts Besseres ein, als an erster Stelle sich selbst zu bemitleiden und sich obendrein noch dumm zu stellen: Wer außer Haimon sollte wohl sonst einen Befreiungsversuch unternommen haben? Und er schickt lieber die anderen vor.
In der Gruft findet man die erhängte Antigone vor. Haimon, der sie offenbar retten wollte, hält sie umklammert und klagt seinen Vater an für diesen Tod. „Der [Kreon],“ so der Bote, „als er Haimon sieht, schreit schaurig auf, dringt zu ihm vor und schluchzt und ruft: ‚O Armer, was hast du getan? Was denn nur kam dir in den Sinn? Durch welches Unglück wurdest du verstört?‘“ Haimon reagiert konsequent: Er spuckt seinem Vater ins Gesicht und zieht sein Schwert. Kreon, der armselige Feigling, flieht aus der Gruft, so dass der Sohn den beabsichtigten Vater- und Tyrannenmord nicht auszuführen vermag. Daraufhin stößt Haimon sich selbst das Schwert in die Seite und umarmt sterbend den Leichnam Antigones.
Erneut stellt sich Kreon hier dumm: Er müsste doch sagen:
„O Armer! Was hab ich getan? Was für ein Unglück hab ich über dich und euch gebracht?“
Aber nein. Fehlanzeige. Kreon übernimmt keinerlei Verantwortung für seine katastrophalen Fehlentscheidungen. Niemals. Stattdessen jammert er herum. Und feige flieht er vor der gerechten Strafe. Keinerlei Anzeichen von Einsicht und Reue.
Kreon als Opfer des Schicksals?
Kreons Gattin Eurydike zieht sich wortlos zurück. Die Umstehenden machen sich Sorgen, der Bote geht ihr schließlich hinterher. Kreon betritt mit dem Leichnam seines Sohnes die Bühne. In theatralischem Jammer behauptet er zwar, seinen Sohn getötet zu haben, schiebt aber sofort die Schuld auf ein ominöses Schicksal:
„Es ergriff mich ein Gott, schlug schwer mich aufs Haupt, trieb mich auf wilder Bahn dahin, seines Fußes Tritt stürzte mein Glück. Wehe, wehe!“
Er setzt sich erneut als das Opfer in Szene — völlig frei von jeglicher Reue. Das ganze Desaster soll also mit ihm, seinem Starrsinn und seiner Herrscherwillkür nichts zu tun haben, sondern sei das Werk eines Gottes. Kreons Verweis auf die Götter dient stets der Rechtfertigung, niemals echter Religiosität: Mal haben sie ihn in sein Amt gehoben, mal haben sie ihn — im Gegenteil — ins Unglück gestürzt. Es ist schon recht praktisch, sich in allen Wechselfällen auf solche Instanzen beziehen zu können.
Wir erfahren nun, dass sich Kreons Gattin das Leben genommen hat. Während Kreon sich jetzt auch noch für diesen Tod — scheinbar — verantwortlich erklärt, kommt ihm kein einziges Wort zu den zentralen Opfern seines brutalen Irrsinns über die Lippen: zu Antigone und Polyneikes. Sein letzter Satz lautet:
„Aufs Haupt brach mir untragbares Schicksal.“
Er ist ein ekliger Tyrann, der, wenn er tiefe Not über sein Volk gebracht hat, keinerlei Verantwortung übernimmt. Nicht etwa, dass er — tief beschämt — Amt und Würde aufgibt. Nein. Er wird unverdrossen weitermachen (6).
Ein würdeloser Ältestenrat
Die Karikatur eines Senats kommt jetzt, nachdem er sämtliche Entscheidungen Kreons mitgetragen hat, mit schlauen Sprüchen:
„Besinnung ist von den Gütern des Glücks bei weitem das höchste: Man frevle nicht gegen Göttergebot! Je größer der Stolz der Vermessenen ist, umso tiefer der Sturz, der die Untat sühnt und sie im Alter Besinnung lehrt.“
Bis zuletzt erweist sich der Ältestenrat als ein lächerlicher Haufen, der aber dann noch den moralischen Zeigefinger schwingt. Genauso funktioniert die Selbstinszenierung der Macht und ihrer Helfershelfer.
Absage an Tyrannei — Lob des Scherbengerichts
Das Stück „Antigone“ zeigt die Herrschaft eines selbstgefälligen, gottlosen, armseligen Tyrannen, der unbekümmert sein Volk ins Verderben reißt. Die groben Handlanger — wie der Wächter — machen sich in ihrer feigen Beflissenheit selbst lächerlich. Ein ganzer Senat verkommt in solcher Situation zu einem würdelosen Haufen. Auch wenn er — angeblich — niemals jemanden zum Gastfreund haben wollte, der die Gesetze des Landes oder der Götter bricht, setzt der Rat diese Absichtserklärung nicht um. Selbst in der größten Katastrophe ist Kreons Stellung unangefochten. Der Rat hat keinerlei Instrumentarium, sich gegen diesen autoritären Kerl zur Wehr zu setzen.
Logische Folge ist: Eine Tyrannei muss im Keim erstickt werden! Wenn sie sich einmal etabliert hat, kann man sie kaum wieder loswerden.
Die Gesellschaft von Theben, die Sophokles hier zeichnet, bildet den krassen Kontrast zur attischen Volksherrschaft — „Demokratie“. Ihr steht damals noch ein Instrumentarium zur Verfügung, dem Sophokles hier wohl indirekt ein dickes Lob ausspricht: das Scherbengericht. Über diese „Volksabstimmung“ konnte ein Politiker auf zehn Jahre verbannt werden, wenn er sich verdächtig machte, eine autoritäre Herrschaft errichten zu wollen.
443 vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z.) — circa ein Jahr vor Aufführung der „Antigone“ — wird ein Vertreter der Adelspartei und Gegenspieler des Demokraten Perikles, Thukydides, Sohn des Melesias, auf diese Weise verbannt. Er hatte Propaganda gegen Perikles betrieben, vor allem auch gegen den kostspieligen Bau der Akropolis. Dabei war diese Bautätigkeit als Einlösung alter Gelübde aus dem Perserkrieg gedacht, also auch Ausdruck von Ehrfurcht vor den Göttern.
Mit seinem Stück scheint Sophokles die Verbannung des Thukydides und die Absage an adelige Selbstherrlichkeit ausdrücklich gutzuheißen. Die Athener haben es zum Glück besser als die Thebaner, die tatenlos zusehen müssen, wie ein selbstgefälliger Kreon sein ganzes Volk durch sein gottloses Handeln in den Ruin treibt — so wie es uns gegenwärtig in Corona-Zeiten geschieht.
Aufforderung zu einer versöhnlichen Politik gegenüber Sparta
Die zwei zerstrittenen Brüder stehen wohl als Symbol für Athen und Sparta. Beide Städte hatten in der Zeit vor Aufführung des Stückes ihre schweren Niederlagen erlitten. Ein Friede zwischen Athen und Sparta wurde 446/45 v.u.Z. ausgehandelt, war jedoch auch umstritten. Erich Bayer schreibt:
„Dieser Ausgleich zwischen Athen und Sparta wirkt so neu, so überraschend, daß wir nicht anders können, als ihn auf eine überlegene staatsmännische Konzeption zurückzuführen, auf keine andere als die des Perikles“ (7).
Im Rahmen einer solchen Aussöhnung hatte Perikles einen panhellenischen Kongress ausgerufen, als Anregung zur Einigung der Städte des griechischen Mutterlandes. Sophokles dürfte mit seiner „Antigone“ diesen Frieden mit Sparta — als Ausdruck eines demokratischen Umgangs zwischen diesen beiden Stadtstaaten — befürwortet haben.
Widersprüche wahrnehmen und auflösen
Die Frage, wie wir mit Widersprüchen umgehen, die sich aus unterschiedlichen Bedürfnissen, Standpunkten oder Glaubensüberzeugungen ergeben, ist ein Grundthema der Demokratie: Wie gehen wir damit um, wenn uns — im wörtlichen Sinn — widersprochen wird? Wie kann ein Gesellschaftssystem zwischen solchen Widersprüchen vermitteln? Aus meiner Sicht wäre es ein Zeichen höchster Qualität einer Demokratie, wenn eine Gesellschaft in politischen Entscheidungen Widersprüche in einer Art und Weise aufzulösen vermag, dass alle ihre Mitglieder das Ergebnis ausdrücklich mittragen können.
Damit würde das Prinzip umgesetzt, dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden ist.
Ein angemessener Umgang mit einem Widerspruch besteht darin, ihn zunächst einmal als solchen anzuerkennen. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage einer plausiblen Auflösung. Die antiken Stücke dienten seinerzeit der Schulung des politischen Bewusstseins, über die solche Reflexionsfähigkeit trainiert werden konnte. Über die Jahrhunderte autoritärer Herrschaft scheint uns diese Kompetenz regelrecht abtrainiert worden zu sein.
In den Fachkommentaren und Interpretationshilfen für Schullektüre wird ein Ignorieren und Nichtauflösen von Widersprüchen vorexerziert. Wie das geschieht, will ich im Folgenden anhand von zwei zentralen Widersprüchen in der „Antigone“ darstellen. Seit Jahrhunderten sind sie weder wahrgenommen noch plausibel aufgelöst worden. Hierfür biete ich eine meines Erachtens neue Sichtweise an, die der Logik des Dramas gerecht zu werden versucht (8).
Widerspruch 1: Nicht-Bestattung von Kindern und Gatten
Natürlich ist auffällig, dass Antigone — wie oben zitiert — behauptet, sie hätte sich niemals der Anordnung zur Nichtbestattung eines Familienmitglieds widersetzt, wenn es dabei um einen Gatten oder ein eigenes Kind gegangen wäre. Dies entbehrt jeder Logik.
In Interpretationshilfen und Fachkommentaren finde ich fünf Varianten der Auflösung:
- Dieser Punkt findet keine Erwähnung (9, 10, 11).
- Die Widersprüchlichkeit wird erkannt. Es wird daraus gefolgert, dass diese Stelle unecht sei — sie stamme nicht von Sophokles. Hier wird dann gerne Goethe zitiert, der diese Auffassung vertreten hat (4, 5, 12, 13).
- Antigone findet in ihrer Verlassenheit — Ehe und Kinder bleiben ihr versagt — nur Trost in der Bruderliebe, die deshalb für sie persönlich, in ihrer Lage, höherwertig ist (14, 15, 16).
- Antigone sei in dieser Situation so sehr den Göttern entrückt, dass für sie göttliche Gebote nicht mehr zählen; sie fühlt sich dabei jetzt — aus ganz persönlichen Motiven — ihrem Bruder besonders verbunden (17).
- Die Liebe zum Bruder ist höherwertig, weil darin „Blutsverpflichtung“ liegt. Vielleicht bezeichnend, dass diese Argumentation aus dem Jahr 1937 stammt. Dabei ist sie per se unsinnig, denn auch bei Kindern wäre eine „Blutsverpflichtung“ gegeben (18).
Meine Deutung
Dass in einer Aussage jede Logik offensichtlich fehlt, kenne ich aus meiner psychotherapeutischen Praxis. Unlogische Erzählungen machen mich stutzig und lassen mich besonders nach der tieferen Bedeutung dieser Stelle für die betroffene Person fragen. Und genauso geschieht es wohl im antiken Theater: Die Aufmerksamkeit des Publikums wird besonders auf diese Stelle gelenkt. Die Hervorhebung eines geschwisterlichen Verhältnisses lässt sich aus meiner Sicht am ehesten als Verweis auf die „geschwisterliche Beziehung“ zwischen Athen und Sparta verstehen.
Sophokles wirbt meines Erachtens — symbolisch — für eine tragfähige Bindung Athens zu einer Stadt aus dem eigenen Mutterland — Sparta. Dieser Stadt gegenüber habe man höhere Verpflichtungen. Wenn es um Konflikte mit irgendwelchen Kolonien oder Bündnispartnern ginge, dann bräuchte man sich nicht um jeden Preis um Loyalität zu bemühen. Aber bei einer Stadt wie Sparta, die demselben Mutterland entstammt, da müsse man das unbedingt tun. Nebenbei: Dass es zu dem Brüderstreit gekommen sei, dazu habe man selbst etliches beigetragen: Man habe selbst seinerzeit Sparta/Polyneikes zunehmend aus dem attischen Seebund herausgedrängt.
Widerspruch 2: Reihenfolge von Bestattung und Befreiung
Als Kreon scheinbar dem Rat der Alten folgt und einerseits das Bestattungsverbot für Polyneikes und andererseits die Einmauerung Antigones aufheben will, sind theoretisch drei Varianten der Erledigung dieser Aufgaben denkbar:
A) Zunächst wird Antigone befreit und dann Polyneikes bestattet.
B) Zunächst wird Polyneikes bestattet und dann Antigone befreit.
C) Beide Handlungen werden parallel ins Werk gesetzt.
Bereits Teiresias bringt in eine Reihenfolge, was den Göttern missfalle: an erster Stelle die Einmauerung Antigones und dann die Nichtbestattung des Polyneikes. Der Chor empfiehlt die Rücknahme der Anordnungen in derselben Reihenfolge. Das ist logisch. Niemand würde bei einem schweren Autounfall zunächst die Toten bergen und bestatten, bevor man sich um die Überlebenden kümmert. Variante A) würde auch Antigones Teilnahme an der Bestattung ermöglichen. Und das Ende des Stückes unterstreicht: Es wäre gut gewesen, sich an diese Empfehlung zu halten. Kreon handelt jedoch nach Variante B). Variante C) wird laut eindeutigem Augenzeugenbericht nicht umgesetzt.
Wie aber gehen Interpretationshilfen und Fachkommentare mit dieser Stelle um? In der von mir zitierten Literatur finden sich verschiedene Varianten, wie dieser Widerspruch zwischen der Handlungsempfehlung des Rates und der Umsetzung durch Kreon aufgelöst wird:
- Es wird ziemlich unkonkret gelassen, worum es geht: „[Kreon] verfällt jetzt in Angst und Schrecken, erkennt seine Frevel und drängt auf Wiedergutmachung und Rettung: ‚(…) ich band sie selbst, und so befrei’ ich sie auch selbst‘“ (12).
- Der Widerspruch wird eliminiert, indem ein Teil des Auftrags einfach weggelassen wird: Es ist nur von Antigones Befreiung die Rede — „Kreon läßt sich umstimmen und beschließt, Antigone zu befreien, doch es ist zu spät“ (5, 10). Oder es wird nur von Polyneikes’ Bestattung gesprochen: „Nachdem der Chor ihm den Rat gegeben hat, Polyneikes zu bestatten, (...)“ (11).
- Eine Synthese dieser beiden Varianten besteht darin (16), dass Befreiungsbemühungen und Bestattung völlig isoliert voneinander benannt werden: „Das Bestattungsverbot erweist sich als Frevel gegen die Götter.“ Dass Teiresias die Einmauerung Antigones ebenso zu dem Frevel hinzugerechnet hatte, wird an dieser Stelle zunächst verschwiegen. Danach wird jedoch auf einmal genau dies in den Mittelpunkt gerückt: Die Missbilligung der Bestrafung Antigones habe Kreon Angst gemacht — ohne dass dessen Bestattungsverbot noch mit einer Silbe erwähnt würde: „Daher rührt die Eile, mit der er Antigone persönlich befreien will.“ Und dann: „Ein Bote erscheint und schildert den Gang zur Grabkammer, zu der Kreon zu spät kommt, (...)“. Dass dabei der Bote zunächst ausgiebigst die Bestattungsvorgänge schildert, bevor er überhaupt von den Befreiungsbemühungen für Antigone berichtet, wird von Flashar verschwiegen. Gefangenenbefreiung und Totenbestattung werden von ihm also gar nicht ins Verhältnis zueinander gesetzt. Die Spannung, die sich aus der Frage nach der optimalen Reihenfolge der Rücknahme von Kreons Anweisungen ergibt, wird ausgeblendet.
- Beide Aufgaben werden benannt und es wird behauptet, Kreon habe dem zugestimmt: „Kreon nimmt den Rat nun an“ (9). Kreon beschließe, dem Anraten des Chores zu folgen (14). Kreon gebe nach und sei bereit, die Ratschläge des Chorführers anzunehmen (17) oder Kreon zeige Einsicht (17). Der Widerspruch, der sich ergibt aus der Reihenfolge der Ausführung, wie sie der Rat empfiehlt und wie Kreon sie umsetzt, wird auch auf diese Weise erfolgreich ausgeblendet.
- Der Widerspruch wird dadurch aufgelöst, dass — fälschlich — die Empfehlung des Chores an das angepasst wird, was der Handlungsverlauf erweist: „der Chor (…) empfiehlt, so schnell wie möglich die Bestattung vorzunehmen und Antigone zu befreien“ (13).
- Es kann auch der Handlungsverlauf der Empfehlung des Chores angepasst werden: „Die Befreiung Antigones und die Bestattung Polyneikes’ werden nun zum Wettlauf mit der Zeit, den Kreon verliert, weil (...)“ (14). Von einem „Wettlauf mit der Zeit“ kann nur sinnvoll in Beziehung auf die Befreiung Antigones gesprochen werden. Bei dem toten Polyneikes ist kein solcher „Wettlauf“ geboten. In dem einzig sinnvollen „Wettlauf“ um Antigones Leben hat jedoch Kreon selbst wohl sehr bewusst mit der vorgezogenen Bestattung des Polyneikes eine markante Verzögerung eingebaut. Damit ist es eben kein „Wettlauf“ mehr — obwohl Kreon wortreich Eile vortäuscht. In eine ähnliche Richtung weist der schon unter 3. zitierte Satz: „Daher rührt die Eile, mit der er Antigone persönlich befreien will“ (16). Die zuverlässige Schilderung des Handlungsablaufs durch den Boten beweist, dass Kreon keinerlei Eile in Bezug auf die Befreiung Antigones gezeigt hatte. Dabei wäre dies an erster Stelle geboten gewesen, schon allein um ihr — als der Würdigsten von allen — eine Teilnahme an den Bestattungsfeierlichkeiten in der ersten Reihe zu gewährleisten.
- Die zwei Handlungsstränge — Befreiung und Bestattung — werden getrennt: „Die Szene endet mit dem Beschluss, zunächst Antigone zu befreien und die Bestattung der Leiche den Dienern zu überlassen“ (14). Oder: „(…) so daß er in Hast, die über ihre eignen Ausdrücke aufgeregt fortstolpert, feierliche Bestattung für Polyneikes anordnet und selbst davoneilt, um Antigone, die in der Felsenhöhle lebendig Eingemauerte, zu befreien“ (18). Selbst dann, wenn Kreon seine Absicht so formuliert haben sollte, dann hieße das keineswegs, dass er es auch so in die Tat umgesetzt hatte. Für das, was tatsächlich passiert, haben wir einen völlig glaubwürdigen Zeugen: den Boten. Und dieser war — wie Kreon — zunächst bei der Bestattung und dann bei der „Befreiung” anwesend.
- Die Bedeutung dieses Widerspruchs wird geleugnet: Kreon gehe zwar zunächst zur Bestattung des Polyneikes, aber das habe nichts damit zu tun, dass er zur Befreiung Antigones zu spät kommt — das habe wohl ein Dämon bewirkt (15).
- Eine Deutung aus dem Jahr 1937, der Zeit des tausendjährigen Reiches, lobt und bestätigt Kreons autoritäres Vorgehen. Er wollte zwar eigentlich zunächst Antigone befreien, hatte dann jedoch — aus reiner Gottesfurcht — beschlossen, zunächst Polyneikes zu bestatten. Denn schließlich hätten die Götter ja — angeblich — nur die Nichtbestattung des Polyneikes missbilligt (18). Die Widersinnigkeit seiner Argumentation scheint Weinstock nicht zu bemerken: Wie sollten die Götter zwar an der Nichtbestattung des Polyneikes Anstoß nehmen, nicht jedoch den Justizmord an derjenigen beanstanden, die sich als einzige mit ihrem Leben von Anfang an dafür eingesetzt hatte? Hinzu kommt, dass Teiresias ausdrücklich die Verärgerung der Götter an erster Stelle mit der Einmauerung Antigones begründet. Man sieht, wie absurd die Deutungen von Fachleuten ausfallen können, wenn sie sich an bestehende politische Verhältnisse anpassen.
Meine Deutung
Kreons Vorgehen — gegen jede Logik und gegen die sowohl von Teiresias als auch vom Rat ausdrücklich genannte Reihenfolge — beweist, dass er — bis zu allerletzt! — ohne jegliche Einsicht geblieben ist. Nie im Leben würde er ertragen, bei einer Bestattungszeremonie Seite an Seite mit einer herzlichen, loyalen, liebevollen Antigone zu stehen, neben der seine ganze erbärmliche, brutale, selbstgefällige Gottlosigkeit für alle BürgerInnen offenbar würde. Kreon bleibt mit seinen Beschlüssen tyrannisch und selbstherrlich — selbst gegen offenbarten Götterwillen. Mit allen Mitteln möchte er die Befreiung Antigones hinauszögern oder gar vereiteln. Gut vorstellbar, dass er in der aufwändigen Hektik bei Polyneikes’ Bestattung ein paar Getreue zur Seite nimmt und ihnen zuraunt:
„Ihr geht sofort zum Verlies von Antigone und beseitigt diese Schlampe! Aber lasst es wie Selbstmord aussehen!“
Er will auf Biegen und Brechen am Ruder bleiben. Das ganze katastrophale Ende nimmt er dann ja noch nicht einmal zum Anlass, von seinem Amt zurückzutreten.
Aufforderung zu kritischem Bürgerbewusstsein
Sophokles propagiert eine demokratische Gesellschaftsform mit mutigen und kritischen Bürgern. Sie sollen — wie Antigone — autoritären, selbstbezogenen Herrschern die Gefolgschaft verweigern. Dazu passt, dass der kluge Perikles anlässlich einer Grabrede einmal gesagt haben soll (19):
„Wir leben in einer Staatsverfassung, (…) [deren] Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. (…) Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mitglied desselben halten. Unser Volk selber trifft Entscheidungen oder sucht das rechte Urteil über die Dinge zu gewinnen, und wir sind der Meinung, dass Worte die Taten nicht beeinträchtigen, dass es vielmehr ein Fehler ist, wenn man sich nicht durch Worte belehren und unterrichten lässt, bevor man, wenn nötig, zur Tat schreitet. Denn auch das ist ein Vorzug unserer Natur, dass wir den höchsten Wagemut mit sorgfältigsten Überlegungen des zu Unternehmenden vereinigen (...).“
Auch in der aktuellen Corona-Krise hätte solch eine Offenheit für Belehrung durch eine Vielzahl kritischer Wissenschaftler die Qualität der Entscheidungen deutlich verbessert. Aber das läuft in der aktuellen Politik — wie in Theben unter Kreon — völlig anders.
Widerspruch wird bei dieser Regierung radikal ausgeblendet und ist offenbar unerwünscht. Das ist ein überaus kritisches Zeichen für den Zustand unserer formal existierenden „Demokratie“.
Unsere moderne Gesellschaft könnte womöglich ein Heilmittel des alten Athens übernehmen: die Praxis des Scherbengerichts. Das wäre eine von vielen grundlegenden Neuerungen zur Stärkung demokratischer Prinzipien, derer sich eine neue Partei wie WIDERSTAND2020 annehmen könnte.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Euripides beschreibt in den „Phönikerinnen“, wie Polyneikes seinen Bruder bis zuletzt in einem Zwiegespräch — vergeblich — darum bittet, sich doch an die Absprache zu halten.
(2) Egon Flaig: „Ödipus — tragischer Vatermord im klassischen Athen“, 1998, Verlag C.H. Beck, München, S. 37 f.
(3) Klaus Schlagmann: „Ödipus — komplex betrachtet“, 2005, Eigenverlag, Saarbrücken, S. 274 ff.
(4) Sophokles: „Antigone“. Übersetzt von Wilhelm Kuchenmüller. Reclam, Stuttgart, 1994.
(5) Mario Leis, Nancy Hönsch (Hg.): Sophokles — Antigone. Reclam XL Text und Kontext (2016). Darin das Stück in der Übersetzung von Kurt Steinmann; zu den Widersprüchen speziell S. 91 (Zitat von Goethe) sowie S. 80 (Übernahme des Zitats von 10).
(6) So dargestellt in den „Bittflehenden“ von Euripides.
(7) Erich Bayer: „Griechische Geschichte“, 1987, S. 227.
(8) Natürlich ist meine Kenntnis der altphilologischen Fachliteratur sehr begrenzt. Sofern in irgendwelchen Fachkommentaren eine ähnliche Auflösung dieser Widersprüche ausgearbeitet sein sollte, würde ich mich über einen entsprechenden Hinweis freuen.
(9) Theodor Pelster: Sophokles — Antigone Reclam Lektüreschlüssel (2005/2014), Gesamttext sowie S.19.
(10) Lutz Walther & Martina Hayo (Hg.): Mythos Antigone Texte von Sophokles bis Hochhuth (2004), Gesamttext sowie S. 14.
(11) Thomas Möbius: Königs Erläuterungen Sophokles — Antigone Analyse / Interpretation (2003/2015), Gesamttext sowie S. 51.
(12) Wilhelm Willige (Hg.): Sophokles — Tragödien und Fragmente (1966), S. 1009f sowie S. 1011.
(13) Achim Geisenhanslüke: Sophokles — Antigone. Oldenbourg-Interpretationen (1999), S. 67 sowie S. 73.
(14) Alexandra Wölke: EinFach Deutsch Sophokles — Antigone … verstehen (2011), S. 44 sowie S. 50 & S. 123.
(15) Karl Reinhardt: Sophokles (1933), S. 92f sowie S. 101.
(16) Hellmut Flashar: Sophokles — Dichter im demokratischen Athen (2000), S. 73 sowie S. 74f.
(17) Peter Riemer: Sophokles, Antigone — Götterwille und menschliche Freiheit (1991), S. 46f sowie S. 18 & S. 32.
(18) Heinrich Weinstock: Sophokles (1937), S. 127f sowie S. 138f.
(19) Thukydides: „Der Peloponnesische Krieg“. Übertragen von August Horneffer. Phaidon Verlag, Essen (o.J.), 2. Buch, 37-40.