9/11 auf LSD
Dirk C. Fleck und Jens Lehrich im Gespräch mit Florian Kirner über sein erstaunliches Roman-Debüt „Leichter als Luft“.
Selten hat ein belletristisches Erstlingswerk den Charme, die Kraft und die Frische, um auf Anhieb zu überzeugen. Und zwar offensichtlich jeden, der mit ihm in Berührung kommt. Noch seltener entscheidet sich ein Verlag, der normalerweise auf engagierte Sachbücher spezialisiert ist, einen Roman ins Programm zu nehmen. Der Frankfurter Westend-Verlag hat es getan. Florian Kirner hat sie einfach umgehauen. Jens Lehrich und mich übrigens auch. Und so baten wir Prinz Chaos II nach Hamburg, um mit ihm über den aberwitzigen Geniestreich und seine Entstehungsgeschichte zu sprechen. Es ist ein wunderbares Gespräch geworden, so wunderbar wie dieses aberwitzige Buch, das sicher seinen Weg gehen wird.
Erster! Ungelogen, fragen Sie Prinz Chaos II. Er wird bestätigen, dass ich der Erstleser seines Romans „Leichter als Luft“ bin, der gerade im Westend Verlag erschienen ist. Im vergangenen Jahr besuchte mich Florian Ernst Kirner nämlich in Hamburg, wo wir für Rubikon ein Gespräch führen wollten. In der Nacht vor dem Aufnahmetermin saßen wir bei mir zuhause lange zusammen und lasen uns gegenseitig aus unseren Arbeiten vor. Ich gab einige Kapitel aus meinem Roman „Feuer am Fuß“ zum Besten, und er zitierte aus einem noch unveröffentlichten Manuskript, das mehr als 18 Jahre (!) in alle Richtungen ausschlug und kaum zu bändigen war. Bei dem er sich nicht vorzustellen vermochte, wie er diesem erzählerischen Chaos, das wie ein wild gewordener Gaul mit ihm durchgegangen war, jemals Zügel anlegen konnte, sodass sich irgendwann eine stringente Handlung, ein Anflug von Ordnung erkennen ließe. Aber aufgeben wollte oder konnte der Schlossherr aus Thüringen das Projekt auch nicht.
Seine Figuren führten längst ein Eigenleben. Sie lauerten fordernd im Dickicht seiner Gedanken und hätten ihn wohl ausgelacht, wenn er sich ihnen nicht immer wieder gestellt hätte. Eine solche Schmach wollte Florian Kirner nicht auf sich nehmen. Und so geschah das Unmögliche: Die Erzählung begann sich schließlich zu fügen. Jetzt ging es nur noch um den Beschnitt. Aus dem verzweifelten Kutscher einer unkontrollierbaren Kalesche, als der sich der Autor lange Zeit fühlte, war ein Gärtner geworden, der seinen Text im Griff hatte und ihm stilsicher zu voller Blüte verhalf.
Zurück zu der Nacht, in der ich die ersten Textproben serviert bekam. Florian trug sie selbstsicher vor, als wüsste er um ihre Qualität genau Bescheid. Oder war ich es, der ihn ermutigte, seine Worte zu streicheln? Denn ich saß mit geschlossenen Augen da und genoss jeden Satz. Mir wurde sofort klar, dass hier jemand unseren Sprachschatz einmal kräftig umgepflügt hatte, wodurch die Geschichte eine besondere Färbung erhielt, eine eigene Färbung, wie sie auch Louis-Ferdinand Céline in seinen Romanen „Reise ans Ende der Nacht“ und „Norden“ herzustellen vermochte. Als uns endlich die Müdigkeit ergriff, bat ich Florian, mir den gesamten Text zu überlassen. Er tat dies gerne, denn bevor das Manuskript weiter in seinem Kopf rotierte, brauchte er endlich einmal ein Feedback von außen, dass ihn wieder erden konnte.
Ich bin kein Schnellleser. Für „Leichter als Luft“ benötigte ich mehr Zeit als gewöhnlich. Ich genoss das Buch wie eine gute Flasche Wein, Schluck für Schluck. Und da ich das Grinsen kaum aus dem Gesicht bekam, war ich häufig gezwungen, die Lektüre zu unterbrechen, um mich für das nächste Kapitel zu sammeln. Nach einigen Wochen meldete ich mich beim Prinzen, um ihm meinen Respekt für diese außergewöhnliche Arbeit zu bezeugen. Daraufhin bat mich Florian, ihm ein kurzes Lektorat zu schreiben, mit dem er bei diversen Verlagen vorstellig werden wollte. Zum ersten Mal konnte er sich nämlich vorstellen, dass das Ergebnis seiner achtzehnjährigen Bemühung tatsächlich zwischen zwei Buchdeckel passen würde. Dies ist, was ich ihm daraufhin schrieb:
„Das Weazel, der Kanarienquex, Donna Fauna — das sind nur einige der Protagonisten, die Florian Kirners Roman beflügeln, weshalb der Titel ‚Leichter als Luft‘ durchaus zutreffend ist. Dass dieser Erstling jedoch weit mehr ist als ein literarischer Manga (japanischer Comic), wie der Untertitel suggeriert, liegt vor allem an der stimmigen, großartigen Recherche, die dem Text zugrunde liegt. Es beginnt mit 9/11, dem Urknall des Jahrhunderts, der die globale Zivilgesellschaft so kräftig durchgeschüttelt hat, dass sämtliche demokratischen und humanistischen Prinzipien auf der Strecke geblieben sind. Wahrgenommen wird 9/11 in diesem Roman eher beiläufig im Berliner Drogenmilieu, was zu einer aberwitzigen Betrachtungsweise führt, die dem Ereignis einen völlig neuen Anstrich gibt.
‚Leichter als Luft‘ spannt den Bogen über zehn Jahre Berliner Geschichte, in der sich der subkulturelle Bodensatz in der wiedervereinigten Hauptstadt dem stetigen Würgegriff der Geldgeier nicht mehr zu erwehren weiß und schließlich in sich zerbröselt. Kirner erzählt dies auf fantastische Weise. Seine Sprache surft meisterhaft auf dem Aberwitz der Ereignisse. Das erstaunlichste an ‚Leichter als Luft‘ ist jedoch die Tatsache, dass hier etwas gelungen ist, was kaum noch zu erwarten war: die Wiederbelebung einer totgesagten literarischen Gattung — des Sittenromans. Das klassische Grundprinzip eines ‚Sittenromans‘ ist die Offenlegung der jeweiligen gesellschaftlichen Sozialmechanismen anhand der persönlichen Emanzipation eines oder mehrerer Hauptfiguren. Flauberts ‚Madame Bovary’ war einer, Zolas ‚Nana‘, Fontanes ‚Effie Briest‘ und Musils ‚Mann ohne Eigenschaften‘ auch. Nun ist einer dazu gekommen: Stimmig und humorvoll berichtet er vom Anfang und Ende unseres Zeitalters der Verwirrung.“
Vor einigen Tagen kam Florian Kirner wieder nach Hamburg. Jens Lehrich hatte den Auftrag von Rubikon erhalten, mit ihm ein Gespräch über die Entstehungsgeschichte von „Leichter als Luft“ zu führen. Und da Jens wusste, wie ich zum Erstleser des Romans geworden war, fragte er mich, ob er das Interview in meiner Wohnung führen dürfe, wo ich Florian überzeugt hatte, mit dem Buch auf Verlagssuche zu gehen. Gleichzeitig fragte Jens mich, ob ich ihn in dem Interview als Co-Moderator unterstützen möchte. Ich willigte ein, das würde funktionieren, schließlich sind wir durch unser Format „Zwei Hambürger“ ein eingespieltes Team.
Dem Prinzen war es ohnehin recht, er schwebte schon den ganzen Tag in anderen Sphären. Gründe dafür gab es genug. Schließlich hatte sich der renommierte Westend Verlag, der normalerweise auf engagierte Sachbücher spezialisiert ist, dazu durchgerungen, mit „Leichter als Luft“ einen ersten Roman ins Programm zu nehmen. Eine bahnbrechende Entscheidung der Frankfurter, die hoffentlich belohnt wird.
Florian hatte sich morgens beim altehrwürdigen Hamburger Herrenausstatter Ladage & Oelke (gegründet 1845) einen Anzug mit Weste gekauft, der ihn hervorragend kleidete. So stellte sich abends ein Gentleman mit Rastalocken unseren Fragen. Ich hatte den Mann noch nie so beseelt gesehen. Die fast kindliche Freude des Prinzen übertrug sich natürlich auch auf Jens und mich, sodass unser Gespräch außerhalb aller Regeln, die für Interviews normalerweise gelten, stattfand. Es macht keinen Sinn, hier im Detail auf Florians 18-jährigen Schreibkampf (-krampf?) einzugehen, das hört man sich besser im Original an. Aber es macht Sinn, noch einmal zu betonen, wie sehr Jens Lehrich (er hat das Buch inzwischen auch gelesen) und ich diesem Meisterwerk des Prinzen Erfolg gewünscht haben. Überschwänglich und immer wieder, was den Autor nicht selten verlegen gemacht hat.
Selber schuld. Warum legt er uns auch einen solchen Geniestreich auf den Tisch, der neben dem krachenden Wahnsinn, den die handelnden Personen permanent produzieren, in eine melancholische Grundstimmung mündet, die dem Roman erst den nötigen Tiefgang gibt.
Erzählt wird nämlich die uralte Geschichte von der Vernichtung eroberter Freiräume durch ein Gier-System, das zwar sterbenslangweilig, aber scheinbar unbesiegbar ist. Dies wurde erneut und erfolgreich demonstriert in den zwanzig Jahren nach dem Fall der Mauer, der Zeit also, in der das Weazel, der Kanarienquex, Donna Fauna und mit ihnen die gesamte Berliner Subkultur das Heft aus der Hand geben mussten, um es den Herren in den grauen Anzügen zu überlassen, wie es Michael Ende formulieren würde. Dennoch: Der Versuch, sich anders zu organisieren, hat in Berlin eine Zeit lang funktioniert. Noch heute hinterlässt er eine wehmütige Erinnerung, die sich leichter anfühlt als Luft …
PS: Die Stimmung zwischen uns dreien erreichte ihren anrührenden Höhepunkt, als Jens ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Zitat aus dem Buch an jeden von uns überreichte:
“Du bist die Kraft! Du bist die Welt! Tu etwas, oder lass es bleiben. Aber halt bitteschön die Fresse.“