Der gläserne Bürger
In seinem neuen Buch „Schönes neues Geld“ seziert Norbert Häring die Bargeldabschaffung.
Die Welt steht an einem weiteren Scheideweg zwischen Freiheit und Totalüberwachung. In Ergänzung zur Aufzeichnung der Telekommunikationsinhalte und -verbindungen wollen Regierungen und Konzerne komplett speichern und auswerten, wofür, wann und wo die Bürger und Konsumenten wie viel Geld an wen zahlen. Biometrische Daten sollen die Transaktionsdaten vervollständigen. Mehr Überwachung ist fast nicht möglich.
Unschätzbare Vorteile
Häring beginnt seine Argumentation mit den Vorteilen des Bargelds, die die Gesellschaft zu verlieren droht. Greifen wir einige heraus:
Nur die Anonymität des Bargelds ermöglicht eine finanzielle Privatsphäre. Es ermöglicht eine gute Kontrolle des Haushaltsbudgets. Kinder lernen mit Taschengeld das Konzept von Geld und dessen Knappheit. Es ist krisensicher – im Gegensatz zu digitalem Geld, das bei einem Ausfall von Internet und Telefonnetz nicht mehr verfügbar ist; jede Bundesregierung empfiehlt für den Krisenfall Bargeldreserven.
Es ist kostengünstig, da bei einer Transaktion niemand Profite erzielt. Es schützt vor einer Enteignung durch Negativzinsen. Sofern man eine drohende Bankinsolvenz erkennt, kann man sein Geldvermögen in Sicherheit bringen. Bei – berechtigten oder unberechtigten – Kontensperrungen ermöglicht vor allem Bargeld das Überleben.
In diesen Vorteilen für die Bürger stecken auch die Motive derjenigen, die Bargeld abschaffen wollen.
Motive
Häring analysiert die unter betterthancash.org, „Besser-als-Bargeld-Allianz“, genannten Mitglieder der Allianz zur Bargeldabschaffung und unterscheidet verschiedene Motive: Konzerne wie die Citibank, Visa und Microsoft wollen an jeder Transaktion Geld verdienen. Unternehmen wie H&M, Coca-Cola und Unilever wollen Konsumentenprofile. Dritte-Welt-Nationen von Afghanistan bis Vietnam werden zur Mitgliedschaft genötigt: Wer sich nicht freiwillig unterwirft, „bekommt Hilfsgelder gestrichen oder kommt gar auf eine schwarze Liste nicht kooperativer Staaten“.
Die Allianz zur „finanziellen Inklusion“ – klassisches Orwellsches Newspeak – von Bill Gates „ist auch mitverantwortlich dafür, dass arme Kenianer heute genötigt werden, an einen britisch kontrollierten Anbieter mobilen Geldes bis zu 40 Prozent Transaktionskosten abzudrücken.“
Die G20-Staaten und die UN beugen sich hingegen seit einer Obama-Initiative dem Druck der USA, eine Bargeldabschaffung zu verfolgen, um den Silicon-Valley-Konzernen den Markt für finanzielle Transaktionen zu sichern.
Das Hauptmotiv der Konzerne ist wie immer der Profit. Das Motiv der Staaten – allen voran der USA – ist die Überwachung aller Bürger des Planeten. Deshalb setzen die USA auch alle anderen Staaten unter Druck, „finanzielle Identitäten“ mit Biometriedaten zu verknüpfen.
Damit wird „Schönes neues Geld“ zur Dystopie à la Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Ein Vorreiter ist Mexiko, wo seit 2017 Banken von allen Kunden bei jedem Geschäft einen Fingerabdruckscan nehmen und eine biometrische Datenbank aufbauen müssen.
Regierungen und Zentralbanken würden gern Negativzinsen bei privaten Bankkonten anwenden, um das Geld der Bürger in Umlauf zu zwingen – was zum Abheben aller Guthaben bei Banken führen würde, so lange es Bargeld gibt.
Härings trockener Humor drückt sich zum Beispiel in der Bemerkung zu mobilen biometrischen Regierungsausrüstungen im bitterarmen Malawi aus: „ Von Freudenstürmen der hungrigen Kinder in Malawi, von denen die wenigsten eine halbwegs anständige Schuldbildung oder eine vernünftige Gesundheitsversorgung bekommen, wird nicht berichtet.“
Mythen und Methoden
Bargeldgegner verweisen gern auf die angeblich vorbildlichen Schweden, deren Bargeldverwendung in Europa am niedrigsten ist. Häring entzaubert diesen Mythos, indem er über die Ursachen aufklärt: Das Netz der Geldautomaten wurde auf ein Drittel des deutschen Niveaus gesenkt. Da ist der nächste Geldautomat im großflächigen Schweden schon mal 40 Kilometer weit weg. Die schwedische Notenbank zog sich aus der Bargeldversorgung zurück und überließ sie einem Kartell privater Banken – die motiviert sind, an digitalen Transaktionen zu verdienen.
In Griechenland lässt sich ein Zwischenschritt besichtigen, der in Deutschland kommen könnte: Rechnungen über 500 Euro dürfen nicht mehr bar bezahlt werden. Bargeld im Privathaushalt ist zu deklarieren und kann danach umso einfacher konfisziert werden. Händler werden per Gesetz gezwungen, Verträge mit Kreditkarten- und EC-Karten-Betreibern abzuschließen. Arbeitnehmer, die keinen ausreichend hohen Teil ihres Einkommens bargeldlos bezahlen, müssen Strafsteuern zahlen.
Im Euro-Raum schaffte die EZB den 500-Euro-Schein ab. Indien erklärte über Nacht die 500- und 1.000-Rupien-Scheine – umgerechnet rund 7 und 14 Euro – für ungültig, die etwa 86 Prozent des Bargeldes in Indien ausmachen. Die ungültigen Scheine konnte man zwar in neue umtauschen, aber nur in kleinen täglichen Höchstbeträgen, und mit Aufzeichnungen, wer wie viel umtauscht. Frankreich hat Barzahlungen auf 1.000 Euro begrenzt, Italien auf 3.000 Euro. In Deutschland verlangte die SPD eine Obergrenze von 5.000 Euro und bekam eine Meldepflicht bei Barzahlungen ab 10.000 Euro.
Nicht fehlen darf hier Härings Demontage der Behauptung, die Bargeldabschaffung diene der Bekämpfung der Schattenwirtschaft und Kriminalität. Deren Akteure sind clever genug, ihre Geschäfte trickreich bargeldlos abzuwickeln.
Kryptowährungen keine Alternative
„Schönes neues Geld“ ist nicht nur durchdacht, sondern auch akribisch recherchiert und voller erhellender Überraschungen. Wer sich beispielsweise bisher wunderte, dass Geheimdienste und Staaten den bisher mindestens 1.800 Kryptowährungen eher gelassen zuschauen, findet hier die Erklärungen.
Häring stellt zum Beispiel fest, dass Kryptowährungen nicht anonym, sondern „pseudonym“ sind. Das heißt: „Auf nahezu allen großen Bitcoin-Börsen darf man Bitcoin nur kaufen und handeln, wenn man sich zuvor mit einem Ausweis oder auf vergleichbare Weise identifiziert hat.“
Hinsichtlich der unbewiesenen, aber durchaus plausiblen These, US-Geheimdienste stünden hinter der Erfindung des Bitcoin, zitiert er Henning Diedrich, den Autor des Buches „Ethereum“ über die nach Bitcoin am weitesten verbreitete Kryptowährung. Demnach hält die NSA das Patent für die Ethereum Blockchain – sicherlich samt Zugriff per Backdoor.
Wenn Staaten, die ohne Steuereinnahmen nicht existieren können, kein Problem mit Kryptowährungen haben, ergibt das nur Sinn, wenn sie Zugriff auf alle Transaktionen und Nutzerdaten haben. Denn nur so können Sie Umsätze, Einkommen und gegebenenfalls Krypto-Vermögen besteuern.
Bei Kryptowährungen ist ohnehin fraglich, welche Zukunft sie haben sollen, wenn sie – wie bei Bitcoin – 300 Kilowattstunden Stromkosten pro Transaktion verursachen. Oder wie sie zwei der drei Grundfunktionen von Geld, nämlich als Wertaufbewahrung und Preismaßstab zu dienen, verwirklichen sollen, wenn ihr auf reiner Spekulation basierender „Wert“ – die Verschwendung von Energie beim Mining ist keine Deckung – sich kurzfristig verdoppelt oder halbiert. Und schließlich ist unplausibel, wie eine unbegrenzte Anzahl „Währungen“ – jedermann kann seine eigene Kryptowährung schaffen – die dritte Grundfunktion von Geld erfüllen sollen: Als allgemein anerkanntes Zahlungsmittel zu dienen. Kryptowährungen sind also keine Alternative zu Bargeld.
Widerstand
Nachdem Häring den dystopischen Bogen von Motiven und Strategien bis zu Konsequenzen gespannt hat, schließt er das Buch im Kapitel „Wirksame Wege des Widerstands“ mit einem Hoffnungsschimmer ab.
Ein Schlüssel dazu kann Paragraph 128 des „Vertrags über die Arbeitsweise der EU“ sein, in dem Euro-Bargeld das offizielle Zahlungsmittel der Währungsunion ist. Nun könnte die EU den EU-Vertrag theoretisch ändern. Das wird jedoch Theorie bleiben, denn alle Länder müssen dem zustimmen, was zwar möglich, aber unwahrscheinlich ist.
Manche Regierungen müssen zu solchen Entscheidungen Volksabstimmungen durchführen. Bei dem mittlerweile recht schlechten Ruf der EU und bei diesem Thema würden diese Regierungen wahrscheinlich einer krachenden Niederlage entgegensehen und sich dies ersparen wollen.
Auch die bereits bestehenden Bargeldobergrenzen müssten nach Härings Einschätzung kippen, sobald diesbezügliche Klagen beim Europäischen Gerichtshof ankommen.
Ob Schengen- oder Dublin-Abkommen, ob Maastricht-Kriterien oder Banken-Bailout: Die EU und deren Organe ignorieren oft die eigenen Verträge. Häring ist allerdings optimistisch, dass die EU-Kommission nicht die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ignorieren wird. Zumal die öffentliche Meinung, die dieses Buch sensibilisieren will und kann, für nationale Regierungen gefährlich wäre.
Norbert Häring analysiert nicht nur – er handelt auch. Im Buch berichtet er von seinem Klageweg durch die Instanzen, um die GEZ zur Annahme des gesetzlichen Zahlungsmittels – Bargeld – zu zwingen. Nach der Devise „Hannemann, geh du voran! Du hast die größten Stiefel an, dass dich das Tier nicht beißen kann“ klagte er sich vom Verwaltungsgericht Frankfurt über den Hessischen Verwaltungsgerichtshof bis zum Bundesverwaltungsgericht, um eine Grundsatzentscheidung über die Annahmepflicht von Bargeld zu erreichen. Über den Entscheid des Verwaltungsgerichts Münchens in einem ähnliche Fall schreibt er:
„Bargeld muss demnach angenommen werden, aber nur für Barzahlungen. Das ist kein Witz. Das steht so da.“
Häring begründet, warum das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig eigentlich gar nicht anders kann, als die Annahmepflicht für Bargeld zu bestätigen. Damit ist das Problem aber nicht gelöst.
Sein Buch schließt Häring mit der Erkenntnis, dass man durch Gerichtsurteile die Bargeldabschaffung lediglich bremsen kann. Die Bargeldabschaffer werden durch eine Mischung aus Verführung, Schikanen und Nötigung das Bargeld zurückdrängen – siehe Schweden. Es sei denn, die Bürger sensibilisieren sich für das Thema und erkennen, was auf sie zukommt. „Schönes neues Geld“ trägt bestens zu diesem Ziel bei. Sein Buch ist ein Weckruf, den jeder Wähler durchdenken sollte.
Abschließend sei gestattet, mein Erstaunen darüber zum Ausdruck zu bringen, dass ausgerechnet das erzkapitalistische Handelsblatt einen kritischen Journalisten wie Norbert Häring duldet. Im journalistischen Establishment ist er eine absolute Ausnahmeerscheinung.