Das Ende des Journalismus
Das Schicksal von Julian Assange ist mit dem Schicksal des Journalismus aufs Engste verknüpft.
Julian Assange arbeitete der Journalistenzunft mit heiklen Informationen zu — und auch heute noch nutzen Journalisten das bei Wikileaks bereitgestellte Material. Kaum einer von ihnen setzt sich jedoch für die Freilassung Assanges ein. Lawrence Davidson untersucht die Gründe hierfür — sie reichen von der Angst um die eigene Karriere bis zu der Bedrohung, die ein „Whistleblower“ für Regierungen und Organisationen darstellt, die ihre kriminellen Machenschaften gerne weiterhin im Geheimen ausführen.
Julian Assange und das Schicksal des Journalismus
von Lawrence Davidson
Julian Assange ist der australische Gründer von Wikileaks — einer Web-Seite, die dem Recht der Öffentlichkeit gewidmet ist, zu wissen, was Regierungen und andere mächtige Organisationen tun.
Wikileaks verfolgt dieses Ziel, indem es aufschlussreiche Dokumente veröffentlicht — diese wurden oft über inoffizielle Wege erhalten und bringen kriminelles Verhalten ans Licht, das zu Kriegen und anderen menschengemachten Katastrophen führt. Weil die bloße Existenz von Wikileaks „Leckagen“ anregt, fürchten Regierungen die Web-Seite und mögen ganz besonders Julian Assange nicht.
„Großhandelslieferant für Beweise“
Im Wesentlichen fungiert Wikileaks als ein Großhandelslieferant für Beweismittel. Nachdem ein vermeintliches Dienstvergehen festgestellt wurde, kümmert sich Wikileaks darum, eine überwältigende Menge von Beweisen zu beschaffen und zu veröffentlichen — manchmal Hunderttausende Dokumente auf einmal, auf die sich dann Journalisten und andere Interessierte stützen können.
Und weil die Individuen und Organisationen, die untersucht werden, der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig sind, kann die Bereitstellung von Beweisen im großen Maßstab als öffentliche Dienstleistung angesehen werden.
Naives Vertrauen
Leider sehen die meisten Regierungsangestellten das anders. Sie behaupten, dass eine Regierung nur dann erfolgreich sein kann, wenn manche Aspekte ihres Wirkens im Geheimen ausgeführt werden.
Dabei bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass diese fraglichen Aspekte jegliche rechenschaftspflichtige Verbindung zur Öffentlichkeit verlieren. Man geht hier von der Annahme aus, dass die meisten Bürger einfach darauf vertrauen, dass ihre Regierung in deren Interesse handelt — selbst wenn dies heimlich geschieht.
Historisch gesehen ist ein solches Vertrauen auf gefährliche Weise naiv. Regierungsvertreter — selbst die demokratischen unter ihnen — fühlen sich nicht den Bürgern im Allgemeinen, wohl aber bestimmten Interessen verpflichtet.
Vom Eigenleben der Institutionen
Ein Grund hierfür besteht darin, dass große und bürokratische Institutionen — wie lange auch immer sie bestehen — dazu tendieren, sich zu verselbständigen: Sie werden zu Institutionen mit selbstreferenziellen Kulturen und einer Loyalität, die jegliche Verantwortung gegenüber Gruppen „da draußen“ aufhebt — es sei denn, diese Gruppen teilten ihre Interessen. Anders ausgedrückt:
Institutionen oder Bürokratien, die schon länger bestehen, entwickeln ein Eigenleben.
Wikileaks lahmlegen
In diesem Sinne sollte es uns nicht überraschen, dass viele Regierungen Wikileaks als Bedrohung für das Wohlergehen von Institutionen ansehen. Um also Wikileaks lahmzulegen und sich an Assange zu rächen, versuchten die USA und Großbritannien in Zusammenarbeit mit Schweden, Assange im Jahr 2010 ein Verfahren wegen sexueller Nötigung anzuhängen.
Als sie damit scheiterten, hatte sich Assange trotzdem bereits strafbar gemacht, weil er vor seiner Verhandlung untergetaucht war, um Arrest und Abschiebung in die USA zu umgehen — wo er wegen des Verrates von Geheimnissen sicher vor Gericht gestellt worden wäre.
2012 floh er in die ecuadorianische Botschaft in London, die ihm Asyl gewährte. Als dieser Artikel verfasst wurde, hielt er sich noch immer dort auf. Ein Regierungswechsel in Quito brachte jedoch Verhandlungen zwischen Ecuador und Großbritannien mit sich, die durchaus zu Assanges Ausweisung aus der Botschaft führen könnten.
Journalistische Ideale
Ein Teil des Zorns über Assanges Schicksal entlud sich über die Journalistenzunft, der Assange zuzuarbeiten versuchte. Er hatte sich ja leidenschaftlich für die Redefreiheit, die Pressefreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Informationen eingesetzt.
Wie der Dokumentarfilmer John Pilger — ein Unterstützer Assanges — jedoch bemerkte, „gab es keinen Druck (zugunsten Assanges) von Seiten der Medien in den USA, in Großbritannien, Australien und eigentlich auch sonst nirgends außer in (Medien)Programmen (…) außerhalb des Mainstreams (…). Alle frei denkenden Menschen sollten über die Verfolgung dieses Mannes entsetzt sein.“
Da hat er durchaus Recht. Leider gab es noch nie viele mutige Freidenker — niemand sollte sich also angesichts der schlechten Aussichten von Assange überrascht zeigen.
Ideal und Wirklichkeit
Dies bringt uns nun zum Unterschied zwischen den Idealen und der Realität des Journalistenberufs. Das Leitbild des Journalismus präsentiert diesen als eine Säule der Demokratie.
Der Journalist ist demgemäß ein zäher und hartnäckiger Mensch, der Fakten ans Licht bringt, unangenehme Fragen stellt und seinen Lesern/Zuschauern die Wahrheit erklärt. Nur wenige scheinen bemerkt zu haben, dass dieses ideale Vorbild — so es denn tatsächlich zutrifft — jene Leser/Zuschauer befremdet hat, die zwischen „der Wahrheit“ und ihrer eigenen Meinung nicht unterscheiden können.
In letzter Zeit hat diese Entfremdung die gesamte Medienindustrie dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei „der Menschen Feind“, weil sie „Fake-News“ verbreitet — also Nachrichten, die der eigenen Meinung widersprechen.
Ein bisschen Mut
Um den idealistischen Journalisten mit den wirklichen Erwartungen der Öffentlichkeit in Einklang zu bringen, übten Herausgeber Druck auf die Medienarbeiter aus, damit sie ihre Berufsideale kompromittierten.
In der Folge entsteht so eine manipulierte Berichterstattung, die den Ansichten des anvisierten Publikums des jeweiligen Medien-Unternehmens entspricht. Es ist also schlicht falsch zu denken, dass im Allgemeinen jene, welche ermitteln, nachforschen, über Dinge schreiben und schließlich über verschiedene Kanäle berichten, mutiger oder gar prinzipientreuer als der Rest der Bevölkerung sind.
Obgleich es in der Tat die Aufgabe jener ist, die recherchieren und berichten, unabhängig von den Ideologien und Vorurteilen sowohl ihrer Gesellschaft als auch ihrer Regierung zu bleiben, zeigte uns Julien Benda 1928 in seinem Buch The Betrayal of the Intellectuals — Der Verrat der Intellektuellen — auf, dass diese Menschen in Wirklichkeit schließlich doch der Macht dienen.
Dies ist vor allem in einer Atmosphäre patriotischen Eifers der Fall — oder wenn von Seiten Druck ausgeübt wird, die der eigenen Karriere Schaden zufügen könnten. Hier wird man dann feststellen, dass es durchaus Mut gibt — dass er aber die Ausnahme und nicht die Regel ist, und dass der Mutige dann meist alleine auf weiter Flur steht.
Genau das geschieht im Fall von Julian Assange. Viele US-amerikanische Medienkanäle sind bereit, selektiv die dokumentierten Beweise zu verwenden, die Wikileaks zur Verfügung stellt. Da bedient man sich einfach im öffentlichen Bereich der Web-Seite. Sie werden aber niemandem Paroli bieten und den „Whistleblower“ öffentlich verteidigen, der die Information offengelegt hat.
Ich denke, dass Verleger, Redakteure, Medienmogule und die große Mehrheit ihrer Angestellten einfach nicht den Mut aufbringen, jenes Individuum zu unterstützen, das skrupellosen Gesetzen oder Verordnungen zuwider handelt, die nur dafür da sind, den Mantel des Schweigens über Amtskriminalität und Scheinheiligkeit zu breiten.
Ein gemeinsames Problem
Die USA sind gewiss nicht das einzige Land, das diesem Dilemma gegenübersteht. Diese Frage stellt sich auch in all den anderen Ländern, die behaupten, sie hätten eine freie Presse. Ein ähnliches Problem gibt es beispielsweise schon lange in Israel. Hier finden wir eine gesamte Ethnie, deren Journalisten der Verfolgung ausgesetzt sind.
Kriminalisierung palästinensischer Journalisten
Nehmen wir zum Beispiel Omar Nazzal, Vorstandsmitglied des Palästinensischen Journalistensyndikats. Im Online-Blog +972 erschien am 10. August 2016 ein Bericht mit dem Titel „Israelische Journalisten schweigen, während ihre journalistischen Kollegen inhaftiert werden“ (“Israeli journalists silent as their Palestinian colleagues are jailed“).
Dort konnte man erfahren, dass Nazzal im April 2016 von israelischen Streitkräften ohne Anklage in polizeilichen Gewahrsam genommen wurde. Wie bei Assange versuchte man dann zu behaupten, Nazzal sei ein Krimineller. Der Shin Bet, einer jener israelischen Sicherheitsdienste, denen nur Naive oder Bestechliche glauben, behauptet, Nazzal sei ein Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas, PFLP, die sie als Terror-Organisation einstufen.
Für diese Anklage wurden keine Beweise veröffentlicht — Shin Bet behauptet, der Beweis sei „geheim“ — und Nazzal leugnet jegliche Zugehörigkeit. Wie sich herausstellte, ist der Grund für seine Verhaftung vergleichbar mit Assanges Tätigkeiten. Als er festgenommen wurde, war Nazzal auf dem Weg nach Sarajewo, um an einem Treffen der Europäischen Jornalisten-Föderation teilzunehmen.
Zweifellos wollten die Israelis nicht, dass er einer Organisation europäischer Journalisten wahre und belegbare Geschichten erzählt. Die meisten israelisch-jüdischen Journalisten sowie ihre US-amerikanischen Kollegen schweigen dazu — wie auch die jeweilige Öffentlichkeit.
Wer will schon faktengestützte Berichterstattung?
Man könnte sich schon fragen, wie ernsthaft „die Öffentlichkeit“ Medien haben möchte, die ihnen „die Wahrheit“ erzählen. Der Nachrichten-Kabelkanal mit den höchsten Zuschauerzahlen in den USA ist Fox News, ein Medienverbündeter Donald Trumps, der kein Interesse an objektiven Fakten zeigt.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass US-Amerikaner — und andere — ihre Nachrichtenkanäle danach aussuchen, ob sie ihnen das erzählen, was sie hören wollen. Die Suche nach „genauer“ Berichterstattung richtet sich also danach, wer unsere Vorurteile bestätigt.
Die Wahrheit ist außerhalb des Mainstreams zu finden
Unter diesen Umständen ist es leicht zu verstehen, warum eine profitorientierte Medienindustrie sich weder dem gemeinen Fußvolk noch einem Ideal faktenbasierter Nachrichten gegenüber zu verantworten hat.
Unter diesen Bedingungen haben Wahrheitsverkünder wie Assange — oder im Falle Israels Omar Nazzal — schlechte Karten. Es wird Menschen geben, die sie verteidigen, diese werden sich jedoch außerhalb des Mainstreams befinden — weil sich auch die Wahrheit selbst außerhalb des Mainstreams befindet. In dieser Zwickmühle befinden sie sich — und wir uns auch.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Julian Assange and the Fate of Journalism". Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.