105 Jahre regierungsamtlicher Weihnachtstrost

Und 105 Jahre Ungleichheit.

Schon Kaiser Willem ließ christliche Parolen ab. Heute lauschen wir republikanischen Säuselpappeln. Lübke, Steinmeier, Bedford-Strohm: Was glänzt, ist allzu oft nur gut poliert. Und manches Polierte glänzt nicht mal.

Komm rein in die gute Stube! Hast du schon gefrühstückt? Das ist schön. Hier bitte, nimm Platz im Fernsehsessel. Heute bieten wir dir den besonderen Genuss....

Hm, eigentlich ist es doch eher ein Angebot, dir nach altrömischer Sitte mit einer Pfauenfeder das Gaumenzäpfchen zu kitzeln. Rein virtuell natürlich...mal sehen, wie lange du durchhältst, bis dir dein Frühstück aus dem Gesicht fällt.

Fies? Wir hatten uns selbst grad an einen kleinen Vergleich gemacht: Oberhirten und Oberhäupter. Zwischen Martin Niemöller, einst Widerstandskämpfer, KZ-Insasse, Leuchtturm der Bekennenden Kirche und seinem verschossenen Nachfolger, dem EKD-Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm.

Außerdem zwischen den Meister-Rhetorikern Heinrich Lübke, zweiter Präsident unserer Republik, und Frank-Walter Steinmeiner, unserem zwölften und gegenwärtigen Staatsoberhaupt.

Wem wir die Pfauenfeder fürs Kitzeln ausgerupft haben? Na warte...

Der Frank-Walter sei ja nur Oberhaupt eines verrotteten Gemeinwesens, meinst du? Nicht doch, Mann. Hau nicht immer gleich mit der Blattschaufel auf dieselbe Stelle! Lieber erst mal ein Profilvergleich zwischen den beiden, äh, Politikern, sozusagen als Appetizer...

Kleiner Scherz, ja ja. Der Eimer neben deinem Sessel ist für alle Fälle. Jetzt schalten wir die Wunderlampe auf „Play“ zur „Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten“. Volles Rohr, ne?

Vorher schnell noch zum Abgleich: Heinrich Lübke war Sauerländer und gelangte erst als 65jähriger ins Bundespräsidentenamt. Zuvor hatte er eine Architektenkarriere gemacht und war von 1943 bis zur Befreiung vom Nazismus als Bauleiter in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde tätig: Er konstruierte KZ-Baracken und war auch verantwortlich für den Einsatz von KZ-Häftlingen. „Vernichtung durch Arbeit“ lautete der bösartige Nazi-Begriff für solche Einsätze. Ein mörderischer Schreibtischtäter war dieser Lübke, ehe er der oberste Repräsentant des westdeutschen Volkes wurde. Ein Sarkasmus der Geschichte, wenn du so willst, aber ein systemkonformer...

Er war ja nicht der einzige Bundespräsident mit Nazivergangenheit, wie man weiß. Wer noch? Gut, du bist jung, und soo genau lernt man das in der BRD-Schule ja auch nicht. Der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland (West), Theodor Heuss, war zwar kein Nazi-Mitglied, aber ein Nazi-Mitläufer, der Hitlers Ermächtigungsgesetz zustimmte und später privat bekannte: „...das entwurzelte jüdische Literatentum, gegen das ich durch all die Jahre gekämpft habe“. Echte Ex-Nazis – wobei das „Ex“ unterschiedlich groß ausfiel – waren nach Lübke noch die Präsidenten Walter Scheel und Karl Carstens.

Weihnachtsansprachen Lübkes sind, falls es überhaupt welche gab, im Internet nicht verfügbar. Das Bundespräsidialamt dokumentiert keine. Ansprachen zum „Heiligen“ Abend blieben bis 1964 das Privileg des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Von Lübke kursieren nur Auszüge aus missglückten Sprechversuchen im In- und im Ausland.

Was für eine Sorte Scherzbold Lübke war, zeigt sich in diesem Schnack, den er 1948 in einer Rede vor hungernden Arbeitern im Ruhrgebiet abgesetzt haben soll:

„Wenn in früheren Zeiten eine Hungerkatastrophe wie heute bei uns eintrat, hat man den Verantwortlichen lebendig begraben oder aufgehängt. In der Regel soll dann auch eine Besserung eingetreten sein. Wenn wir dies hier auch so halten wollen, dann bitte sofort, dann kann ich mir die Rede ersparen.“

Bei einem Staatsbesuch 1962 in Liberia soll Lübke seine Ansprache mit „Meine Damen und Herren, liebe Neger“ eingeleitet haben. Das war blanke Erfindung fieser Spiegel-Redakteure, doch hat diese Zeitungsente bis heute überlebt. Verbürgt hingegen ist, dass Lübke mauretanische Gesandte beim Abschied ermunterte: „Na, dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Entwicklung da unten“. Man muss ihm zugutehalten, dass er zu der Zeit schon an fortgeschrittener zerebraler Sklerose litt, er war krankheitsbedingt nicht mehr ganz bei sich.

Schöne Überleitung zum aktuellen Bundespräsidenten, meinst du? Hoppla, für den gibt es keine entlastende Krankschreibung. „Steini“ wusste immer genau, was er tat. Zum Beispiel, als er als Geheimdienstminister dafür sorgte, dass der schuldlose Kurnaz weiterhin in Guantanamo gefoltert werden konnte. Eine Vergangenheit als Rechtsbeuger hat unsere Silberpappel auf Schloss Bellevue, wir wollen immer wieder dran erinnern.

Er war bei seinem Amtsantritt vier Jahre jünger als seinerzeit Lübke. Und es war durchaus nicht krank, was er in seiner ersten Ansprache zum Weihnachtsfest – schau in die Wunderlampe – abließ:

„Wir sind ein Land geblieben, in dem wirtschaftliche Vernunft ebenso wie soziale Gerechtigkeit als Leitprinzipien für Politik gelten.“

Es war vielmehr böswillig realitätsverleugnend, gnadenlos zynisch, grenzenlos infam, absolut unaufrichtig.

Der hat dabei nicht mal hinterm Rücken mit den drei Schwurfingern als Blitzableiter nach unten gezeigt?

Unser neuer Landesvater hat eine so mitreißende Mimik und Gestik, dass dir beim Hingucken die Füße einschlafen. Der Mann hat noch weniger Zündung als ein Furunkel am Stert. Bitte bloß keine Vergleiche zwischen seiner und der Leuchtkraft des Lichterbaums hinter ihm! Das wird sonst zu mystisch hier.

Aus dem Munde des Hauptkonstrukteurs der Hartz-IV-Gesetzgebung hören zu dürfen, in unserem Land gelte die „soziale Gerechtigkeit als Leitprinzip der Politik“ – hej, du bist ja ganz grün im Gesicht! Pass auf, der Eimer steht rechts neben dir!

So. Das hätten wir.

Zurück zum Augenschmaus der Wunderlampe, oder? Ein materielles zweites Frühstück empfiehlt sich für dich heute nicht mehr. Und bring nächstens deinen eigenen Eimer mit...!

Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, hier:

Die Arbeitslosenquote betrug im Dezember 5,3 Prozent, behauptet die Tagesschau, gestützt auf die statistische Lüge, es hätten sich „2,4 Millionen arbeitslos gemeldet“. Beachte die hinterlistige Wortwahl „arbeitslos gemeldet“, das klingt wie „krank gemeldet“. Es handelt hier sich nur um die als arbeitslos anerkannten Menschen. „Gemeldet“ haben sich garantiert mehr. Zwar zeigte sich nach unseren vielen Programmbeschwerden gegen diese Form der Publikumsverarsche ein kleiner Erfolg. Die Tagesschau fügte ihrer halbgaren Nachricht diese beiden Sätze an:

„Die Gesamtzahl der sogenannten Unterbeschäftigten sank auf knapp 3,4 Millionen. Dazu zählen neben den Erwerbslosen auch Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.“

Das ist schon besser als früher, aber noch immer nicht gut. Was fehlt, das ist die Dunkelziffer der nicht als arbeitslos anerkannten Arbeitslosen. Dazu gehören zum Beispiel viele der gegenwärtig 850.000 Wohnungslosen; heuer soll deren Zahl sogar auf mehr als eine Million anschwellen. In unsrem armen reichen Land, in dem „soziale Gerechtigkeit Leitprinzip der Politik“ ist, wie uns der Grüßaugust auf Schloss Bellevue weiszumachen versucht.

Inklusive Dunkelziffer hätten wir eine Arbeitslosenquote von gut acht Prozent. Und wenn du die Unterbeschäftigten hinzunimmst, also Menschen, die weniger als 14 Stunden Arbeit pro Woche haben, bist du flugs bei mehr als 15 Prozent im Elend.

Das ergibt immer noch kein vollständiges Bild?

Stimmt. Wir müssen noch die Daten aus einer Studie des arbeitgebernahen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung berücksichtigen, des DIW. Danach liegt das Arbeitseinkommen von 3,6 Millionen Menschen unterhalb des Mindestlohnes. Das wären dann auch acht Prozent. Ein schöner Satz in dieser DIW-Studie sagt übrigens, dass 6,2 Millionen Menschen nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,80 Euro pro Stunde kämen, wenn man ihre real abgeleistete Arbeitszeit mit ihrem Lohn abgliche. Die Arbeitssklaven unserer Heimat.

Die ärmsten Malocher werden nämlich auch noch kriminell ausgebeutet. Vor diesem Hintergrund wirkt „Steinis“ weihnachtlich-pastorales Gesäusel von sozialer Gerechtigkeit so pervers, wie seine Hartz-Planung es immer war. Sein Geseire vorm Lichterbaum kribbelte richtig schön auf dem Trommelfell, ne? Und kein Blitz fuhr hernieder.

Den Bedford-Strohm hast du auch zu Weihnachten gesehen? Den bayerischen Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzenden; nichts hat der von einem Martin Niemöller. Jetzt bibbert aber die Nächstenliebe, und darauf legt unsere harmoniesüchtige Gesellschaft Wert: Der Bischof hat nicht nur gepredigt, sondern die Gemeinsamkeit mit den Obdachlosen gesucht. In echt!

Er hat mit Leuten gefrühstückt, die zur Feier des „heiligen“ Abends eingeladen waren, ihre Quartiere unter den Brücken zu verlassen und mal gewaschen und gekämmt was Richtiges zwischen die Restzähne zu schieben. In der Kälteschutz-Einrichtung der ehemaligen Bayernkaserne „ließ Bedford-Strohm sich von Obdachlosen über ihre Situation informieren“, berichtet die evangelische Internetseite „Zeitzeichen“.

Das ist eben nicht mehr die gute und kritische Nachrichtenagentur epd (Evangelischer Pressedienst) von einst. Viel Phantasie braucht es zwar nicht, sich die Situation eines Obdachlosen auszumalen. Aber ...

Der Herr Landesbischof hat eben die Zeichen der Zeit erkannt. Früher hieß es noch: „Willste was gelten, machste dich selten“. Heute musst du Pfauenräder schlagen, wenn du wahrgenommen werden willst. Und das will ein Bedford-Strohm.

Gewaschen und gekämmt wie seine Schäflein. Nur nicht in so schäbige Lumpen gewandet wie die. Nee, im Maßgeschneiderten war er gekommen, sogar die goldene Amtskette mit dem Kreuz baumelte ihm vor der Brust. Das hatte Stil, ne? Nicht mal bei diesem Anlass gab sich der Pfaffe zurückhaltend. Für den Klimbim am Hals dürfte sich ein Obdachloser vermutlich länger als ein Quartal täglich 'nen Vollrausch mit Rotwein aus dem Tetrapack ansaufen können. Natürlich war der Bayerische Rundfunk mit einem Kamerateam da. Soviel rührseliges Mitleid lässt sich doch eine christliche Sendeanstalt nicht entgehen!

Wir verfehlen unser Thema? Aber nein. Wir reden davon, dass die soziale Gleichheit angeblich zu den politischen Maximen der Staatsspitze gehört. Das Monatseinkommen eines politisch einflussreichen Klerikers von Bedford-Strohms Rang: Besoldungsgruppe B 10. Das liegt bei fast 13.000 Euro, nicht mitgerechnet 500 Euro Sonstiges und Stellenzulagen; selbstverständlich gibt es 13 Monatsgehälter. Und Anspruch auf eine satte Beamtenpension.

Und was die Verteilungsfragen angeht: Dazu gibt uns der „Bericht zur weltweiten Ungleichheit“ so viele Informationen, dass wir uns darüber besser jeder für sich und mit eigenen Augen informieren – bevor wir weiter über das Elend hierzulande reden.

Was Thomas Piketty, der französische Wirtschaftswissenschaftler, über die soziale Ungleichheit in Deutschland herausfand, steht zwar im Manager Magazin und in der New York Times. Nix aber erfährst du darüber in der Wunderlampe und ihrer Tagesschau.

Halte dich fest: In Deutschland heute ist die soziale Ungleichheit so groß wie 1913, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. 1,6 Millionen deutsche Dollarmillionäre. 114 (Multi-)Milliardäre. Die reichsten 36 Deutschen besitzen ebenso viel wie die 40 Millionen ärmeren Deutschen zusammen.

12,9 Millionen Menschen vollkommen verarmt. Jeder zehnte Bürger verschuldet. 3,2 Millionen Menschen in zwei und manchmal gar drei Jobs, aber trotzdem noch auf „Stütze“ angewiesen. Dass inzwischen immer mehr Rentner in den Sozialstationen landen, dass es für viele Arme selbst an den Tafeln oft nichts mehr zu holen gibt, weil die der Nachfrage nicht gerecht werden können – ach, Steinmeier, ach Bedford-Strohm, was soll's! Ob man dir Bundespräsident zuhört – oder dir Pfaffen beim salbungsvollen Armenbesuch zuschaut – oder ob man die Zunge zum Fenster raushängt: Es schmeckt alles gleich. Nach Moralsülze.

Ihr hättet auch gemeinsam das allerchristlichste Bekenntnislied anstimmen können, den schönsten Choral der Saturierten, das Opium der Sedierten:

Lobe den Herren,
der sichtbar dein Leben gesegnet,
der aus dem Himmel
mit Strömen der Liebe geregnet.
Denke daran,
was der Allmächtige kann,
der dir mit Liebe begegnet.

Was passierte in Deutschland vor 105 Jahren, gleich nach 1913? Der Erste Weltkrieg und ungekanntes, namenloses Elend. Matrosen- und Arbeiteraufstände. Der Kaiser musste abdanken. Eine SPD-Regierung ließ auf die Arbeiter schießen. Es entstand die KPD. Kommunisten gibt es immer noch, in der Linkspartei, in der DKP, in diversen marxistischen Gruppen. Verfolgt, angefeindet, geschmäht. Kaum ernstgenommen. Aber das muss nicht so bleiben.

Mal sehen, was der SPD-Steinmeier zu Weihnachten 2018 daherschwätzt.


Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus!