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Fetzen von Leben

Fetzen von Leben

Lutz Tröbitz erzählt die Geschichte eines kleinen Boxers, der in den Ruinen einer postapokalyptischen Welt aufwächst und den ungebrochenen Willen hat, zu leben.

Meine Geschichte für dich, kleiner Boxer

Das noch ungeborene Kind bekommt eine Geschichte geschenkt, nämlich meine. Kleiner Boxer, ich widme sie dir. Ich durfte die Hand auf den Bauch deiner Mutti legen und du hast geboxt. Das war das mit Abstand schönste Erlebnis in meinem Leben.

Ich werde Fetzen gerufen. Man kann an der an meinem Körper hängenden Haut erkennen, warum. Ich habe die volle Ladung abbekommen, die Druckwelle habe ich zwar gut überstanden, alles danach nicht. Da war ich gerade auf der Straße, wurde an die Wand eines Hochhauses gewedelt und dann fielen Betonplatten herunter.

Die nahe Hauswand bewahrte mich vor einem Treffer. Die Platten stapelten sich nicht auf mir und ich blieb am Leben. Jetzt wohne ich mit allen unserer Gemeinschaft hier in der Tiefgarage. Die hat nämlich einen wunderbar funktionierenden Rauchabzug, wir können also Feuer machen. Ein paar schlafen auch in den für immer hier parkenden Autos. Wir sind alle sehr offen und ehrlich zueinander, nur gegenüber Fremden passen wir höllisch auf. Die Bezeichnung ist nicht zufällig gewählt, es ist kein schönes Leben.

Aber die junge Frau, sie ist vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich, hat dich kleinen Boxer im Bauch — und das gibt Mut. Nicht mir allein, ich glaube, alle zehren davon. Das ist was anderes, als Leichen aus dem Supermarkt zu zerren. Das hatten wir in den beiden am nächsten liegenden schnell geschafft und damit die Grundlage für das unmittelbare Überleben. Irgendwann werden auch die Lager dort leer sein. Was dann kommen wird? Ohne Essen kann keiner leben.

Ein paar von uns sind raus aus der Stadt, aus ihrem Trümmerfeld, Stadt war einmal. Wir haben nie wieder etwas voneinander gehört. Wie soll das auch gehen, Telefonie und Internet sind kaputt, und wären sie es nicht, der Akku von jedem Handy muss ja aufgeladen werden. Dafür braucht man Strom! Das ist das Zeug, das wohl am deutlichsten fehlt. Alles war auf Strom ausgerichtet und nichts funktioniert mehr deshalb. Der bärtige Mann, also der, der den Bart vom ersten Tage an schon getragen hatte, bastelt an einem der Autos. „Ich brauche noch ein wenig, vielleicht zwei oder drei Wochen, dann kann ich Strom liefern.“ Das wird sein Geschenk zu deiner Geburt werden.

Gregor ist ein anderes Kaliber als ich, so ein praktisch veranlagter Kerl hilft uns allen ungemein.

Kleiner Boxer, mein Geschenk an dich ist eher eine Bitte: Vergiss nie die Tage in der Tiefgarage und tagsüber mit deiner Mutti und Begleitschutz „zum in der Sonne sitzen“ im ehemaligen Park. Die Sonne wird ja nach deiner Geburt hoffentlich mal scheinen, ich habe sie seit dem Raketeneinschlag nicht mehr gesehen. Es würde mir jedenfalls gefallen, wenn du dich mit deiner Mutti auf dem Kinderspielplatz wohlfühlen kannst. Da müssten die dort liegenden Leichen schon mal begraben sein. Nur fehlt dafür wenigstens ein Spaten.

Alles ist grau, die Reste der Häuser, wie auch der Himmel. Selbst der kleine Grünzug hinter dem Bahndamm ist grau. Aber da hängen meine Planen. Die habe ich von einem LKW abmontiert und in den Ruinen dort aufgehangen. So kann ich meine Aufgabe ganz gut erfüllen. Ich bin nämlich für die Wasserversorgung in der Tiefgarage verantwortlich. Jeder hat seine Aufgabe, und ich habe Hanno schon mal gezeigt, wie er meinen Job machen muss, wenn ich nicht mehr bin. Auch die zweite Wasserstelle, ein schlammiger Graben in der Kleingartenanlage gegenüber, ist ihm nun bekannt. Manchmal bedient sich ja auch irgendwer an meinen Planen und so habe ich mir die Ersatzlösung einfallen lassen.

Wir in der Tiefgarage glauben alle an deine Generation, kleiner Boxer! Nicht an dich allein, nein, an andere noch zu gebärende Kinder. Was deine Mutti bald tun wird, können andere Frauen in anderen Tiefgaragen doch wohl auch. Es wird, wo auch immer, noch ein paar Frauen geben, die ein Kind haben werden.

Du wirst dein Leben nicht wie ich mit Plüschtieren und Kinderwagen, später Spielkonsole und Smartphone anfangen, dafür aber vielleicht doch mit einem seltsam-witzigen Ungetüm zum Stromerzeugen. Ich vertraue dem Bärtigen vollkommen. Das ist doch schon so viel mehr, als wir im Augenblick haben.

Was wir haben, ist Frieden untereinander hier in der Tiefgarage. Draußen vielleicht auch, ich bin mir da nicht so sicher. Einigkeit und einen Willen, es für euch besser vorzubereiten: Das haben wir bestimmt. Schon klar, da kannst du nicht wirklich viel erwarten, Strom immerhin ein wenig.

Für das Essen hatte eine der älteren Frauen einen Vorschlag: Gemüseanbau. Das klang reichlich idealistisch, geradezu utopisch, aber wir haben beschlossen (37 zu 0 Stimmen), es zu versuchen. Du hast übrigens auch dafür gestimmt, die Stimme hat deine Mutti abgeben müssen, du konntest ja nur gegen den Bauch boxen.

Nächste Bitte an dich, kleiner Boxer: Das Boxen gegen den Bauch reicht nicht. Du hast eine Aufgabe, jetzt schon formuliert! Die Menschen in der Tiefgarage wollen nicht für umsonst gelebt haben, auch ich nicht mit dem Wasserholen. Es soll weitergehen, aber absolut ohne „Bitte“: Mit allem, was diese Zeit uns gelehrt hat. Jeder mag nicht jeden, akzeptiert ihn aber. Es geht einfach nicht anders!

Das ist wohl eine der wichtigsten Errungenschaften hier: Toleranz. Du musst ihn nicht mögen, aber als Menschen akzeptieren. Du meinst, er sei ein Arschloch. Er meint, du wärest gleich zwei. Alles völlig egal, nur zusammen geht es weiter. Ihr müsst euch nicht mögen, aber zum Nutzen der Gemeinschaft akzeptieren, da ihr nun einmal alle beide da seid. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gibt eine Frau, die mich nicht ansehen mag. Die an mir herunterhängenden Hautfetzen widern sie an. Bei jeder Aufgabe hilft sie mir mit Ekel im Gesicht dennoch.

Noch eine Bitte: Passt im eigenen Interesse gefälligst auf, dass alle etwas zur Gemeinschaft beitragen. Da ist nicht dummes Gelaber gemeint. Das haben wir auch, viel zu viel. Aber das ist bedeutungslos. Es gibt echte Diskussionen. Weil wir eine große, kaum zu schaffende Aufgabe haben: dir und deiner Generation eine Zukunft zu ermöglichen. Und ihr müsst sie für eure Kinder schaffen. Vorher müsst ihr sie machen, also eure Kinder. Ich glaube, das ist dann das kleinste Problem.

Gelernt haben wir, ungleiche Behandlung und Unaufrichtigkeit — und das ist mehr als Lüge und als das Vertuschen der Wahrheit — taugen für Menschen nicht. Da fliegen am Ende tödliche Raketen. Cooler kleiner Boxer: Werde einfach nur ein vernünftiger Mensch. „Du musst ihr helfen!“, forderte Gregor, der Bärtige, mich auf. „Mir geht es nicht gut, ich habe seit Tagen Fieber und sehe alles verschwommen.“ Meine Widerrede war vergeblich. So bin ich zur Hebamme des kleinen Boxers geworden. Er kam gesund schreiend auf die Welt, nur der Mutti ging es nicht so gut. Ich bin natürlich bei den beiden geblieben, und in der Nacht spürte ich, wie Muttis Körper kalt wurde.

Der kleine Boxer, kaum zur Welt gekommen, hatte keine Mutti mehr.

Jemand beschaffte regelmäßig Milch, ein rötlich schimmerndes Gebräu. Dem kleinen Boxer schmeckte sie und er kam durch. Als ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, durfte ich ihn nicht mehr sehen.

Gregor seufzte und sprach: „Ich habe Fetzen in den Park gebracht, sie liegt dicht bei der Mutti des kleinen Boxers, nur zwei mir Unbekannte liegen dazwischen. Aber beide haben ein richtiges Grab bekommen!“ „Wir müssen nach vorne schauen, der kleine Boxer braucht einen Namen. Wie hieß seine Mutter?“ Niemand kannte die Antwort.

Weitere Tode und einige kleine Erfolge zur Verbesserung des Lebens in der Tiefgarage folgten in unregelmäßigen Abständen einander.

Ich bin jetzt 17 Jahre alt, mein Name ist Fetzen und das hat auch einen tieferen Sinn. Dort, wo unsere Toten begraben liegen, ist es ruhig und die Natur bestimmt mit ihrem Grün alles. Da soll früher mal ein Kinderspielplatz gewesen sein und nun ist es ein Ort zum Nachdenken.


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